M 09.18 Jugendliche Wähler: Protestwahl, Überzeugungswahl oder Wahl aus politischem
 


Fast jeder dritte Erstwähler entschied sich am vorvergangenen Sonntag in Berlin für die PDS. Die Gysi-Partei vergrößerte damit ihren Anteil an Wählern bis zu 24 Jahren gegenüber 1999 um 11,2 Prozent - ein deutlich größerer Zuwachs als bei SPD und FDP. Besonders bitter war das Votum für die CDU, die zur Hochzeit der New Economy noch bei den Jungwählern als hipp galt. Sie stürzte von 32,1 auf 15,1 Prozent ab. An dem Desaster, jammerte die "Frankfurter Allgemeine", seien "Gymnasiasten aus gutem Hause" mit verantwortlich. Die Partei der alten Kader, ermittelte Infratest dimap, habe "in der ganzen Stadt die jüngste Wählerschaft und die meisten Wähler mit Abitur". Der Trend hat aber womöglich Zukunft: Bei einer "Juniorwahl" stimmten 4900 Schüler im Alter zwischen 14 und 17 Jahren aus 14 Berliner Schulen mit 25,9 Prozent für die Postkommunisten. Die SPD erreichte bei dieser Testwahl 31,8, die Grünen 13,4, die CDU nur 12,6 Prozent. Im SPIEGEL schildern vier Jungwähler, zwischen 19 und 22 Jahren alt, die Beweggründe ihrer Entscheidung für die PDS.

SPIEGEL: Was macht die PDS für junge Wähler so interessant?
Benjamin: Bei mir war es ein spontaner Entschluss. SPD und Grüne sind nur noch pragmatisch, und ich konnte ihre Ignoranz und Selbstgefälligkeit nicht mehr ertragen. Mein Vertrauen in die PDS ist aber ebenfalls begrenzt: Wäre ich ganz konsequent gewesen, hätte ich meinen Stimmzettel wohl ungültig machen müssen.
Sebastian: Für mich war die PDS die einzige Antikriegspartei. Außerdem gefiel mir ihre Haushaltspolitik für Berlin.
Benni: Ich habe noch in der Wahlkabine geschwankt, ob ich die wirklich wählen soll - ausschlaggebend war dann aber auch die Position der PDS als einzige Partei gegen den Krieg. Julian: Ich habe ein generelles Problem mit dem Kapitalismus. Ich finde es pervers, vor einem Joghurt-Regal mit riesiger Auswahl zu stehen, während gleichzeitig Millionen Menschen verhungern.
Benjamin: Es ist doch viel zu kurzsichtig, die Terroranschläge vom 11. September einfach mit Bomben zu vergelten, wie Joschka Fischer es verteidigt. Ich hatte darum ein echt schlechtes Gewissen, mit der Zweitstimme grün zu wählen. Das habe ich nur aus ökologischen Gründen gemacht; damit die Grünen der PDS bei Umweltfragen in den Arsch treten können bei einem rot-rot-grünen Senat. SPIEGEL: Drei von Ihnen stammen aus Berliner West-Bezirken, einer aus dem Osten. Ist es unter jungen Leuten schick, PDS zu wählen?
Benjamin: Also, das möchte ich noch bezweifeln. Ich sehe in der PDS nicht die coole, junge Partei mit dem hippen Gysi.
Benni: Die meisten aus meinem Umfeld in Schöneberg haben die PDS allein wegen ihrer linken Einstellung gewählt, weil sie ihnen politisch am nächsten steht. Oder weil sie zumindest das geringste Übel war. Unter den anderen Parteien würde sich gar nichts in dieser Stadt ändern. Benjamin: PDS wählen - das ist kein Modeding, sondern Ausdruck einer Lebenshaltung, einer ganz prinzipiellen Kritik an dieser Gesellschaft und ihren Parteien. Viele junge Menschen sehen keine andere Alternative zur PDS.
Sebastian: Ich muss dir da widersprechen. Ich kenne viele Leute, die einfach der Masse hinterhergerannt sind, nach dem Motto: "PDS ist cool, also wähle ich die mal." SPIEGEL: Haben Ihre Familien versucht, Sie bei der Wahlentscheidung zu beeinflussen?
Sebastian: Für mich - ich bin 1982 in Kreuzberg geboren - ist die SED-Vergangenheit kein gravierendes Argument. Meine Eltern haben da einen anderen Blickwinkel drauf: Die sehen die Vergangenheit wesentlich kritischer. Für mich ist die PDS eher eine eigenständige Partei. Benni: Für meine Mutter war die PDS natürlich immer die SED-Nachfolgepartei und allein schon deshalb untragbar. Das war auch mein erstes Bild. Inzwischen bin ich der Meinung, dass es eine demokratische Partei ist. SPIEGEL: Das sehen viele ältere Berliner anders. Für sie war es ein Schock, dass so viele Erstwähler PDS gewählt haben.
Benjamin: Die sollten sich viel mehr Sorgen machen, dass über 50 Prozent der Bayern immer wieder CSU wählen. Das ist für mich eine wesentlich demokratiefeindlichere Partei als die PDS. SPIEGEL: Wollen Sie denn ernsthaft zurück zum Gesellschaftsmodell der PDS, sprich zur besseren DDR?
Benjamin: Nicht zurück, sondern - wenn überhaupt - voran. Sicher ist demokratischer Sozialismus eine attraktivere Gesellschaftsform als der parlamentarische Kapitalismus. Es geht bestimmt nicht darum, dass wir die DDR toll finden. Vielmehr geht es um ein großes Misstrauen gegenüber unserer jetzigen Gesellschaft und Politik.
Julian: Ich erinnere mich noch an die Atmosphäre und das menschliche Miteinander in der DDR. Die politischen Verhältnisse habe ich damals nicht so mitbekommen. Das klingt vielleicht etwas romantisierend, aber ich habe das Gefühl, dass damals mehr Zeit da gewesen ist und die Leute nicht so krampfhaft nach Karriere strebten. SPIEGEL: Hat die Frage der Identität, also ob aus Ost oder West, Ihre Wahlentscheidung beeinflusst?
Julian: Das koppel ich völlig ab. Auch wenn ich Wessi wäre, hätte ich PDS gewählt.
Benjamin: Was die jungen Leute angeht, ist die Stadt doch zusammengewachsen. Wir definieren uns längst nicht mehr darüber, ob wir aus dem Osten oder aus dem Westen kommen. Uns verbindet eher ein gemeinsames Gefühl: Wir sind nicht glücklich mit den politischen Verhältnissen und der Form des Zusammenlebens in diesem Land.
Sebastian: Ich merke nur noch ganz selten, ob jemand aus Ost oder West kommt. SPIEGEL: Auf skurrile Weise sitzen Sie aber als PDS-Jungwähler mit den SED-Altgenossen im selben Boot.
Benjamin: Mich verbindet aber gar nichts mit diesen Leuten. Die PDS ist nun mal eine sehr ambivalente Partei. Sie integriert alle möglichen, auch gegensätzliche Strömungen ...
Julian: ... aber die alten Kader sind schon ein dunkler Schatten, der über der PDS schwebt.
SPIEGEL: Welchen Stellenwert hat Gregor Gysi für Sie?
Benjamin: Ich hätte es eigentlich gut gefunden, wenn Gysi Bürgermeister wird, mit kompetenten parteilosen Senatoren. Was diese Stadt braucht, ist ein krasser Neuanfang. Ich fand es einfach erbärmlich, wie schnell die Grünen mit denselben SPD-Leuten, die an der Bankenkrise mit beteiligt waren, sofort eine Regierung bildeten - gerade so, als sei nichts passiert. Durch die ungeklärten Spenden- und Korruptionsaffären im Bund und in Berlin ist bei vielen ein großes Misstrauen geblieben. Aber wenn ich sehe, dass Gysi jetzt auch beginnt nach der Macht zu schielen, dann könnte das wiederum der Anfang einer großen Enttäuschung werden. Sebastian: Die SPD tat so, als hätte sie nichts mit der Finanzkrise zu tun gehabt. Bei einer Wahlveranstaltung an meiner Kreuzberger Schule sagte die SPD-Vertreterin nur, sie hätte nichts davon gewußt. Das glaubte ihr doch keiner. Schlimmer noch, wenn es stimmen würde! Das ist doch verheerend, als mitregierende Partei nichts davon gewusst zu haben. Die kann man doch nicht wählen!
Benjamin: Weil es keine ehrliche Aufarbeitung der politischen Skandale gab, zweifeln viele am Demokratieverständnis der beteiligten Parteien. Dubiose Geldflüsse und Bankgeschäfte, verschwundene Akten - aber kein Spitzenpolitiker, der aus Anstand aus seiner Partei ausgetreten ist, keiner, der sich glaubwürdig hingestellt und wirkliche Aufklärung organisiert hat.
Julian: Die meisten in unserem Alter haben keinen Glauben mehr daran, etwas verändern zu können - im Gegensatz zu vorangegangenen Generationen, die diesen Glauben hatten, aber gescheitert sind. Sicher sind wir desillusioniert - aber doch nur, weil wir nichts mehr von politischen Parteien oder organisierten Bewegungen erwarten. Die Politik kann in Wahrheit viel weniger schaffen, als Politiker uns immer glauben machen wollen.

Aus: Spiegel-Artikel vom 29.10.2001:
Martina Nix, Sven Röbel, Peter Wensierski: "Großes Misstrauen". Alle Parteien rätseln, warum so viele Jungwähler zur PDS überliefen - vier Auskünfte.
http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,165799,00.html (Download 08.03.02).

 

Arbeitsaufträge:

  1. Gib die Aussagen der Jugendlichen thesenartig wieder.
  2. Kannst du die Argumente der Jugendlichen nachvollziehen? Warum bzw. warum nicht versteht du ihre Haltung?
  3. Zeugt diese Haltung von politischem Verständnis und von politischem Interesse oder zeigt es eher eine leichtfertige Entscheidung? Begründe deine Meinung.
  4. Überlege dir, welche Gründe für dich als Ostdeutsche(r)/Westdeutsche(r) dafür/dagegen sprechen könnten, die PDS zu wählen. Hättest du jeweils andere Argumente, wenn du ein Westdeutsche(r)/ein Ostdeutsche(r) wärst?
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