M 02.04 Tägliches Feilschen um bestmöglichen Kompromiß
 


Zeitungen sind heute kompliziert organisierte Industriebetriebe mit auf kontinuierliche Produktion eingestellten Abläufen, deren Endergebnis täglich auf die Minute pünktlich fertig zu werden hat.

In diese Naht- und Konfliktstelle springt seit eh und je der Chef vom Dienst und versucht, die Bedürfnisse der Redaktion und anderer Abteilungen wie Vertrieb und Technik halbwegs miteinander in Einklang zu bringen. Bei uns sind es sogar vier Redakteure und Redakteurinnen, die das Ressort "Chef vom Dienst" bilden und sich dieser Aufgabe täglich neu stellen.

Bevor bei uns, nämlich bei der "Neuen Ruhr Zeitung/Neue Rhein Zeitung (NRZ)" in Essen, die Redakteure beginnen, den Inhalt für die überregionalen Seiten und die fünfzehn Lokalteile zu recherchieren, zu schreiben und zu bearbeiten, müssen Chef vom Dienst und Anzeigenabteilung sich über den dafür zur Verfügung stehenden Platz einigen. Vom Verlag gibt es dazu einige Grundvorgaben, wieviel Seiten im Schnitt für Redaktionelles zur Verfügung stehen. Aber das muß unter Berücksichtigung der aktuellen Nachrichtenlage, aber auch der vorliegenden Anzeigenaufträge und ihrer Plazierungswünsche täglich neu ausgehandelt werden.

Zwischen dem Hinweis der Anzeigenabteilung, ihr Teil würde schließlich das Geld ins Haus bringen, und der journalistischen Erwiderung, die Leser hätten das Blatt schließlich wegen des redaktionellen Inhalts abonniert, liegt die ganze Welt des täglichen Feilschens um den bestmöglichen Kompromiß. Das ausgehandelte Platzangebot muß dann in die einzelnen Ressorts und per Telefon in die fünfzehn Lokalredaktionen der Zeitung verbreitet werden.

Für die schreibenden und redigierenden Journalisten setzt nun die Redaktionsarbeit voll ein, während für den Chef vom Dienst etwas Luft entsteht, die er für seine über den Tag hinausgehende Arbeit nutzt.

Am späten Nachmittag nach dem Anzeigenschluß steht dann endlich fest, wieviele Anzeigenseiten die Kunden aufgegeben haben. Zusammen mit der Zahl der lokalen und überregionalen redaktionellen Seiten ergibt das fast immer eine krumme Seitenzahl, die so nicht zu drucken ist. Mit 23 Seiten Zeitung zum Beispiel kann kein Leser etwas anfangen, denn dann bliebe eine Seite leer. Hier behilft sich die NRZ mit einer breiten Palette von vorbereiteten Sonderseiten, die nicht nur ein druckbares Produkt von in unserem Beispiel 24 Seiten schaffen, sondern für die Leser eine spürbare Ergänzung des aktuellen Inhalts durch Unterhaltungs- und Ratgeberelemente sind.

Das Spektrum dieser Sonderseiten reicht von "Für den Briefmarkenfreund" über "Essen und Trinken" und "Leserbriefe" bis hin zu "Rätsel" und politischen Hintergrundberichten. Sie werden zum Teil von der Redaktion "Chef vom Dienst" mit anderen Ressorts gestaltet.

Bei den Umfangsentscheidungen für jede der 15 Lokalausgaben geht es nicht zuletzt auch um das Geld des Verlages, denn wenn die Summe von redaktionellem und Anzeigenteil statt 23 vielleicht nur zwanzigeinhalb wäre, könnte man ja auch bei 20 Seiten Umfang landen, indem die Lokalredaktion etwas weniger Platz bekommt und ein oder zwei Reportagen einen Tag später bringt und die Anzeigenabteilung ihren Platzbedarf noch einmal besonders scharf kalkuliert. Die Folge wären jetzt vier Seiten weniger Umfang und damit geringere Herstellungskosten.

Zur wichtigen Aufgabe der Platzverteilung kommt die Überwachung der pünktlichen Herstellung einer Zeitung. Dazu kommt eine Technik, die nicht abends zwischen halb neun und halb zehn die ganze Zeitung schlagartig auf einmal herstellen kann, sondern über mehrere Stunden halbwegs kontinuierlich beschäftigt sein will. Da hilft bei dem einen Kollegen nur der freundlich-mahnende Hinweis "Wir machen keine Wochenzeitung!", verbunden vielleicht mit einem konkreten Formulierungsvorschlag und im anderen Fall der Einsatz eines Taxis, um die Bilder neben dem durchtelefonierten Text rechtzeitig nach Essen zu bekommen. Während an einer Stelle der Vorschlag am Platz ist, die Seite im Laufe des Abends für die später gedruckten Zeitungen noch einmal zu aktualisieren, muß an anderer Stelle mit dem Vertrieb beraten werden, ob nicht wegen des Sports 20 oder 30 Minuten verspätet gedruckt werden kann.

Der Chef vom Dienst ist dabei nicht nur ein Weiterleitender von Wünschen, sondern er muß in der Redaktion Unwichtiges oder Undurchführbares ablehnen, die journalistisch notwendigen Wünsche aber energisch im Haus vertreten. Von Technik und Vertrieb sollte er dabei so viel verstehen, daß er weiß, welche Dinge machbar sind und welche nicht - also zum Beispiel, wieviel Andruckverspätung er dem Vertrieb gerade noch zumuten kann, denn die beste und aktuellste Zeitung nützt nichts, wenn sie den Leser einen Tag zu spät erreicht.

Peter Rosien, Chef vom Dienst, "Neue Ruhr Zeitung/Neue Rhein Zeitung"

aus: Peter Brand; Volker Schulze (Hrsg.): Die Zeitung. Ein Handbuch. Frankfurt/M. (=Medienkundliche Reihe 1. Hrsg. von Dietrich Ratzke) 1993, S. 130 ff.
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