Bernhard Vogel (*1932), Ministerpräsident […]
Ich begrüße es, dass erneut ein Bericht zum Stand der deutschen Einheit vorgelegt
worden ist. Ich begrüße es, dass dieser Bericht hier im Bundestag diskutiert
wird.
Erlauben Sie mir als Betroffenem, mich dazu zu Wort zu melden. Ich habe Anlass,
einem Teil der Aussagen dieses Berichtes durchaus zuzustimmen, distanziere mich
aber von den polemischen Bemerkungen, die vom Herrn Staatsminister vorhin zur
Einführung gemacht worden sind. Der Bundestagsabgeordnete Schulz hat Recht,
wenn er sagt, dass niemand alles richtig gemacht hat. Wer etwas anderes sagt,
war nicht dabei. Niemand hat alles richtig gemacht, aber einige haben besonders
viel falsch gemacht. Das muss einmal gesagt werden.
Ich stimme einigem, wie gerade gesagt, ausdrücklich zu, kritisiere allerdings,
dass eine unserer wichtigsten Aufgaben, der Ausbau der Infrastruktur, in diesem
Jahresbericht eher nebenbei erwähnt wird. Von den über 80 Seiten widmen sich
gerade drei dem Ausbau der Infrastruktur. Ich kritisiere ferner, dass neben
den vielen schönen Worten eine ehrliche Analyse der gegenwärtigen Situation
fehlt. Es wird nicht deutlich, wie weit wir die Aufarbeitung der Hinterlassenschaft
der deutschen Teilung bewältigt haben. Ich vermisse die Festlegung von Schwerpunkten
und Prioritäten.
(Cornelia Pieper [FDP]: Richtig!)
Mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident, darf ich zitieren:
Der Aufbau Ost ist eine Generationenaufgabe, die wir in nationaler Solidarität
erfolgreich vollenden werden.
Diesem Satz aus dem Vorwort zum Jahresbericht stimme ich ausdrücklich zu. Gerade
deswegen bedanke ich mich ausdrücklich dafür, dass der Aufbau Ost über das Jahr
2004 hinaus fortgeschrieben worden ist und dass der Solidarpakt II zustande
gekommen ist. Ich bedanke mich bei Ihnen, den Abgeordneten des Deutschen Bundestages,
und insbesondere beim Bundestagssonderausschuss "MaßstäbegesetzFinanzausgleichsgesetz".
Ich bin auch der Meinung, dass ich Grund habe, mich bei der Bundesregierung
zu bedanken.
Ich bedanke mich darüber hinaus bei den anderen Ländern. Ich bedanke mich dafür,
dass kein Land die Notwendigkeit des Solidarpakts II infrage gestellt hat und,
dass alle Länder diesen Pakt von Anfang an wollten und ihm zugestimmt haben.
Das ist Ausdruck nationaler Solidarität. Das gibt den jungen Ländern die Möglichkeit
zu langfristiger Planung.
Ich begrüße, dass es zu einer Neuregelung des Länderfinanzausgleiches gekommen
ist, nachdem die Länder Bayern, Baden-Württemberg und Hessen beim Bundesverfassungsgericht
geklagt und in den entscheidenden Punkten Recht bekommen haben. Ich wundere
mich, wie oft hier das Land Bayern zitiert wird und wie oft verschwiegen wird,
dass Hans Eichel genauso wie Edmund Stoiber geklagt hat und dass sich das Urteil
auf beide bezieht.
Zur ehrlichen Analyse der gegenwärtigen Situation gehört es, deutlich zu machen,
dass sich die Schere zwischen Ost und West, die sich bis 1997 zu schließen begann,
wieder öffnet. Wenn der Schwächere den Stärkeren, wenn der Osten den Westen
einholen soll, dann muss das Wachstum im Osten höher sein als im Westen. Sonst
erreichen wir das Ziel nie. Leider ist seit Jahren das Gegenteil der Fall. Die
Rezession der Wirtschaft heute trifft den Osten erheblich stärker als den Westen.
Fehler, die in Deutschland in den letzten Jahren in der Wirtschaftspolitik gemacht
worden sind, wirken sich bei uns noch stärker aus als im Westen. Die Arbeitslosigkeit
- das weiß jeder - liegt in den jungen Ländern mehr als doppelt so hoch wie
in den alten Ländern. Der Trend verschärft sich und wird sich weiter verschärfen.
Meine Damen und Herren, verstehen Sie bitte, wenn ich sage: Das kann nicht so
bleiben. Hier besteht Handlungsbedarf - und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt.
Ich wiederhole: Wir brauchen kein Konjunkturprogramm und keine höhere Neuverschuldung.
Aber wir brauchen eine Verbesserung der Infrastruktur und der gesamtwirtschaftlichen
Rahmenbedingungen.
Wir müssen - das leugnet niemand - die ohnehin notwendigen und allseits anerkannten
Infrastrukturprojekte, beispielsweise die Verkehrsprojekte "Deutsche Einheit",
vorziehen. Das liegt dem vor Jahresfrist von mir geforderten und heute so häufig
angesprochenen - ich bedanke mich da-für - Sonderprogramm Ost zugrunde, in dem
ich nicht nur zusätzliche Investitionen gefordert, sondern - nehmen Sie das
bitte zur Kenntnis - konkrete Finanzierungsvorschläge gemacht habe. Ich bin
doch nicht nach der Methode Scharping vorgegangen: Erst bestellen und dann im
Bundestag über die Bezahlung sprechen. Ich habe konkrete Finanzierungsvorschläge
gemacht.
[…]
Zum Schluss sage ich: Beim Aufbau Ost geht es nicht nur um die neuen Länder,
es geht um die ganze Bundesrepublik. Unsere eigenen Anstrengungen und die westdeutsche
Hilfe haben nur ein Ziel, nämlich vergleichbare Lebensbedingungen zu schaffen.
Gelänge es uns nicht, wäre es zum Schaden für uns alle. Gelingt es uns, ist
es zum Nutzen für uns alle.
Aus: Dr. Bernhard Vogel, Ministerpräsident (Thüringen), Cornelia Pieper, Generalsekretärin der FDP: "Der Osten steht nicht auf der Kippe" . Debatte über den Jahresbericht 2001 zum Stand der deutschen Einheit / 215. Sitzung des Deutschen Bundestages am 31. Januar 2002 http://www.das-parlament.de (Ausgabe 6/7-2002; Download 08.03.02).
Arbeitsaufträge:
- Was sind die zentralen Aussagen zur Situation in Ostdeutschland?
- Recherchiere im Internet zu dieser Debatte und überprüfe, ob du noch weiterführende Informationen dazu findest.
- Inwieweit besteht ein Zusammenhang zu den Thesen Thierses? Welches sind die Hauptpunkte der Debatte, ob der "Osten auf der Kippe" steht?
- Überlegt euch, was es bedeuten kann, wenn der Osten wirklich kippt. Welche Konsequenzen würde das mit sich bringen?