M 02.03 Optical Point
 

Schließlich wird auch die Neigung des Lesers, auf bestimmte Seitenteile zuerst zu schauen, psychologisch zu beachten sein. Es ist Tatsache, daß manche Stellen der Seite dem Leser mit dem, was sie zu sagen haben, ganz unmittelbar ins Auge leuchten, andere Stellen zurücktreten, ja fast im Schatten stehen.

Psychologische Erhebungen, durch Daniel Starch schon vor dem 1. Weltkrieg vorgenommen, haben ergeben, daß bei Aufteilung der Seite in vier Felder das Auge den Blick ins Feld rechts oben zuerst und am häufigsten hinlenkt (sogenannter "Optical Point", der "blickhäufigste Punkt"). Eine Wertung ergab nachfolgendes Schema:



Schema: Optical Point

Die so aufgebaute Einordnung des Stoffes hatte wohl eine durch die Praxis bewährte Berechtigung, doch ist diese längst angezweifelt worden. Vor allem durch die schnelle, letztlich auch von der Konkurrenz der optischen Medien mit bedingte Fortentwicklung des Seitenbildes, durch die Einordnung der Illustrationen und auch durch die Verlebendigung der Anzeigen ist diese grobe Gliederung überholt.

Für den starken Blickfang jeder Form des Bildes und der graphischen Wucht großer Auszeichnungsschriften konnte sie ohnehin kaum gelten. Solche, aber auch andere neuere Mittel des Textumbruchs vermögen den Blick des Lesers auch anders zu lenken. Wo der Durchschnittsleser der Lokalpresse so reagiert, wie Starch es dargestellt hat, dürfte das weitgehend daran liegen, daß er durch einen konservativen Umbruch daran gewöhnt, also "konditioniert" ist. An eine Umordnung des Lesestoffes, etwa in der Verlegung der Meinungsbeiträge auf die vierte Seite, kann man, wie Beispiele zeigen, den Leser allmählich gewöhnen. Die Dinge sind im Fluß.

Es lassen sich also keine ständig geltenden Wirkungsregeln festhalten. Jede Zeitung hat ihr Gesicht und zeigt es in wechselndem Mienenspiel.

Aus: Emil Dovifat: Zeitungslehre II: Redaktion. Die Sparten. Verlag und Vertrieb. Wirtschaft und Technik. Sicherung der öffentlichen Aufgabe. 6., neubearbeitete Auflage / von Jürgen Wilke, Berlin, New York (de Gruyter) 1976, S. 138.
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