M 01.01 Ein Politikredakteur zum "Wahlkampf in der Redaktion"
 


Es gibt Zeiten, in denen sich die Zahl der bekannten Gesichter in der Redaktion häuft. "Mensch, den kennste doch?", schießt es mir regelmäßig durch den Kopf. In den Wochen vor den Wahlen suchen nicht nur Bürgermeister und Oppositionsführer, sondern auch schon mal Abgeordnete aus Land- oder Bundestag den Weg in eine Lokalredaktion, an die Hand genommen von ihren Parteifreunden aus Kreistag oder Stadtrat.

Kein Grund, sich gebauchpinselt zu fühlen: Es gibt keinen einfacheren und wirkungsvolleren Weg als ein großer Text, womöglich noch mit Bild, um für die eigene Politik zu werben. Nie wird unsere Fähigkeit, Nachrichten und Informationen zu bewerten, so auf die Probe gestellt wie in den Wochen vor einer (Kommunal-)Wahl. Politiker wissen, wie wichtig Zeitungen für ihre Zukunft sind. Wir wissen es auch.

Zu keiner Zeit fragen Politiker öfter an, ob wir nicht ein Interview mit ihnen führen möchten. Zu keiner Zeit rufen Bürgermeister oder Oppositionschef öfter an, um Themen vorzuschlagen oder Pressemitteilungen hereinzureichen. Zu keiner Zeit achten Mitglieder einer Partei mit Argusaugen darüber, wie oft und wie groß ihre Konkurrenz im Blatt steht. Höchste Zeit, sich auf die ureigensten Aufgaben eines Zeitungsredakteurs zu besinnen: Politiker-Äußerungen danach zu beurteilen, wie neu, wie interessant für unsere Leser und wie wichtig für unsere Stadt sie sind.

Die Berichterstattung zur Wahl konzentriert sich auf drei Formen:

a) Berichte, Hintergründe und Kommentare, die der Redakteur/die Redakteurin auf eigene Initiative schreiben. Das kann die Vorstellung einzelner Kandidaten ebenso sein wie die Präsentation von Parteiprogrammen. Erheblich spannender - aber auch seltener - ist die Möglichkeit, krumme Geschäfte einzelner Politiker aufzudecken und dem Wahlkampf so eine völlig neue Brisanz zu geben. (Das fördert übrigens den Spaß an der Arbeit und das Gefühl, Einfluß nehmen zu können, ungemein).

b) Pressemitteilungen, die von den Parteien hereingereicht werden und von uns veröffentlicht werden. Wir bearbeiten ("redigieren") die Texte. Niemand hat Anspruch darauf, daß seine Texte so erscheinen, wie er sie abgibt. Passagen, in denen lediglich Worthülsen produziert werden oder der politische Gegner angegriffen wird, werden von uns gestrichen.

c) Berichte über Veranstaltungen politischer Parteien, die von uns besucht werden.

In unserer Redaktion haben wir nie die Stimmen der vergangenen Wahl für unsere Berichterstattung zugrunde gelegt. Die CDU bekommt 43 Prozent aller Zeilen, die SPD 41. Bleiben für die Grünen 7 und die FDP 5 Prozent - das ist nicht nur unmöglich, sondern auch lächerlich. Der Inhalt, die Aussagekraft muß entscheiden, ob und wenn ja, in welchem Ausmaß eine Partei ihre Vorstellungen zum besten geben kann. Nur so kann ein ernstzunehmender Redakteur seinen Aufgaben gerecht werden.

Darum kann es passieren, daß wir nach einem Gespräch mit einem Landtagsabgeordneten freundlich darauf hinweisen, daß es ein Vergnügen war, mit ihm oder ihr zu plaudern, aber kein Wort davon in der Zeitung stehen wird. Wenn es ihnen wirklich so wichtig ist, können sie in drei Wochen gerne wiederkommen. Nur: Dann ist die Wahl vorbei - und das Interesse an einem Besuch in unserer Redaktion in der Regel auch.

Stefan Werding, Jahrgang 1966, studierte Anglistik, Germanistik und Politik, bevor er ein Volontariat bei den Westfälischen Nachrichten (Münster) begann. Vier Jahre arbeitete er in der Lokalredaktion Gronau. Seit einigen Jahren ist er Politikredakteur.
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