Berlin - Aus den neuen Bundesländern haben sich in den letzten Jahren offenbar
Hunderte von türkischen Unternehmern zurückgezogen.
Einem Papier des Zentrums für Türkeistudien (ZfT) in Essen zufolge sind in ganz
Ostdeutschland inzwischen nur noch rund 1000 türkische Unternehmen aktiv. Das
entspricht etwa der Anzahl türkischer Unternehmen in Duisburg.
Insbesondere zwischen 1991 und 1993 hatte es eine Art türkischer Gründerwelle
zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen gegeben. "Auf ihrem Höhepunkt engagierten
sich dort gut 2000 türkische Unternehmer", sagte Gülay Kizilocak vom ZfT der
WELT. Zum Vergleich: In ganz Deutschland sind 55 200 türkische Selbstständige
tätig. Sie beschäftigen rund 300 000 Menschen. Der Rückzug der Türken aus dem
Osten ist für viele ein beunruhigender Indikator für die weitere wirtschaftliche
Entwicklung der Region.
Die sich seit Jahren verschlechternde Stimmung gegenüber Ausländern scheint
dabei eine wichtige Rolle gespielt zu haben: 1999 wurde nach Angaben des Verfassungsschutzes
fast die Hälfte der rechtsextremistischen Gewalttaten in Ostdeutschland begangen,
obwohl dort nur ein Fünftel der deutschen Bevölkerung und ein Bruchteil der
Ausländer lebt. "Die Erfahrung von Fremdenfeindlichkeit war für nicht wenige
von ihnen ein Grund zur Aufgabe der von ihnen in erster Linie betriebenen Lebensmittelgeschäfte,
Schnellimbisse und Reisebüros", heißt es in dem ZfT-Papier über die türkischen
Unternehmer, die den Osten wieder verließen.
"Wir sorgen uns natürlich um das Image von Thüringen wegen der rechtsradikalen
Umtriebe, und der Innenminister tut alles, was in seiner Macht steht, um das
Problem zu bekämpfen", sagte Klaus Hofmann, Sprecher des Thüringer Wirtschaftsministeriums
der WELT. "Wir haben aber bisher noch keinen Fall gehabt, in dem jemand deswegen
ein Investitionsvorhaben abgebrochen hätte."
[...]
Der Gelsenkirchener Geflügelgroßhändler Ercihan Baz (39), ist einer von Hunderten
türkischer Unternehmer, die inzwischen wieder im Westen sind. Gleich in den
ersten Tagen nach dem 11. November 1989 fuhr er mit seinem alten 230er Mercedes
in die DDR, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Baz, damals Geschäftsführer
und Partner eines Schlachthofs in Frankfurt, kaufte schließlich 1990 eine Molkerei
im thüringischen Wippersdorf bei Nordhausen.
Dort produzierte er Feta-Käse und handelte mit Schafen und Rindern. Doch sein
Traum vom Mekka in Ostdeutschland scheiterte an einer Mischung aus betriebswirtschaftlichen
und ethnischen Problemen: "Man konnte mit den Leuten einfach nicht arbeiten.
Da waren viele Doktoren und Ingenieure, denen ich noch nicht einmal einen Meisterbrief
gegeben hätte. Dazu kam, dass sie es gewohnt waren, Befehle auszuführen. Selber
machen, zügig Probleme lösen, das konnten die nicht", sagt Baz.
Auch das Klima in dem Ort trug dazu bei, dass er sein Engagement abbrach. "Als
die anderen landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften gesehen haben,
dass es bei uns einigermaßen lief, hat mich einmal sogar eine Gruppe überfallen
und mir mit Mord gedroht", erinnert sich Baz. "Die Leute da haben mich als Wessi
abgelehnt und gesagt: ‚‚Ihr nutzt uns nur aus.' Dass ich Türke war, kam noch
hinzu. Die Situation hat sich immer mehr zugespitzt."
Zweieinhalb Jahre nach Beginn seines Thüringer Abenteuers ging er zurück in
den Westen. "Die Drohungen waren ernst gemeint, aber ich hab es nicht so weit
kommen lassen und bin zurück. Wahrscheinlich war ich einer von denen, die noch
am längsten drüben waren."
Aus: Guido Geist: Türkische Unternehmer verlassen neue Bundesländer. Zahl der selbstständigen Türken in Ostdeutschland halbiert. Die Welt 12.04.2000. http://www.welt.de/daten/2000/12/04/1204de206846.htx (Download am 07.03.2002).
Aktuelle Links zum Thema Wirtschaftslage
Ostdeutschland und Arbeitslosigkeit Claudia Nolte: Aufbau Ost auf die Tagesordnung.
(Das Parlament 05/2002):
http://www.das-parlament.de/beilage/beilage_aktuelle.html
Land Brandenburg, Pressemitteilungen: Neue Bundesländer brauchen Hilfe für weiteren
Strukturwandel (3.12.2001)
http://www.brandenburg.de/land/mlur/presse/e1204001.htm
(i) Datenanalyse: Zusammenhang von Wahlverhalten und Arbeitslosenzahlen Arbeitslosenstatistiken vom Statistischen Bundesamt: http://www.destatis.de/indicators/d/arb130ad.htm
(i) Internetrecherche: Wie sieht die Wirtschaftslage in Ostdeutschland aus? Was bedeutet das für die politische Entwicklung?
Arbeitsaufträge:
- Vergleiche diesen Zeitungsartikel mit den Wahlergebnissen in den neuen Bundesländern (M 09.14 und M 09.20). Welche Zusammenhänge lassen sich feststellen?
- Warum sind die türkischen Unternehmer die "Sündenböcke" der politischen Lage?
- Warum werden gerade sie ausgewählt? Konzentriert sich der Protest auch auf andere Gruppierungen und/oder die Politik? Finde Belege hierfür.
- Orientiere dich weiter: Wie sind die Arbeitslosenzahlen in Ost- und Westdeutschland im Vergleich? Gibt es auch in Westdeutschland die Suche nach Sündenböcken? Sind dies allgemein Ausländer? Woran könnte das liegen?