M 09.22 Identitätsprobleme und Zukunftsängste: typisch (ost-)deutsch?
 


Das Mädchen wirkt so selbstbewusst, so dynamisch. Eine, die in New York leben könnte oder in London. Hongkong, sagt sie ganz lässig, wäre auch nicht schlecht. Das habe ihr sehr gut gefallen, als sie dort mit ihren Eltern in Urlaub war. Svenja Müller* aber wohnt in der Nähe von Grimmen, einer kleinen Stadt im äußersten Nordosten Mecklenburg- Vorpommerns. Dort, wo die Arbeitslosigkeit hoch und das Land weit ist. "Hinter unserm Haus", sagt die Gymnasiastin, "ist freies Feld, dann beginnt der Sumpf -- was will ich hier?"

Es ist nicht die Natur pur, die Svenja Müller so anödet. Es scheint etwas anderes in ihr zu nagen. Etwas, das lange nicht deutlich wird, so lange sie von den Fernreisen mit ihrem gut verdienenden Vater redet. Etwas, das schmerzen muss. Und das ihre Wegzugspläne hinaus in die weite Welt nicht wie einen Aufbruch erscheinen lässt, sondern wie eine Flucht.
18 Jahre alt ist das Mädchen mit dem braunen Pferdeschwanz, eine lebhafte, begabte junge Frau. Und doch kommen in ihr immer wieder diese Bilder hoch, von damals, als sie gerade elf war. Damals, da wartete ihre Mutter schon sehnsüchtig hinterm Fenster, wenn endlich der Schulbus nahte. "Sie war so glücklich, dass endlich wer nach Hause kam", sagt Svenja und es klingt bitter. Svenjas Mutter, eine Lehrerin, war arbeitslos. Ihrer Tochter hat sich das tief eingeprägt. Die versteckte Verzweiflung, die unnatürliche Konzentration auf die Familie, die Leere, die sie spürte und die ihre Mutter nie eingestanden hat. "Ich weiß: Das war die schlimmste Zeit ihres Lebens."

Nie, nie will Svenja selbst so etwas erleben. "Dann gehe ich lieber gleich weg, als dass ich mir so was antue." Obwohl es ihren Eltern doch jetzt gut geht, wie sie immer wieder betont. Doch Svenja will nichts wie weg. Medizinische Physik studieren, in die Forschung gehen. Und das nicht im nahen Greifswald oder in Rostock. Sie will weit weg. Weg von dieser Angst, in einem Landstrich hängen zu bleiben, in dem sie das Gleiche erleben könnte wie ihre Mutter. In dem sie hilflos der Arbeitslosigkeit ausgeliefert ist, in der sie die Chancen verpasst, die es anderswo gibt. Nur eben nicht hier.

Was Svenja und ihre Mitschüler umtreibt, ist nur auf den ersten Blick ein persönliches Problem. Auf den zweiten ist es der Exodus einer ganzen Generation. Abiturklassen ziehen geschlossen in den Westen, andere gehen spätestens nach dem Studium. Landstriche entvölkern, Städte überaltern. Die Politik hat parteiübergreifend erkannt: Hier wird bald mangels Menschen auch noch der letzte Rest Wirtschaft zusammenbrechen. Ein Problem, für das niemand eine Lösung hat: Schröder nicht, Stoiber nicht, die PDS sowieso nicht.

Die jungen Leute haben in den letzten zehn Jahren eines mitgekriegt: Es bringt nichts, auf bessere Zeiten zu hoffen. Nichts, sich von ABM-Stelle zu ABM-Stelle zu hangeln. Es macht traurig, arbeitslos zu sein. Sie alle haben das erlebt: Johannas Mutter, die die Fenster zweimal am Tag geputzt hat, nur um beschäftigt zu sein. Maiks Mutter, die, obwohl gut ausgebildet, einen Aushilfsjob im Konsum-Laden angenommen hat, um sich aus der Eintönigkeit zuhause zu retten. Oder Johannes Diesing, der seinem Vater skeptisch zusieht, wie der versucht, in Grimmen doch noch auf die eigenen Beine zu kommen.

"Es ist ein komischer Moment, wenn man fühlt, dass die Eltern blauäugiger sind als man selbst", sagt der 20 Jahre alte Diesing, der gerade Abitur macht. Sein Vater war zu DDR-Zeiten beim Staat beschäftigt, danach nahm er ABM-Stellen an, jahrelang. Zeitweise war der ABM-Vergabe-Verein der größte Arbeitgeber der Gegend. Mittlerweile ist jeder Radweg angelegt, jedes Hinweisschild geschnitzt, jede Ruhebank aufgestellt. Eine Landschaft, mustergültig gepflegt durch Hunderte von ABM-Kräften. Nur schafft das keinen Wirtschaftskreislauf.
Johannes Diesings Vater hat vergebens versucht, sich selbständig zu machen. Die Ehe ging darüber kaputt, Johannes lebt bei seiner Mutter. Jetzt versucht der Vater wieder, wirtschaftlich Fuß zu fassen -- mit einem Gemüsestand. Der Sohn sieht das mit einer Mischung aus Mitleid und Verzweiflung. Sicher, auch Johannes hängt an seiner Heimat. Aber er wird weggehen. Weil das doch nicht wirklich was bringt hier. Zumindest jetzt nicht. Vielleicht später.

Was das alles für die Stadt Grimmen bedeutet, ist nur bedingt in Zahlen zu beschreiben: Drei Kindergärten wurden in den letzten Jahren geschlossen, zwei Grundschulen und eine Realschule haben zugemacht. An der Wand im Zimmer von Bürgermeister Benno Rüster, 41, hängt eine Kurve -- wie die Umsatz-Statistiken in den Chefetagen der Wirtschaft. Doch diese Kurve zeigt stetig nach unten und beschreibt einen sehr speziellen Umsatz: den von Menschen. Seit 1990 sind aus der früheren Erdölstadt 3000 Menschen abgewandert -- mehr als 20 Prozent der Einwohner. 1990 hatte Grimmen 14242 Einwohner, 2001 waren es nur noch 11330. Grimmen ist eine jener Städte, die von der DDR künstlich ausgebaut wurden: Als dort 1964 die Erdölförderung begann, lebten gerade 8000 Menschen hier, danach zogen Tausende von Arbeitskräften zu. Schon 1985 wurde der Erdölbetrieb zurückgefahren, nach der Wende ganz eingestellt.

Die Arbeiter von damals finden in der industrieschwachen Gegend keine anderen Stellen. Der Bürgermeister sieht ziemlich klar, dass er die Jugend nicht halten kann. "Wer woanders 2500 netto im Monat kriegen kann, der soll es tun, der muss es tun. Wo soll ich die Argumente hernehmen, ihnen das auszureden?" Rüster ist ein unorthodoxer Mann, ein umstrittener auch. Er will auf Teufel komm raus Investoren nach Grimmen locken, die erstarrte Stadt aufwecken -- und wenn es mit Stockcar-Rennen ist oder mit Traktor-Pulling. Davon halten viele nichts. Aber der Mann verströmt Dynamik, eine brachiale zwar, aber nun ja. "Ich kann nicht um einzelne Personen kämpfen, ich muss hier die Zukunft aufbauen. Dann kommen die, die gehen, wieder zurück -- oder andere", sagt Rüster, ständig fünf Dezibel zu laut.

Noch empfiehlt selbst das Arbeitsamt Grimmen, sich Jobs im Westen zu suchen. Maik Schuparis, ein großer schlaksiger Junge, hätte die Chance zu bleiben. Nach dem Abitur könnte er eine Stelle in dem Straßenbaubetrieb bekommen, wo sein Opa arbeitet. Da hat er auch schon oft gejobbt. Die Leute schätzen ihn, er könnte in der Arbeitsorganisation anfangen. Aber warum soll man als einziger hier bleiben? Wo doch eigentlich nur die Hauptschüler bleiben, vielleicht noch die aus der Realschule. Da fühlt man sich doch plötzlich ziemlich allein zuhause.

Die Kollegiaten aus dem Gymnasium Grimmen sehen sich schon als letzte Vertreter einer aussterbenden Spezies im Land zurückbleiben: als einzelne Junge unter lauter Alten. Ein Altersheim nach dem anderen werde gebaut, sagt Maik. "Vielleicht ist das hier die Zukunft. Das Altenheim von Deutschland." Dabei ist gerade Maik doch "ein Fischkopp durch und durch", wie er sagt. Einer, der das flache Land braucht und gute Luft und seine Heimat. Der mit seiner Band "Proxy Error" proben möchte und am Wochenende nach Stralsund in die Cocktailbar Brasil geht. "Das hier ist mein Platz", sagt er. "Aber ich würde nicht alles dafür tun, um zu bleiben."

Juliane Radike ist geblieben. 23 ist sie und für das Marketing der Stadt zuständig. Grimmen dreht auf. Ein neues Stadt-Logo, ein aufwendiges, großes Stadtheft, eine eigene Bürgerstudie hat sie gemacht. 200 Leute hat Radike mit Kollegen im Herbst befragt, auch 40 Jugendliche. Was sie eigentlich bräuchten, um doch hier zu bleiben. Und die meisten hätten erst mal gesagt, das bringe nichts, sie gingen ja sowieso weg. "Ich kam am Anfang überhaupt nicht an die ran", sagt Radike. Dann hat sie ihren kleinen Bruder eingespannt, und endlich sprachen die Jugendlichen. "Die Arbeitsplätze waren nicht das Hauptanliegen", sagt die Marketingfrau. "Es identifiziert sich einfach keiner mit Grimmen." Jetzt machen sie einmal im Monat Disco und ein Maifest. Und die Stockcar-Rennen sowieso. Bürgermeister Rüster will nach vorne schauen, in die Zukunft, nicht in die triste Gegenwart. "In zehn Jahren will ich die alte Einwohnerzahl wieder erreichen", sagt er, zögert kurz, dann kommt es leiser: "Schreiben Sie: 15 Jahre."

* Der Name wurde geändert.
Aus: Süddeutsche Zeitung: Wo Altersheime die Zukunft sind. In der Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern können auch Disco und Stockcar-Rennen nicht die Jungen halten. Folge 2 der Serie: Gesichter der Arbeit. Die Jobkrise im Wahljahr. Annette Ramelsberger. Dienstag, 9. April 2002. http://szonnet.diz-muenchen.de/REGIS_A14097806 (Download am 11.04.2002).

 

Arbeitsaufträge:

  1. Warum will Svenja Müller unbedingt aus ihrer Heimat wegziehen?
  2. Was ist das Hauptanliegen der Jugendlichen, dass sie aus Grimmen wegziehen wollen?
  3. Welche Strategien verfolgt der Bürgermeister, um vor allem die Jugendlichen zum Bleiben zu bewegen?
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