M 03.02 Zum Begriff der Inhaltsanalyse
 


Die Methode der Inhaltsanalyse entwickelte sich, wie andere Erhebungsverfahren auch, aus Vorgehensweisen des Alltags. In der Regel versucht z. B. der Empfänger eines Briefes, aus dem Inhalt bzw. der Wortwahl auf Stimmungen oder Absichten des Absenders zu schließen. Ein Autofahrer in einer fremden Stadt sucht nach Zeichen, nach Symbolen, deren Inhalt er entschlüsselt, um sich zurechtzufinden. Die Alltagsform des Entschlüsselns von Inhalten und Zeichen ist meistens unsystematisch und intuitiv, sie ist zwar nicht immer regellos, aber sie basiert nicht auf den Regeln wissenschaftlichen Arbeitens.

Die theoretische Diskussion um die Methode der Inhaltsanalyse zum gegenwärtigen Stand weist auf enorme Definitionsprobleme hin. Gerade die Spannweite inhaltsanalytischer Forschungsvorgehensweisen hat gezeigt, daß je nach methodologischer Grundposition unterschiedliche Definitionen entwickelt worden sind.

Die einflußreichste und von vielen Lehrbüchern übernommene Definition von Berelson/Lazarsfeld lautet: "Inhaltsanalyse ist eine Forschungstechnik zur objektiven, systematischen und quantitativen Beschreibung des manifesten Inhalts von Kommunikation." (Berelson/Lazarsfeld, 1948, S. 5f.).

Diese Definition enthält einige Annahmen, die der im ersten Abschnitt genannten Zielsetzung der Inhaltsanalyse, nämlich soziale Sachverhalte festzustellen, widersprechen.

Die Forderung nach objektiver systematischer Beschreibung ist auf mehreren Ebenen erfüllbar. Man kann den Text nach Fläche ausmessen, man kann den Text segmentieren in Zeichen nach Buchstaben, Worten, Sätzen, man kann die Bedeutung bestimmter Zeichen explizieren, aber erhält man auf diese Weise Aufschluß über den Inhalt der Kommunikation? Die eigentlich relevanten Kommunikationsbeziehungen, die in einem Text vorliegen, sind bei objektiver Beschreibung nicht aufzudecken. Merten kommt zu dem Schluß, daß "die Forderung nach Objektivität ... daher auf ein vorsätzliches Nichtverstehen von Texten" hinausläuft (Merten, 1983a, S. 48).

Auch die Forderung nach ausschließlich quantifizierender Vorgehensweise hat zu einer langen Auseinandersetzung bei der Methodendiskussion geführt. Quantifizierung kann durchaus ordnende Bedeutung bei der Textanalyse haben, aber sie setzt voraus, daß die zu quantifizierenden Merkmale eines Textes nach qualitativen, d.h. theoriegeleiteten Gesichtspunkten ausgewählt werden.

Die der Quantifizierung zugrundeliegenden Selektionen können sonst den Zusammenhang eines Inhalts zerstören und so die Analyse unbrauchbar machen. Quantitative und qualitative Vorgehensweisen sind keine sich ausschließenden inhaltsanalytischen Strategien, sie sind eher als komplementär anzusehen (Rust, 1980, S. 8). Die Forderung von Berelson/Lazarsfeld, nur den manifesten Inhalt von Texten zum Gegenstand der Analyse zu machen, also nicht zwischen den Zeilen zu lesen, widerspricht der Zielsetzung der Inhaltsanalyse, die soziale Wirklichkeit in Teilaspekten zu beschreiben.

Auch die von Lisch/Kriz vorgeschlagene Definition, "Inhaltsanalyse als Sammelbegriff für ein Instrumentarium [zu verstehen], welches ganz allgemein der Erforschung von Kommunikationsprozessen jeder Art dient" (Lisch/Kriz, 1978, S. 29), wird den Möglichkeiten und Begrenzungen des Datenerhebungsinstrumentes Inhaltsanalyse nicht gerecht. Die Inhaltsanalyse erlaubt den Schluß vom Text auf den Kommunikator, oder auf den Rezipienten, oder auf die soziale Situation, aber nicht auf den hochkomplexen Prozeß der Kommunikation selbst. Die Beziehungen zwischen Sender, Empfänger und der sozialen Situation lassen sich aus einem zu analysierenden Text nicht ausschließlich rekonstruieren, hier bedarf es der Ergänzung durch andere Datenerhebungsinstrumente.

Geht man also davon aus, daß die Inhaltsanalyse eine sozialwissenschaftliche Erhebungsmethode der sozialen Wirklichkeit ist, muß die Definition auch "die Forderung der Inferenz von textinternen auf textexterne Merkmale" enthalten. Merten definiert dementsprechend: "Inhaltsanalyse ist eine Methode zur Erhebung sozialer Wirklichkeit, bei der von Merkmalen eines manifesten Textes auf Merkmale eines nichtmanifesten Kontextes geschlossen wird" (Merten, 1983a, S. 57). Dieser Definition schließen wir uns an: Inhaltsanalyse ist eine Methode der Datenerhebung zur Aufdeckung sozialer Sachverhalte, bei der durch die Analyse eines vorgegebenen Inhalts (z. B. Text, Bild) Aussagen über den Zusammenhang seiner Entstehung, über die Absicht seines Senders, über die Wirkung auf den Empfänger und/oder auf die soziale Situation gemacht werden.

aus: Peter Atteslander: Methoden der empirischen Sozialforschung. 6., neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Berlin, New York (de Gruyter) (=Sammlung Göschen 2100) 1991, S. 236ff.
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