M 09.24a Kritik an Thierses Thesen: Reaktionen in der Presse
 


[...] Endlich! Und kaum noch erwartet. Ein Brief kam, von ganz oben, der Schluss macht mit dem Gesülze von wachsender deutscher Einheit, blühenden Beitrittsgebieten und Chefsache Ost. Nein, nicht der Kanzler hat geschrieben. Zwar ahnt wohl auch Gerhard Schröder seit seiner sommerlichen Koloniebereisung ungefähr, wo Osten liegt: dort, wo Jubelossis ihn als Helmut Kohl empfingen, auf Inselchen ostdeutscher Prosperität, einen Schnappschuss heischend, ein Autogramm und das Selbstlob aller durchreisenden Potentaten: Weiter so! - Und was lesen wir hier? "Eine ehrliche Bestandsaufnahme muss feststellen, dass die wirtschaftliche und soziale Lage in Ostdeutschland auf der Kippe steht." So lautet der erste Satz von Wolfgang Thierses Brief.
Thierse ist mancherlei: Bundestagspräsident, stellvertretender Parteivorsitzender der SPD, Literat, Katholik, Moralist. Die Glatten begrinsen den Rotbart, weil ihm das Predigen gemäßer ist als der parteipolitische Jargon. Mundwerk der Ossis wollte er sein, damals, in Bonn. In Berlin scheint er drauf und dran, es zu werden, aber nicht tümelnd, als Onkel Ost. [...]immer äußert sich unteilbar Thierse, der Wirtschaft, Geschichte, Kultur und Mentalität des Ostens zusammen schaut.
Fünf Thesen zur Vorbereitung eines Aktionsprogramms für Ostdeutschland, steht über Thierses Text. Der erste Teil stellt die wirtschaftliche Lage ungeschützt ins Licht. "Das ostdeutsche Wirtschaftswachstum bleibt seit einigen Jahren hinter dem im Westen zurück. (...) Das verarbeitende Gewerbe produziert bislang lediglich sechs Prozent des Gesamtumsatzes der Branche in ganz Deutschland. (...) Seit 1998 ist die Arbeitslosenquote im Osten vom 1,8-fachen ... auf das 2,3-fache der Arbeitslosenquote im Westen gestiegen. (...) […]"
Besonders desaströs: die Jugendarbeitslosigkeit. "150 000 Arbeitslose sind unter 25 Jahre alt. 15 Prozent mehr als 1998. (...) Die konjunkturelle Abkoppelung des Ostens und die damit zusammenhängende Ost-West-Spaltung des Arbeitsmarktes führt zwangsläufig zu steigender Abwanderung qualifizierter und mobiler Arbeitskräfte sowie Auszubildender von Ost nach West. Dazu leisten ... die Arbeitsvermittlung und die Berufsberatung in bester Absicht Beihilfe. (...) Der Verlust an vorwiegend qualifizierten Arbeitskräften zieht Kaufkraftverluste, verringerte Steuereinnahmen und Finanzkraft der ostdeutschen Kommunen nach sich. (...) Der entscheidende Zukunftsindikator - der Anteil von Investitionen an der Bruttowertschöpfung - ist rückläufig. (...) Ohne externe Investitionsbereitschaft ... kann von einem wirtschaftlichen Aufholprozess folglich keine Rede sein."
Thierse rechnet vor, dass ein stagnierender Osten nicht langsamer steigt, sondern zügig talwärts rauscht, zum Schaden auch des Westens. […] Um die Massenabwanderung zu bremsen, fordert Thierse kaum verhohlen einen Sektor öffentlich finanzierter Beschäftigung. […] Hinsichtlich der EU-Erweiterung sei "Ostdeutschland als europäische Verbindungsregion" zu profilieren. […]Aber Thierses Papier hat einen zweiten, subjektiven Teil. Er handelt von der kaum noch reparablen Osterfahrung, als Deutscher zweiter Klasse im mindergestellten Teil der Republik zu wohnen. "Zwei gegensätzliche Identitätskonstruktionen gehen quer durch die ostdeutsche Übergangsgesellschaft. Im ersten Extrem grenzt man sich 'ostdeutsch' von einer gesamtdeutschen Identifikation ab, und im anderen dient die Identifikation als Deutscher dazu, die Überwindung der ostdeutschen Herkunft zu demonstrieren. Solange ostdeutsche Identität und gesamtdeutsche Identifikation als Widerspruch erfahren werden, sind sie auch der Boden, auf dem nostalgische und nationalistische Identifikationen wachsen. Eine der Ursachen dafür liegt in der Öffentlichkeit selbst, in der Ostdeutsche fremd, in der Regel Objekt der Betrachtung, nicht Subjekt der Selbstaufklärung sind." So geht das nun mal, wenn eine Geschichte sich einer anderen zu deren Konditionen unterwirft: als Viertelland und Fünftelvolk. Die nationalen Medien sind in westdeutscher Hand und nennen den Osten Dunkelland und geistige Brache.
[…] Was im Westen Neue Mitte heiße, sei nicht die Mitte des Ostens. "Ostdeutschland ist durch eine Zweidrittelgesellschaft' gekennzeichnet, die sich spiegelbildlich zur westdeutschen verhält. Nur das obere Drittel hat sich erfolgreich integriert und entspricht nach westlichem Muster der gesellschaftlichen Mitte." Im mittleren Ost-Drittel - von Abstiegsängsten bedroht, deutsch-deutsche Strukturgerechtigkeit reklamierend - liege das sozialdemokratische Wählerreservoir.
Wem hat denn nun Thierse all dies gar nicht so Neue geschrieben? Neun führenden Ost-Genossen von Höppner bis Stolpe, die er konspirativ um Vertraulichkeit bittet. "Aus nahe liegenden Gründen wird der eine oder andere hier unterbreitete Vorschlag auf Kritik im 'altbundesrepublikanischen' Teil unserer Partei stoßen." […]

Aus: Christoph Diekmann: Ostdeutschland steht auf der Kippe.Identitätskrise, mehr Arbeitslose, wirtschaftliche Abkoppelung - in einem vertraulichen Papier redet Wolfgang Thierse Klartext. Die Zeit 02/2001. http://www.zeit.de/2001/02/Politik/200102_thierse1.html (Download 08.03.2002).

 

Arbeitsaufträge:

  1. In welcher Form setzt sich der Autor mit den Thesen Thierses auseinander?
  2. Welche Kritikpunkte richten sich nach Diekmann gegen die Ostdeutschen, welche gegen die Maßnahmen der SPD- Regierung, welche gegen die Westdeutschen?
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