Rede des Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse
Die Wahl zur 10. Volkskammer der DDR am 18. März 1990 unterschied sich grundlegend
von allen 9 Wahlen zuvor. Nicht ein Block, sondern 24 Parteien bewarben sich
um 400 Sitze in der Volkskammer: Deren Verteilung wurde den Wählerinnen und
Wählern überlassen und stand nicht schon vor der Abgabe des ersten Stimmzettels
fest. Die Bedingungen, unter denen die Wahl stattfand, waren im revolutionären
Herbst 1989 der SED abgetrotzt worden, womit die Revolution auf den Boden der
geltenden Verfassung gestellt wurde:
So hatte die neunte Volkskammer freie politische Meinungsäußerung und -bildung
am 5. Februar 1990 legalisiert und die Bildung politischer Vereinigungen und
Parteien ermöglicht.
[…] Der Tag der ersten freien Volkskammerwahl markiert einen wichtigen Wendepunkt
dieser Revolution in mindestens zweierlei Hinsicht: er beendete die revolutionäre
Phase und eröffnete die parlamentarische. Aus Bewegungen waren Parteien geworden,
aus einfachen Bürgern wurden Parlamentarierinnen und Parlamentarier, Ministerinnen
und Staatssekretäre. Innerhalb wie außerhalb der DDR war zunächst freundlich
herablassend, später hämischer und aggressiver von der "Laienspielschar" die
Rede. Das mag vom hohen Ross derjenigen, die seit Jahrzehnten Berufspolitiker
waren und professionelle Beobachter von Berufspolitikern, zutreffend beobachtet
gewesen sein. Aber was anderes sollten wir sein? 40 Jahre lang gab es die Möglichkeit
der freien, öffentlichen Rede nicht; 40 Jahre war jede öffentliche Kontroverse
unterdrückt worden; 40 Jahre lang konnte Verantwortung für das Ganze allenfalls
auf Weisung von oben, aber nie aus eigenem Antrieb und vor allem nie mit selbst
gesteckten und persönlich zu verantwortenden Zielen übernommen werden.
[…]
Ein zweiter, wesentlicher Wendepunkt ist mit diesem Wahltag, mit diesem 18.
März 1990 verbunden: er war zur demokratischen Legitimation für die deutsche
Einheit geworden. In einem Punkt nämlich ist das Wahlergebnis eindeutig gewesen:
die überwältigende Mehrheit der Stimmen war auf Parteien und Personen gefallen,
die sich im Wahlkampf die deutsche Einheit zum Ziel gesetzt hatten. Lothar de
Maizière, der von den Wählern den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten hatte,
beteiligte konsequenterweise möglichst viele Parteien, die die Einheit wollten,
an seiner Regierungskoalition. Spätestens der Wahlkampf hatte jedem Kandidaten
und jeder Kandidatin gezeigt: der Souverän war nicht interessiert an einem weiteren
politischen Experiment; den Souverän interessierte kein Aufruf "Für unser Land!",
der Souverän ignorierte die Wünsche derer, die am 4. November 1989 für eine
neue DDR geworben hatten. Es ging in den Debatten nur noch einer Minderheit
um die Frage "Einheit - ja oder nein"; die Mehrheit stritt allenfalls noch über
das Tempo. Der Souverän in der DDR hatte am 18. März mit übergroßer Mehrheit
die Einheit gewählt. Alles andere ist Legende.
[…]
Heute, 10 Jahre nach der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR, stehen die
Parteien aus aktuellem Anlass in der Kritik. Diese Kritik hat ihre Berechtigung,
aber sie bereitet auch Sorge. Was bedeutet es, wenn in einem demokratischen
Staat, in einer demokratischen Gesellschaft der "Rückzug der Parteien" gefordert
wird? Ohne dieser noch zu führenden Debatte vorzugreifen, scheint es mir wichtig,
folgendes festzuhalten: es ist nicht dasselbe, ob in einem Parlament, in einer
Regierung, in einer öffentlich-rechtlichen Anstalt, die eine oder die andere
Partei die Mehrheit hat, sondern es fallen dann andere Entscheidungen - in der
Sache wie auch personeller Natur.
[…]
Mit dieser Wahl am 18. März 1990 hat sich Ostdeutschland nicht nur für die parlamentarische
Demokratie und für die deutsche Einheit entschieden. Die Entscheidung setzte
an die Stelle einer Staatsführung, die sich diktatorisch-patriarchalisch für
alles verantwortlich machte, einen Staat, der Teil der Gesellschaft ist, der
nicht von oben alles zu bestimmen trachtet, sondern der durch Strukturen und
Definitionen bei weitem nicht für alles verantwortlich sein darf, was in der
Gesellschaft geschieht.
[…]
Daran haben sich noch nicht alle gewöhnen können. Der demokratische Staat teilt
sich die Macht in der Gesellschaft mit anderen, die Macht und Einfluss haben:
Verbände, Tarifparteien, Kirchen. Der demokratische Staat ist nicht verantwortlich
für Preise und Löhne, nicht für Erfolg oder Mißerfolg des Einzelnen. Begrenzung
der Macht und Begrenzung staatlicher Zuständigkeit sind Bedingungen persönlicher
Freiheit. […] ___________________________________________________________________________
Rede der ehemaligen Präsidentin der Volkskammer, Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Die deutsche Geschichte ist arm an Ereignissen, in denen Volksbewegungen den
Lauf der Geschichte positiv gestaltet haben. Hier haben wir einen überzeugenden
Vorgang, der die Verwirklichung von Freiheit und Demokratie in Deutschland durch
die Deutschen selbst beinhaltet. Bürgerbewegungen, Massendemonstrationen gegen
Mauer und Stasi und für eine demokratische Selbstbestimmung sowie das Auseinanderbrechen
des sozialistischen Lagers ebneten den Weg für die erste freie Volkskammerwahl
am 18. März 1990. Vier Jahrzehnte hatte es gedauert, bis die Volkskammer der
DDR endlich das wurde, was sie immer vorgab zu sein: ein frei gewähltes und
demokratisch legitimiertes Parlament. Es sind deshalb nicht die ersten 40 Jahre,
die ihr einen besonderen Platz in der deutschen Parlamentsgeschichte sichern,
sondern ihre letzten sechs Monate.
Worauf gründet sich dieser Anspruch? Zum einen waren die Wahlen vom 18. März
Folge und Fortsetzung eines sich seit mehreren Monaten vollziehenden gesellschaftlichen
Wandlungsprozesses. Die freie Abstimmung hatten sich die Bürger der DDR regelrecht
erkämpft. Wahlfälschungen wurden nicht mehr hingenommen. Zum anderen bestand
der Hauptinhalt der Tätigkeit der Abgeordneten in der Erarbeitung der gesetzlichen
Grundlagen eines demokratischen Staates, womit zum Dritten die notwendigen Voraussetzungen
für die Mitgestaltung eines zukünftigen wiedervereinigten Deutschlands geschaffen
wurden.
Die Einmaligkeit unserer Arbeit dokumentiert die Tatsache, dass wir sozusagen
in politischer Lichtgeschwindigkeit arbeiteten, indem in genau sechs Monaten
in 39 Plenartagungen 164 Gesetze und 93 Beschlüsse verabschiedet wurden. Damit
betrieben wir gleichzeitig in Rekordzeit unsere Selbstauflösung.[…]
Unsere Arbeit wurde sehr aufmerksam verfolgt. Die Volkskammer erfreute sich
in jeder Hinsicht des regen Interesses der Bürger jenes nun vergangenen Staates
wie auch der internationalen Öffentlichkeit. Kein Wort, das im Plenum gesprochen
wurde, keine Kontroverse, keine Abstimmung entgingen dem wachen Blick der Zuschauer
an den Bildschirmen. Sie zeigten eine Anteilnahme, wie man sie sich für unser
heutiges Parlament wünscht. Viele Menschen brachten unserer Arbeit Achtung und
Wohlwollen entgegen. Diese Anerkennung war für uns sehr wichtig, gab es doch
auch gegenteilige Verhaltensweisen und Äußerungen. Deshalb erinnern wir uns
heute mit Schmunzeln an die Titulierung "Laienspieler", die uns damals Profis
verliehen. Dazu gedacht, die großen Anstrengungen von Menschen zu verniedlichen,
die über Nacht ins Rampenlicht der Geschichte gedrängt wurden, hat sich diese
offensichtliche Herabsetzung heute in ihr Gegenteil verkehrt.
[…]
Weitere Probleme ergaben und ergeben sich bis heute aus den wechselseitig nur
gering vorhandenen Kenntnissen voneinander. Es ging und geht auch noch heute
um die gegenseitige Anerkennung von Lebensleistungen und Erfahrungen. Dazu kommt,
dass oft die Gelegenheit verpasst wurde, für das gesamte Land eine gründliche
Analyse einzelner gesellschaftlicher Bereiche bezüglich des Bewahrens und des
Veränderns vorzunehmen. So erleben wir jetzt, dass manche guten Erfahrungen,
die auch in der DDR gemacht wurden und zunächst der Ablehnung verfielen, nun
mit viel Mühe im ganzen Lande Eingang finden.
[…]
Das würde auch helfen, so manche Meinung zu ändern, die sich aus mangelnder
Kenntnis ergibt. Eine solche oberflächliche Meinung besagt etwa, dass es bei
den Bürgern in den neuen Bundesländern ein Defizit an Demokratieverständnis
gebe. Gerade weil diesen Bürgern das Geschenk der Freiheit nicht gemacht wurde,
sondern es eigener Anstrengung bedurfte, lassen sie keine Geringschätzung zu,
sondern würdigen die Freiheit als eine ebenso unermesslich große Gabe wie eine
ungeheure tägliche Aufgabe, um Worte Richard von Weizsäckers zu gebrauchen.
[…] ___________________________________________________________________________
Rede des ehemaligen Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière
[…]Diesen Tag (den 18.März)jedoch nur als Festtag zu begreifen ist wohl
doch zu kurz gegriffen. Es begann auch eine Zeit mit vielen Unwägbarkeiten und
Gefahren. Aber dass dieser Tag der Beginn von etwas völlig Neuem, Außergewöhnlichem
war, das wussten wir alle. Die einen meinten, es gehe um einen erneuerten Sozialismus.
Sie ahnten nicht oder vermochten nicht zu ermessen, mit welcher Endgültigkeit
das System dieses Namens ökonomisch, ökologisch, monetär, sozial, politisch
und moralisch diskreditiert war. Sie glaubten tragischerweise noch 1990, zunächst
sei es im Osten Deutschlands um die Verwirklichung antifaschistisch-demokratischer
Ideale und dann sozialistischer Ideale gegangen, bevor die Widrigkeiten der
Nachkriegsentwicklung, die Vergröberung des Ost-West-Gegensatzes und schließlich
Fehler und Machtmissbrauch der Regierenden das Antlitz ihres Staates entstellten.
[…]
Andere meinten, es gelte, einen völlig neuen Weg zu gehen. Nun, nachdem die
alten Fesseln abgeworfen seien, gehe es darum, am runden Tisch, zunächst im
Bonhoeffer-Haus, später im Schloss Niederschönhausen, eine neue DDR zu entwerfen.
Die von ihnen erträumte DDR sollte klein, bescheiden, pazifistisch, ökologisch,
in nie gekannter Weise demokratisch und himmlisch gerecht sein.
Sie glaubten, man müsse diesen eudämonischen Zustand nur genau beschreiben,
besser noch: in einer Verfassung verankern, um die Menschen dafür zu gewinnen.
Während sie noch um Formulierungen rangen, bestimmte das Volk längst eine neue
Tagesordnung; denn aus dem Ruf "Wir sind das Volk!" wurde "Wir sind ein Volk!".
Dennoch: Der runde Tisch diente der demokratischen Selbstfindung, der Herausbildung
einer der Situation entsprechenden Streitkultur und er ebnete den Übergang zu
freien Wahlen und in die parlamentarische Demokratie. Auch dies muss gesagt
werden: Ohne den und die runden Tische als Transistorium wären wir wohl kaum
ohne schwere Unruhen und Verwerfungen über den Winter bis hin zum 18. März gekommen.
[…]
Letztlich erhielten die Volkskammer und die von ihr gewählte Regierung den wohl
einmaligen Auftrag, zügig und zielstrebig an ihrer Selbstabschaffung zu arbeiten.
[…]
Sie hat in verantworteter Freiheit den Wählerauftrag angenommen, die Einheit
zwar so schnell wie möglich, aber in ihren Rahmenbedingungen so gut, so vernünftig
und so zukunftsfähig wie nötig - dies zugleich im Einvernehmen mit unseren Nachbarn
- zu gestalten. Die Volkskammer hat sich damit der neu gewonnenen Freiheit würdig
erwiesen und sie hat zugleich das in ihren Kräften Stehende getan, damit die
Ostdeutschen die Einheit in Selbstachtung und Würde erreichen konnten. Welche
entscheidenden Schritte mussten wir tun? Ich nenne fünf. Erstens. Wir mussten
den Kommunen Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten zurückgeben. Nur so konnten
wir uns vom Diktat des Zentralismus befreien. Die Menschen sollten in Fortsetzung
ihrer Erfahrungen an den runden Tischen Demokratie vor Ort gestalten können.
[…]
Mit der Wiedereinführung der Länder - das ist der zweite Schritt - haben wir
an die föderalen Strukturen angeknüpft, die, wie ausgeführt, 1952 unter vorsätzlicher
Verneinung historisch gewachsener Eigenständigkeiten zerstört worden waren.
Wir haben damit die Geschichte der deutschen Länder wieder in ihr Recht gesetzt.
Die Geschichte Deutschlands ist immer zugleich auch die Geschichte seiner Länder
gewesen. Diese Geschichte war uns genommen worden. Wir haben erfahren müssen,
dass ein geschichtsloses Volk ein gesichtsloses Volk wird. Insofern war für
uns die Bildung der Länder mehr als die Einführung neuer und damit grundgesetzkompatibler
Strukturen. Vielmehr wollten wir damit den Menschen ihre landesbezogene Identität
zurückgeben.
[…]
Am 1. Juli 1990 wurde mit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion der erste
große Schritt in die deutsche Einheit vollzogen. Es war ein mutiger Schritt,
für den es in der Geschichte kein Beispiel gibt. Der abrupte Übergang von der
sozialistischen Kommandowirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft war risikoreich.
Aber wir mussten ihn gehen, um die gewünschten Veränderungen herbeizuführen.
[…]
Als vierter Schritt sorgte mit seinen annähernd 2 000 Einzelfallregelungen der
Einigungsvertrag dafür, dass aus den Hoffnungen und Wünschen der Menschen Ansprüche
und Rechte wurden. Gewiss, er ist, wie jeder Vertrag, ein Kompromiss. Manche
Regelung, wie beispielsweise die Eigentumsregelung, hat wohl wie keine andere
Regelung den Einigungsprozess belastet und erschwert.
[…]
Ein Glücksfall unserer Geschichte war - das ist der letzte der fünf Schritte,
die ich nennen will -, dass wir am 12. September 1990 den Zwei-plus-Vier-Vertrag,
den Vertrag über die endgültige Regelung in Bezug auf Deutschland, unterzeichnen
konnten. Dieser Vertrag schreibt nicht nur die Grenzen des geeinten Deutschland
fest. Er gab Deutschland nach der schmachvollen, wenn auch zutiefst selbst verschuldeten
Abhängigkeit von den Siegermächten seine volle Souveränität wieder - und dies
im vollen Einvernehmen mit allen unseren Nachbarn, insbesondere den östlichen,
und den Siegermächten. Nach nur fünfeinhalb Monaten durften wir das vollziehen,
woran noch vor Jahresfrist keiner gedacht hatte: Deutschland wurde eins.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir alle wissen, dass mit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990 die Einigung nicht abgeschlossen war; sie ist es noch immer nicht. Immer wieder stellen wir fest, dass dies nicht nur eine materielle Frage, sondern eine Frage des praktizierten Gemeinsinns ist. […]
Aus: Archiv Deutscher Bundestag: Reden zur 10-Jahres-Feier zur Volkskammerwahl 1990. http://www.bundestag.de/blickpkt/arch_bpk/v_kammer.html (Download 08.03.2002).
Arbeitsaufträge:
- Teilt eure Klasse/euren Kurs in drei Gruppen; jede der Gruppen arbeitet eine der Reden durch! - Fasst die Texte in drei bis fünf aussagekräftigen Thesen zusammen. - Wer sind die jeweiligen Redner? Welche eigenen Erfahrungen fließen in ihre Reden ein? Welche Standpunkte vertreten sie?
- Vergleicht die Texte untereinander. Warum ist die Volkskammerwahl von 1990 eine eigene Jahresfeier wert? Was war das Besondere an ihr?
(i) Links zu Biographien
- > Wolfgang Thierse