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- Dauerhaft eigenständige politische Muster bedürfen der sozialen Fundierung
Die Ergebnisse der Volkskammerwahl 1990, der ersten freien Wahl der DDR, stellten
die aus Westdeutschland vertrauten Muster auf den Kopf. Die von der CDU angeführte
Allianz für Deutschland erzielte in den einstigen Hochburgen linker Parteien
einen überragenden Wahlsieg und überflügelte zudem die Sozialdemokraten selbst
in der Arbeiterschaft, deren bislang verlässlichster Wählerklientel. Hinzu
kamen neue Frontstellungen. CDU und PDS bildeten die entgegengesetzten Pole
des politischen Wettbewerbs, während sich die Sozialdemokraten in einer bislang
ungewohnten Mittellage wieder fanden. Die regionalen und überregionalen Wahlen
Mitte der 90er-Jahre bestätigten diese ostdeutschen Besonderheiten.
Gleichwohl hat die Vereinigung und die damit einher gehende Vergrößerung der
Anzahl der Wahlberechtigten um etwa 25 % die gesamtdeutschen Kräfteverhältnisse
kaum verändert. Die Bundestagswahlen von 1990 und insbesondere 1994 unterschieden
sich im Ergebnis substantiell nicht von denjenigen der 80er-Jahre. Eine gewisse
Angleichung zwischen Ost und West erfolgte dann allerdings bei der Bundestagswahl
1998, die der amtierende Kanzler Helmut Kohl und die CDU in beiden Landesteilen
gleichermaßen verloren haben. Die SPD lag jeweils vor der Union und schnitt
zudem auch in der ostdeutschen Arbeiterschaft als stärkste Partei ab. Hat
sich somit das Wählerverhalten in Ost-und Westdeutschland trotz unterschiedlicher
Sozialisierungserfahrungen innerhalb von nur zehn Jahren weitgehend angeglichen?
Ist damit der politische Transformationsprozess zu einem gewissen Abschluß
gekommen und besteht das Erbe der DDR in erster Linie in der weiteren Existenz
der PDS? […]
- Ein Drei-Parteien-System aus CDU, SPD und PDS hat sich etabliert
[…] In den Wahlen der frühen 90er-Jahre verfestigte sich zunächst ein eigenständiges
ostdeutsches Wählerverhalten und Parteiensystem. Während sich der politische
Wettbewerb im Westen auch weiterhin auf die gewohnten Auseinandersetzungen
zwischen den vier Berliner Parteien konzentrierte, konnte sich im Osten -
mit gewisser Ausnahme der Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und Brandenburg
- in kurzer Zeit ein bis heute Bestand haben - des Dreiparteiensystem aus
CDU, SPD und PDS etablieren […] In Sachsen-Anhalt gelangten 1994 Bündnis 90/Grüne
mit 5,1 % und 1998 die rechtsextreme Deutsche Volksunion (DVU) mit überraschenden
12,9 % in den Magdeburger Landtag, in Brandenburg erzielte die DVU bei der
Landtagswahl 1999 einen Stimmenanteil von 5,3 %. Die Stabilität dieser für
westdeutsche Verhältnisse ungewöhnlichen Dreiparteienkonstellation liegt in
der besonderen Situation Ostdeutschlands begründet.[…]
- Themenwahl, aber als Ausdruck eines Zentrum-Peripherie-Konflikts
[…] So gesehen kann die Volkskammerwahl 1990 als reine Themenwahl im Sinne
des Modells rationaler Wählerentscheidung angesehen werden,6 wobei CDU und
PDS die entgegengesetzten Optionen einer schnellstmöglichen Einheit oder aber
einer fortwährenden Eigenständigkeit repräsentierten. Die Sozialdemokraten
befanden sich bereits zu diesem frühen Zeitpunkt aufgrund ihrer zögerlichen
Haltung in der Frage der deutschen Einheit in einer eher indifferenten, mittleren
Position zwischen den beiden Alternativen CDU und PDS. […] Die unterschiedlichen
Einstellungen der Wählerinnen und Wähler zur deutschen Einheit resultierten
aus ihren individuellen und gruppenspezifischen Erfahrungen mit der DDR, in
erster Linie aus dem Ausmaß ihrer politischen und ökonomischen Frustrationen
mit dem sozialistischen System.7 Mit zunehmender Distanz zum Zentrum der Herrschaftsausübung
in der DDR oder auch zur sozialistischen Ideologie stieg bei den jeweiligen
Bevölkerungsgruppen der Anteil derer, die dem westlichen Gesellschaftsmodell
den Vorzug gaben und umgekehrt. Entsprechend erfolgten dann die Wahlentscheidungen.
Die überragende Vormachtstellung der Union in Ostdeutschland in den frühen
90er-Jahren gründete zunächst auf einer stabilen Verankerung in ländlich-kleinstädtischen
Kontexten und christlich orientierten Bevölkerungsgruppen. […] Darüber hinaus
erfuhren die Christdemokraten zunächst einen enormen Zuspruch durch die ostdeutsche
Arbeiterschaft. Politisch trotz gegenteiliger Staatsrhetorik eher machtlos
und unzufrieden mit dem wirtschaftlichen Lebensstandard in der DDR, versprachen
sie sich von Helmut Kohl eine rasche Einheit und Angleichung der Lebensverhältnisse.
[…]
- Mit ihrer zunehmenden Desillusionierung schmolz die Unterstützung der
CDU durch die ostdeutsche Arbeiterschaft
[…]Die PDS repräsentierte direkt nach der Wende das noch weitgehend intakte
sozialistische Milieu. Als einzig maßgebliche Partei mit einer klaren Pro-DDR-Ausrichtung
fand sie vor allem auch die Unterstützung derer, die sich vom Fortbestand
der DDR die Sicherung bisheriger Privilegien erhofften. Ihre besten Ergebnisse
erzielte die PDS dementsprechend in den größeren Verwaltungsstädten - in Ost-Berlin
und den ehemaligen Bezirkshauptstädten -, bei Personen mit höherer formaler
Bildung oder Leitungsfunktion sowie bei Konfessionslosen. Inzwischen finden
sich unter ihren Wählern neben ehemaligen Funktionseliten und überzeugten
Sozialisten aber auch etliche DDR-Nostalgiker und vor allem auch Protestwähler,
die mit dem Verlauf des Vereinigungsprozesses und der Angleichung der Lebensverhältnisse
äußerst unzufrieden sind.8 Nach dem eher misslungenen Start der neuen rot-grünen
Bundesregierung 1998 waren es insbesondere Letztere, auf die der weitere Aufschwung
der PDS in den ostdeutschen Landtagswahlen 1999 zurückzuführen ist. Als regionale,
ostdeutsche Milieupartei bleiben die weiteren Expansionschancen der PDS jedoch
begrenzt.
- Die Handikaps der SPD im Osten Deutschlands
[…]Anders als CDU und PDS, die zur flächendeckenden Repräsentanz auf die trotz
etlicher Parteiaustritte weitgehend intakten Strukturen der alten DDR-Parteien
CDU und SED zurückgreifen konnten, stehen die Sozialdemokraten wie auch die
Liberalen und Bündnis 90/Grüne bis heute vor weitaus größeren Problemen,
wenn es um personelle Ressourcen für kommunale politische Mandate und Ämter,
für eine leistungsfähige Infrastruktur der eigenen Partei oder auch für Mobilisierungsaktionen
im Wahlkampf geht. Zu Beginn der 90er-Jahre hatte die CDU etwa viermal so
viel, die PDS sogar über sechsmal soviel Mitglieder wie die SPD.9 Bis heute
haben sich entsprechende Ungleichheiten in allerdings abgemilderter Form erhalte[…]1998
gelang es erstmals, die CDU im östlichen Wahlgebiet zu überflügeln und auch
in der dortigen Arbeiterschaft als stärkste Partei abzuschneiden. Dennoch
lässt sich im Osten bis heute eine sozialstrukturell identifizierbare Kernwählerschaft
der SPD nur in Ansätzen ausmachen. […]
- Ungünstige Rahmenbedingungen für FDP und "Grüne"
[…] Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit finden die wirtschaftsliberalen
Positionen der FDP wie auch die ökologischen Politikangebote von Bündnis
90/Grüne im Osten derzeit nur geringe Resonanz. Zudem liegt der Anteil
der Selbstständigen - der traditionellen FDP-Wählerklientel - noch deutlich
unter dem westdeutschen Wert von etwa 10%. Die hohen Wahlergebnisse der Liberalen
bei der Bundestagswahl 1990 müssen als Ausnahme angesehen werden und verdankten
sich zum größten Teil dem hohen Ansehen des in Halle geborenen damaligen Außenministers
Hans-Dietrich Genscher. Die oppositionellen Bürgerbewegungen wiederum
hatten in der Wende einen großen Anteil an der gewaltfreien Beendigung der
SED-Herrschaft. Allerdings standen ihre auf Kommunikation und Konsens basierenden
Demokratie- und Politikvorstellungen, ihre dezentralen Organisationsstrukturen
und ihr Selbstverständnis als gewaltfreie Oppositionsgruppen einer klaren
Machtorientierung entgegen.10 Nur geringe Teile überwanden schrittweise ihre
Skepsis gegen die parteienorientierten Verfahrensweisen der repräsentativen
Demokratie und verbanden sich letztlich mit den Grünen in Ost (1990) und West
(1993). Heute konkurriert Bündnis90/Grüne vor allem mit der PDS um
die Unterstützung von alternativen Milieus und neuen sozialen Bewegungen,
und auch die sind im Osten in geringerem Ausmaß vorzufinden als im Westen.
[…] Erst Ende der 90er-Jahre zeigten sich Aufweichungen der Dreiparteiensysteme.
Die bei der Landtagswahl 1998 zum ersten Mal in Sachsen-Anhalt kandidierende
rechtsextreme Splitterpartei DVU konnte auf Anhieb 12,9 % der Zweitstimmen
erzielen. Gewählt wurde diese Partei überdurchschnittlich von jungen Menschen
mit niedrigerem sozialen Status. Bei den unter 35-Jährigen Männern und den
unter 25-Jährigen Frauen schnitt die DVU mit 32% bzw. 26% der Zweitstimmen
sogar mit Abstand als stärkste Partei ab. 61% aller DVU-Wähler waren männlich.
Ähnliches wiederholte sich in Brandenburg bei der Landtagswahl 1999, allerdings
kam die DVU dort auf lediglich 5,3%, und junge Männer waren weitaus stärker
überrepräsentiert. Anders als bei bisherigen rechtsextremen Wahlerfolgen spielten
in beiden Fällen die Themen Ausländer oder Asyl keine besondere Rolle. Von
zentraler Bedeutung war die Unzufriedenheit mit der ökonomischen Situation.
Der Protestcharakter dieser rechtsextremen Wahlerfolge ist unübersehbar, zumal
die DVU bei der zeitlich nahe gelegenen Bundestagswahl 1998 nur geringe Stimmenanteile
verbuchen konnte.
- Ostdeutsche stärker an Sachfragen und Kandidaten orientiert
Neben der spezifisch ostdeutschen Parteienkonkurrenz von CDU, SPD und PDS
sowie der im Vergleich zum Westen zeitweilig unterschiedlichen Zusammensetzung
der Parteiwählerschaften kennzeichnet eine weitere Besonderheit den ostdeutschen
politischen Wettbewerb: Die Wählerinnen und Wähler weisen im Durchschnitt
eine geringere Bindung an die Parteien und eine größere Skepsis gegenüber
dem politischen System der Bundesrepublik auf. Im Westen wurden die Parteiidentifikationen
über mehrere Jahrzehnte durch Sozialisationsprozesse erworben und regelmäßig
aktualisiert. Im Osten liegen sowohl der Anteil der Personen mit einer Parteiidentifikation
als auch die Stärke der Bindungen schon aufgrund der erst zehn Jahre andauernden
demokratischen Entwicklung unter dem westdeutschen Niveau.13 Viele ostdeutsche
Wähler orientieren sich bei ihrer Wahlentscheidung bislang stärker an Sachfragen
und Kandidaten als an Parteibindungen. Hinzu kommen im Vergleich zum Westen
ein insgesamt geringeres Vertrauen in rechtsstaatliche und demokratische Institutionen
sowie eine größere Unzufriedenheit mit dem Erscheinungsbild der deutschen
Demokratie. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass diese Unzufriedenheit
vor allem mit einer negativen Bewertung der Wirtschaftslage und einer kritischen
Einstellung zur Gerechtigkeit der deutschen Gesellschaft einhergeht.
- Eine vergleichsweise ähnliche Einschätzung der Partizipationsmöglichkeiten
Dennoch stellt die Beteiligung an Wahlen in beiden Landesteilen heute mit
Abstand die häufigste politische Partizipationsform dar. Trotz völlig unterschiedlicher
Erfahrungen mit politischer Teilhabe in der Vergangenheit bestehen 1998 hinsichtlich
der Akzeptanz verschiedener Formen politischer Partizipation generell nur
geringe Unterschiede zwischen Ost und West. Den Umfragedaten nach diskutieren
jeweils etwa 70 % der Wahlberechtigten im Bekanntenkreis oder an der Arbeitsstelle
über Politik, jeweils 40 % haben sich bereits an Unterschriftenaktionen beteiligt.
Zudem zeigen weitere Analysen, dass Wahlen von jeweils etwa 45 % der Wahlberechtigten
als sehr effektive Möglichkeit angesehen werden, persönlich Einfluss auf die
Politik nehmen zu können. […]
- Unzufriedenheit führt im Osten schnell zu Wechselwahl oder extremeren
Protesten
Die insgesamt distanziertere Haltung gegenüber den politischen Parteien hat
Konsequenzen für die Parteienkonkurrenz in den ostdeutschen Ländern. Zunächst
kommt bei Wahlen aufgrund der schwächeren Parteibindungen den kurzfristigen
politischen Stimmungen und Kandidatenimages eine größere Bedeutung zu.
[…] Zu starken Diskussionen führten und führen insbesondere das Ausmaß sozialstaatlicher
Absicherung, die Haltung gegenüber der PDS, der Umgang mit den Stasi-Akten,
oder auch der im Osten mehrheitlich abgelehnte militärische Einsatz im Kosovo.
Übersteigt schließlich der Unmut über die häufig als "West"-Parteien angesehenen
Sozial- und Christdemokraten ein gewisses Maß, so stehen den Wählern im Osten
mit den rechtsextremen Parteien und der PDS gleich zwei Optionen zur Artikulation
ihres Protests zur Verfügung. Die überraschenden rechtsextremen Wahlerfolge
in den beiden strukturschwachen Ländern Sachsen-Anhalt und Brandenburg haben
nachdrücklich demonstriert, wie schnell sich ökonomische Unzufriedenheiten
in antidemokratische Proteststimmen ummünzen können. […]
Aus: Ulrich Eith: Politisch zweigeteilt? Wählerverhalten und Parteiensystem
zehn Jahre nach der Einheit. http://www.lpb.bwue.de/aktuell/bis/4_00/ostwest06.htm
(Download 08.03.2002).
Arbeitsaufträge:
- Fasse den thesenartig Text zusammen; orientiere dich hierbei an den Ziffern
1) bis 9).
- Vergleiche die Hauptaussagen des Textes mit den Wahlergebnissen (M
4.1); kannst du den Aussagen zustimmen? Wenn ja: Wie begründest du die
Richtigkeit der Aussage? Wenn nein: Warum nicht?
- Warum haben die Ostdeutschen nach Eith eine "distanziertere Haltung gegenüber
den politischen Parteien"?
- Was bedeuten Parteibindungen? Trifft es auch auf die PDS zu, dass eine
schwächere Parteibindung vorhanden ist?
- Aus welchen Gründen sind rechtsradikale Parteien in Ostdeutschland so stark?
Wer sind in der Hauptsache ihre Wähler?
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