[...] Endlich! Und kaum noch erwartet. Ein Brief kam, von ganz oben, der Schluss
macht mit dem Gesülze von wachsender deutscher Einheit, blühenden Beitrittsgebieten
und Chefsache Ost. Nein, nicht der Kanzler hat geschrieben. Zwar ahnt wohl auch
Gerhard Schröder seit seiner sommerlichen Koloniebereisung ungefähr, wo Osten
liegt: dort, wo Jubelossis ihn als Helmut Kohl empfingen, auf Inselchen ostdeutscher
Prosperität, einen Schnappschuss heischend, ein Autogramm und das Selbstlob
aller durchreisenden Potentaten: Weiter so! - Und was lesen wir hier? "Eine
ehrliche Bestandsaufnahme muss feststellen, dass die wirtschaftliche und soziale
Lage in Ostdeutschland auf der Kippe steht." So lautet der erste Satz von Wolfgang
Thierses Brief.
Thierse ist mancherlei: Bundestagspräsident, stellvertretender Parteivorsitzender
der SPD, Literat, Katholik, Moralist. Die Glatten begrinsen den Rotbart, weil
ihm das Predigen gemäßer ist als der parteipolitische Jargon. Mundwerk der
Ossis wollte er sein, damals, in Bonn. In Berlin scheint er drauf und dran,
es zu werden, aber nicht tümelnd, als Onkel Ost. [...]immer äußert sich unteilbar
Thierse, der Wirtschaft, Geschichte, Kultur und Mentalität des Ostens zusammen
schaut.
Fünf Thesen zur Vorbereitung eines Aktionsprogramms für Ostdeutschland,
steht über Thierses Text. Der erste Teil stellt die wirtschaftliche Lage ungeschützt
ins Licht. "Das ostdeutsche Wirtschaftswachstum bleibt seit einigen Jahren hinter
dem im Westen zurück. (...) Das verarbeitende Gewerbe produziert bislang lediglich
sechs Prozent des Gesamtumsatzes der Branche in ganz Deutschland. (...) Seit
1998 ist die Arbeitslosenquote im Osten vom 1,8-fachen ... auf das 2,3-fache
der Arbeitslosenquote im Westen gestiegen. (...) […]"
Besonders desaströs: die Jugendarbeitslosigkeit. "150 000 Arbeitslose sind unter
25 Jahre alt. 15 Prozent mehr als 1998. (...) Die konjunkturelle Abkoppelung
des Ostens und die damit zusammenhängende Ost-West-Spaltung des Arbeitsmarktes
führt zwangsläufig zu steigender Abwanderung qualifizierter und mobiler Arbeitskräfte
sowie Auszubildender von Ost nach West. Dazu leisten ... die Arbeitsvermittlung
und die Berufsberatung in bester Absicht Beihilfe. (...) Der Verlust an vorwiegend
qualifizierten Arbeitskräften zieht Kaufkraftverluste, verringerte Steuereinnahmen
und Finanzkraft der ostdeutschen Kommunen nach sich. (...) Der entscheidende
Zukunftsindikator - der Anteil von Investitionen an der Bruttowertschöpfung
- ist rückläufig. (...) Ohne externe Investitionsbereitschaft ... kann von einem
wirtschaftlichen Aufholprozess folglich keine Rede sein."
Thierse rechnet vor, dass ein stagnierender Osten nicht langsamer steigt, sondern
zügig talwärts rauscht, zum Schaden auch des Westens. […] Um die Massenabwanderung
zu bremsen, fordert Thierse kaum verhohlen einen Sektor öffentlich finanzierter
Beschäftigung. […] Hinsichtlich der EU-Erweiterung sei "Ostdeutschland als europäische
Verbindungsregion" zu profilieren. […]Aber Thierses Papier hat einen zweiten,
subjektiven Teil. Er handelt von der kaum noch reparablen Osterfahrung, als
Deutscher zweiter Klasse im mindergestellten Teil der Republik zu wohnen. "Zwei
gegensätzliche Identitätskonstruktionen gehen quer durch die ostdeutsche Übergangsgesellschaft.
Im ersten Extrem grenzt man sich 'ostdeutsch' von einer gesamtdeutschen Identifikation
ab, und im anderen dient die Identifikation als Deutscher dazu, die Überwindung
der ostdeutschen Herkunft zu demonstrieren. Solange ostdeutsche Identität und
gesamtdeutsche Identifikation als Widerspruch erfahren werden, sind sie auch
der Boden, auf dem nostalgische und nationalistische Identifikationen wachsen.
Eine der Ursachen dafür liegt in der Öffentlichkeit selbst, in der Ostdeutsche
fremd, in der Regel Objekt der Betrachtung, nicht Subjekt der Selbstaufklärung
sind." So geht das nun mal, wenn eine Geschichte sich einer anderen zu deren
Konditionen unterwirft: als Viertelland und Fünftelvolk. Die nationalen Medien
sind in westdeutscher Hand und nennen den Osten Dunkelland und geistige Brache.
[…] Was im Westen Neue Mitte heiße, sei nicht die Mitte des Ostens. "Ostdeutschland
ist durch eine Zweidrittelgesellschaft' gekennzeichnet, die sich spiegelbildlich
zur westdeutschen verhält. Nur das obere Drittel hat sich erfolgreich integriert
und entspricht nach westlichem Muster der gesellschaftlichen Mitte." Im mittleren
Ost-Drittel - von Abstiegsängsten bedroht, deutsch-deutsche Strukturgerechtigkeit
reklamierend - liege das sozialdemokratische Wählerreservoir.
Wem hat denn nun Thierse all dies gar nicht so Neue geschrieben? Neun führenden
Ost-Genossen von Höppner bis Stolpe, die er konspirativ um Vertraulichkeit bittet.
"Aus nahe liegenden Gründen wird der eine oder andere hier unterbreitete Vorschlag
auf Kritik im 'altbundesrepublikanischen' Teil unserer Partei stoßen." […]
Aus: Christoph Diekmann: Ostdeutschland steht auf der Kippe.Identitätskrise, mehr Arbeitslose, wirtschaftliche Abkoppelung - in einem vertraulichen Papier redet Wolfgang Thierse Klartext. Die Zeit 02/2001. http://www.zeit.de/2001/02/Politik/200102_thierse1.html (Download 08.03.2002).
Arbeitsaufträge:
- In welcher Form setzt sich der Autor mit den Thesen Thierses auseinander?
- Welche Kritikpunkte richten sich nach Diekmann gegen die Ostdeutschen, welche gegen die Maßnahmen der SPD- Regierung, welche gegen die Westdeutschen?