M 09.16 "Politisch zweigeteilt" oder politische Einheit?
 


  1. Dauerhaft eigenständige politische Muster bedürfen der sozialen Fundierung
    Die Ergebnisse der Volkskammerwahl 1990, der ersten freien Wahl der DDR, stellten die aus Westdeutschland vertrauten Muster auf den Kopf. Die von der CDU angeführte Allianz für Deutschland erzielte in den einstigen Hochburgen linker Parteien einen überragenden Wahlsieg und überflügelte zudem die Sozialdemokraten selbst in der Arbeiterschaft, deren bislang verlässlichster Wählerklientel. Hinzu kamen neue Frontstellungen. CDU und PDS bildeten die entgegengesetzten Pole des politischen Wettbewerbs, während sich die Sozialdemokraten in einer bislang ungewohnten Mittellage wieder fanden. Die regionalen und überregionalen Wahlen Mitte der 90er-Jahre bestätigten diese ostdeutschen Besonderheiten.
    Gleichwohl hat die Vereinigung und die damit einher gehende Vergrößerung der Anzahl der Wahlberechtigten um etwa 25 % die gesamtdeutschen Kräfteverhältnisse kaum verändert. Die Bundestagswahlen von 1990 und insbesondere 1994 unterschieden sich im Ergebnis substantiell nicht von denjenigen der 80er-Jahre. Eine gewisse Angleichung zwischen Ost und West erfolgte dann allerdings bei der Bundestagswahl 1998, die der amtierende Kanzler Helmut Kohl und die CDU in beiden Landesteilen gleichermaßen verloren haben. Die SPD lag jeweils vor der Union und schnitt zudem auch in der ostdeutschen Arbeiterschaft als stärkste Partei ab. Hat sich somit das Wählerverhalten in Ost-und Westdeutschland trotz unterschiedlicher Sozialisierungserfahrungen innerhalb von nur zehn Jahren weitgehend angeglichen? Ist damit der politische Transformationsprozess zu einem gewissen Abschluß gekommen und besteht das Erbe der DDR in erster Linie in der weiteren Existenz der PDS? […]
  2. Ein Drei-Parteien-System aus CDU, SPD und PDS hat sich etabliert
    […] In den Wahlen der frühen 90er-Jahre verfestigte sich zunächst ein eigenständiges ostdeutsches Wählerverhalten und Parteiensystem. Während sich der politische Wettbewerb im Westen auch weiterhin auf die gewohnten Auseinandersetzungen zwischen den vier Berliner Parteien konzentrierte, konnte sich im Osten - mit gewisser Ausnahme der Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und Brandenburg - in kurzer Zeit ein bis heute Bestand haben - des Dreiparteiensystem aus CDU, SPD und PDS etablieren […] In Sachsen-Anhalt gelangten 1994 Bündnis 90/Grüne mit 5,1 % und 1998 die rechtsextreme Deutsche Volksunion (DVU) mit überraschenden 12,9 % in den Magdeburger Landtag, in Brandenburg erzielte die DVU bei der Landtagswahl 1999 einen Stimmenanteil von 5,3 %. Die Stabilität dieser für westdeutsche Verhältnisse ungewöhnlichen Dreiparteienkonstellation liegt in der besonderen Situation Ostdeutschlands begründet.[…]
  3. Themenwahl, aber als Ausdruck eines Zentrum-Peripherie-Konflikts
    […] So gesehen kann die Volkskammerwahl 1990 als reine Themenwahl im Sinne des Modells rationaler Wählerentscheidung angesehen werden,6 wobei CDU und PDS die entgegengesetzten Optionen einer schnellstmöglichen Einheit oder aber einer fortwährenden Eigenständigkeit repräsentierten. Die Sozialdemokraten befanden sich bereits zu diesem frühen Zeitpunkt aufgrund ihrer zögerlichen Haltung in der Frage der deutschen Einheit in einer eher indifferenten, mittleren Position zwischen den beiden Alternativen CDU und PDS. […] Die unterschiedlichen Einstellungen der Wählerinnen und Wähler zur deutschen Einheit resultierten aus ihren individuellen und gruppenspezifischen Erfahrungen mit der DDR, in erster Linie aus dem Ausmaß ihrer politischen und ökonomischen Frustrationen mit dem sozialistischen System.7 Mit zunehmender Distanz zum Zentrum der Herrschaftsausübung in der DDR oder auch zur sozialistischen Ideologie stieg bei den jeweiligen Bevölkerungsgruppen der Anteil derer, die dem westlichen Gesellschaftsmodell den Vorzug gaben und umgekehrt. Entsprechend erfolgten dann die Wahlentscheidungen. Die überragende Vormachtstellung der Union in Ostdeutschland in den frühen 90er-Jahren gründete zunächst auf einer stabilen Verankerung in ländlich-kleinstädtischen Kontexten und christlich orientierten Bevölkerungsgruppen. […] Darüber hinaus erfuhren die Christdemokraten zunächst einen enormen Zuspruch durch die ostdeutsche Arbeiterschaft. Politisch trotz gegenteiliger Staatsrhetorik eher machtlos und unzufrieden mit dem wirtschaftlichen Lebensstandard in der DDR, versprachen sie sich von Helmut Kohl eine rasche Einheit und Angleichung der Lebensverhältnisse. […]
  4. Mit ihrer zunehmenden Desillusionierung schmolz die Unterstützung der CDU durch die ostdeutsche Arbeiterschaft
    […]Die PDS repräsentierte direkt nach der Wende das noch weitgehend intakte sozialistische Milieu. Als einzig maßgebliche Partei mit einer klaren Pro-DDR-Ausrichtung fand sie vor allem auch die Unterstützung derer, die sich vom Fortbestand der DDR die Sicherung bisheriger Privilegien erhofften. Ihre besten Ergebnisse erzielte die PDS dementsprechend in den größeren Verwaltungsstädten - in Ost-Berlin und den ehemaligen Bezirkshauptstädten -, bei Personen mit höherer formaler Bildung oder Leitungsfunktion sowie bei Konfessionslosen. Inzwischen finden sich unter ihren Wählern neben ehemaligen Funktionseliten und überzeugten Sozialisten aber auch etliche DDR-Nostalgiker und vor allem auch Protestwähler, die mit dem Verlauf des Vereinigungsprozesses und der Angleichung der Lebensverhältnisse äußerst unzufrieden sind.8 Nach dem eher misslungenen Start der neuen rot-grünen Bundesregierung 1998 waren es insbesondere Letztere, auf die der weitere Aufschwung der PDS in den ostdeutschen Landtagswahlen 1999 zurückzuführen ist. Als regionale, ostdeutsche Milieupartei bleiben die weiteren Expansionschancen der PDS jedoch begrenzt.
  5. Die Handikaps der SPD im Osten Deutschlands
    […]Anders als CDU und PDS, die zur flächendeckenden Repräsentanz auf die trotz etlicher Parteiaustritte weitgehend intakten Strukturen der alten DDR-Parteien CDU und SED zurückgreifen konnten, stehen die Sozialdemokraten wie auch die Liberalen und Bündnis 90/Grüne bis heute vor weitaus größeren Problemen, wenn es um personelle Ressourcen für kommunale politische Mandate und Ämter, für eine leistungsfähige Infrastruktur der eigenen Partei oder auch für Mobilisierungsaktionen im Wahlkampf geht. Zu Beginn der 90er-Jahre hatte die CDU etwa viermal so viel, die PDS sogar über sechsmal soviel Mitglieder wie die SPD.9 Bis heute haben sich entsprechende Ungleichheiten in allerdings abgemilderter Form erhalte[…]1998 gelang es erstmals, die CDU im östlichen Wahlgebiet zu überflügeln und auch in der dortigen Arbeiterschaft als stärkste Partei abzuschneiden. Dennoch lässt sich im Osten bis heute eine sozialstrukturell identifizierbare Kernwählerschaft der SPD nur in Ansätzen ausmachen. […]
  6. Ungünstige Rahmenbedingungen für FDP und "Grüne"
    […] Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit finden die wirtschaftsliberalen Positionen der FDP wie auch die ökologischen Politikangebote von Bündnis 90/Grüne im Osten derzeit nur geringe Resonanz. Zudem liegt der Anteil der Selbstständigen - der traditionellen FDP-Wählerklientel - noch deutlich unter dem westdeutschen Wert von etwa 10%. Die hohen Wahlergebnisse der Liberalen bei der Bundestagswahl 1990 müssen als Ausnahme angesehen werden und verdankten sich zum größten Teil dem hohen Ansehen des in Halle geborenen damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher. Die oppositionellen Bürgerbewegungen wiederum hatten in der Wende einen großen Anteil an der gewaltfreien Beendigung der SED-Herrschaft. Allerdings standen ihre auf Kommunikation und Konsens basierenden Demokratie- und Politikvorstellungen, ihre dezentralen Organisationsstrukturen und ihr Selbstverständnis als gewaltfreie Oppositionsgruppen einer klaren Machtorientierung entgegen.10 Nur geringe Teile überwanden schrittweise ihre Skepsis gegen die parteienorientierten Verfahrensweisen der repräsentativen Demokratie und verbanden sich letztlich mit den Grünen in Ost (1990) und West (1993). Heute konkurriert Bündnis90/Grüne vor allem mit der PDS um die Unterstützung von alternativen Milieus und neuen sozialen Bewegungen, und auch die sind im Osten in geringerem Ausmaß vorzufinden als im Westen. […] Erst Ende der 90er-Jahre zeigten sich Aufweichungen der Dreiparteiensysteme. Die bei der Landtagswahl 1998 zum ersten Mal in Sachsen-Anhalt kandidierende rechtsextreme Splitterpartei DVU konnte auf Anhieb 12,9 % der Zweitstimmen erzielen. Gewählt wurde diese Partei überdurchschnittlich von jungen Menschen mit niedrigerem sozialen Status. Bei den unter 35-Jährigen Männern und den unter 25-Jährigen Frauen schnitt die DVU mit 32% bzw. 26% der Zweitstimmen sogar mit Abstand als stärkste Partei ab. 61% aller DVU-Wähler waren männlich. Ähnliches wiederholte sich in Brandenburg bei der Landtagswahl 1999, allerdings kam die DVU dort auf lediglich 5,3%, und junge Männer waren weitaus stärker überrepräsentiert. Anders als bei bisherigen rechtsextremen Wahlerfolgen spielten in beiden Fällen die Themen Ausländer oder Asyl keine besondere Rolle. Von zentraler Bedeutung war die Unzufriedenheit mit der ökonomischen Situation. Der Protestcharakter dieser rechtsextremen Wahlerfolge ist unübersehbar, zumal die DVU bei der zeitlich nahe gelegenen Bundestagswahl 1998 nur geringe Stimmenanteile verbuchen konnte.
  7. Ostdeutsche stärker an Sachfragen und Kandidaten orientiert
    Neben der spezifisch ostdeutschen Parteienkonkurrenz von CDU, SPD und PDS sowie der im Vergleich zum Westen zeitweilig unterschiedlichen Zusammensetzung der Parteiwählerschaften kennzeichnet eine weitere Besonderheit den ostdeutschen politischen Wettbewerb: Die Wählerinnen und Wähler weisen im Durchschnitt eine geringere Bindung an die Parteien und eine größere Skepsis gegenüber dem politischen System der Bundesrepublik auf. Im Westen wurden die Parteiidentifikationen über mehrere Jahrzehnte durch Sozialisationsprozesse erworben und regelmäßig aktualisiert. Im Osten liegen sowohl der Anteil der Personen mit einer Parteiidentifikation als auch die Stärke der Bindungen schon aufgrund der erst zehn Jahre andauernden demokratischen Entwicklung unter dem westdeutschen Niveau.13 Viele ostdeutsche Wähler orientieren sich bei ihrer Wahlentscheidung bislang stärker an Sachfragen und Kandidaten als an Parteibindungen. Hinzu kommen im Vergleich zum Westen ein insgesamt geringeres Vertrauen in rechtsstaatliche und demokratische Institutionen sowie eine größere Unzufriedenheit mit dem Erscheinungsbild der deutschen Demokratie. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass diese Unzufriedenheit vor allem mit einer negativen Bewertung der Wirtschaftslage und einer kritischen Einstellung zur Gerechtigkeit der deutschen Gesellschaft einhergeht.
  8. Eine vergleichsweise ähnliche Einschätzung der Partizipationsmöglichkeiten
    Dennoch stellt die Beteiligung an Wahlen in beiden Landesteilen heute mit Abstand die häufigste politische Partizipationsform dar. Trotz völlig unterschiedlicher Erfahrungen mit politischer Teilhabe in der Vergangenheit bestehen 1998 hinsichtlich der Akzeptanz verschiedener Formen politischer Partizipation generell nur geringe Unterschiede zwischen Ost und West. Den Umfragedaten nach diskutieren jeweils etwa 70 % der Wahlberechtigten im Bekanntenkreis oder an der Arbeitsstelle über Politik, jeweils 40 % haben sich bereits an Unterschriftenaktionen beteiligt. Zudem zeigen weitere Analysen, dass Wahlen von jeweils etwa 45 % der Wahlberechtigten als sehr effektive Möglichkeit angesehen werden, persönlich Einfluss auf die Politik nehmen zu können. […]
  9. Unzufriedenheit führt im Osten schnell zu Wechselwahl oder extremeren Protesten
    Die insgesamt distanziertere Haltung gegenüber den politischen Parteien hat Konsequenzen für die Parteienkonkurrenz in den ostdeutschen Ländern. Zunächst kommt bei Wahlen aufgrund der schwächeren Parteibindungen den kurzfristigen politischen Stimmungen und Kandidatenimages eine größere Bedeutung zu. […] Zu starken Diskussionen führten und führen insbesondere das Ausmaß sozialstaatlicher Absicherung, die Haltung gegenüber der PDS, der Umgang mit den Stasi-Akten, oder auch der im Osten mehrheitlich abgelehnte militärische Einsatz im Kosovo. Übersteigt schließlich der Unmut über die häufig als "West"-Parteien angesehenen Sozial- und Christdemokraten ein gewisses Maß, so stehen den Wählern im Osten mit den rechtsextremen Parteien und der PDS gleich zwei Optionen zur Artikulation ihres Protests zur Verfügung. Die überraschenden rechtsextremen Wahlerfolge in den beiden strukturschwachen Ländern Sachsen-Anhalt und Brandenburg haben nachdrücklich demonstriert, wie schnell sich ökonomische Unzufriedenheiten in antidemokratische Proteststimmen ummünzen können. […]
Aus: Ulrich Eith: Politisch zweigeteilt? Wählerverhalten und Parteiensystem zehn Jahre nach der Einheit. http://www.lpb.bwue.de/aktuell/bis/4_00/ostwest06.htm (Download 08.03.2002).
 

Arbeitsaufträge:

  1. Fasse den thesenartig Text zusammen; orientiere dich hierbei an den Ziffern 1) bis 9).
  2. Vergleiche die Hauptaussagen des Textes mit den Wahlergebnissen (M 4.1); kannst du den Aussagen zustimmen? Wenn ja: Wie begründest du die Richtigkeit der Aussage? Wenn nein: Warum nicht?
  3. Warum haben die Ostdeutschen nach Eith eine "distanziertere Haltung gegenüber den politischen Parteien"?
  4. Was bedeuten Parteibindungen? Trifft es auch auf die PDS zu, dass eine schwächere Parteibindung vorhanden ist?
  5. Aus welchen Gründen sind rechtsradikale Parteien in Ostdeutschland so stark? Wer sind in der Hauptsache ihre Wähler?
-> drucken