Leben 15/2002 Toben macht schlau -------------------------------------------------------------------------------- Die Sportnation bleibt sitzen: Die motorischen Fähigkeiten deutscher Kinder haben sich drastisch verschlechtert. Plädoyer für einen neuen Spielplan von Renate Zimmer Der Körper hat Hochkonjunktur: Ob in der
Volkshochschule, im Sportverein oder im Wellness-Center, überall hat die
Bewegung Einzug gehalten in Kursangebote und Tagesabläufe, sogar in das Leben
jener, für die ein Fitnessstudio vor kurzem noch ein zu meidender Ort des
Körperkultes gewesen ist. Ein Volk der Walker und Jogger sind wir geworden,
der Stepper und Trimmer - wenn da nur nicht die Kinder wären. Gern glauben wir, es seien nur Vorurteile:
dass Kinder in erster Linie sitzen, anstatt sich zu bewegen. Dass sie sogar
jetzt, im Frühling, ihre Tage lieber daheim verbringen. Dass die Welt ins
Haus kommt und Kinder nicht mehr die Notwendigkeit kennen, sich zu ihr zu
begeben. Dass Hausarrest früher eine harte Strafe war, heute aber ein
Begriff, den Kinder kaum noch kennen, geschweige denn fürchten. Die Wahrheit ist, dass sich die motorischen
Leistungen der Kinder in den vergangenen Jahren tatsächlich verschlechtert
haben, zum Teil drastisch. Grundlegende Fertigkeiten sind heute nicht mehr
selbstverständlich: einen Ball auffangen. Eine Treppe schnell hinaufsteigen
und wieder hinunterspringen. Auf einer schmalen Mauer balancieren. Auf einen
Baum klettern. Auf unebenem Untergrund das Gleichgewicht halten. Auch haben
viele Kinder Probleme, sich im Raum zu orientieren, wenn sie in einer Gruppe
durcheinander laufen. Diese Eindrücke untermauert der »Motoriktest für vier-
bis sechsjährige Kinder«. Der so genannte MOT 4-6 ist ein Messverfahren,
standardisiert wie ein Intelligenztest, mit dem in Kinderarztpraxen und
Schuleingangsuntersuchungen häufig die motorische Entwicklung erfasst wird.
Der Test enthält Bewegungsaufgaben zum Gleichgewicht, zur
Koordinationsfähigkeit, zur Raumorientierung, zur Geschicklichkeit. Er wurde
vor 15 Jahren normiert - heute schon liegen die Leis! tungen in den geprüften
Bereichen um etwa zehn Prozent unter den ersten Werten. Selbstständigkeit kommt von »selber
stehen können« Ein Grund dafür mag sein, dass Lernen in
unserer Gesellschaft untrennbar mit Sitzen verbunden ist; Konzentration
scheint von körperlicher Unbeweglichkeit abzuhängen. Nach dieser Vorstellung
funktioniert Schule. War früher aber zumindest der Nachmittag von
bewegungsreichem Spiel gekennzeichnet, geradezu von einer Flucht vom
Mittagstisch nach draußen, wird heute oft zur Entspannung der Fernseher
eingeschaltet, danach geht es an den Computer, und dann müssen auch noch die
Hausaufgaben erledigt werden. Alles im Sitzen! Dem Sitzen am Vormittag folgt
also das Sitzen am Nachmittag, die Sinne werden aufs Sehen und Hören
beschränkt, der Körper wird stillgelegt und seiner grundlegendsten Funktion
beraubt: der Bewegung. Die Bewegung ist ein Kindern ureigenes Bedürfnis, sie
ist jedoch in Gefahr, von den Errungenschaften wie von den schädlichen Folgen
der Technisierung, der Motorisierung verdrängt zu werden; ebenso vom medialen
Angebot. Die Folgen lassen nicht auf sich warten:
Bewegungsmangel ist zu einer Zivilisationskrankheit geworden, bei Kindern mit
ernsthaften Folgen für die körperliche, aber auch für die geistige,
emotionale und soziale Entwicklung. So hat sich die Zahl der übergewichtigen
Schulanfänger in den jüngsten zehn Jahren verdoppelt. Jedes fünfte Kind ist
heute übergewichtig. Diese Befunde wurden erst im März wieder auf der Tagung
für Kinder- und Jugendmedizin in Weimar diskutiert. Dort warnten Kinderärzte,
dass Übergewicht nicht nur ein Zuviel an Gewicht bedeute, sondern auch ein
Zuwenig an Selbstwertgefühl: Die Kinder möchten ihren Körper nicht zeigen,
täuschen aus Angst vor dem Schulsport Unpässlichkeiten vor und finden sich
schnell in einem Teufelskreis wieder: Der Angst vor Misserfolg folgen das
Vermeiden von Bewegung und immer größere körperliche Probleme. Die
langfristigen Folgen sind noch nicht absehbar, wächst doch erstmals eine
Generation heran, die in der sensibelsten Zeit des ! Wachstums einen
wesentlichen Faktor gesunder Entwicklung vernachlässigt - und damit auch
nicht die körperliche Basis schafft, von der der Mensch eigentlich ein ganzes
Leben zehrt. Bewegungseinschränkung beginnt nicht erst
im Schulalter: Viele Babys verbringen einen beachtlichen Teil ihrer wachen
Zeit in Sitzschalen, im so genannten Babysafe werden sie vom ersten Lebenstag
an transportiert, aufbewahrt, abgestellt. Das schlechte Gewissen der Eltern
scheint manchmal weniger ausgeprägt zu sein als beim Gebrauch des Laufstalls,
der früher Inbegriff der Bewegungseinschränkung war. Dabei ist der Laufstall,
verglichen mit einer Sitzschale, fast ein Paradies: Hier kann das Kind
immerhin noch robben, krabbeln, sich drehen und an den Holzstäben aufrichten,
es kann den Boden ertasten, Spielzeug durch die Stäbe stecken und wieder
hereinzukriegen versuchen. Im Babysafe hingegen steht - das ist vielleicht
ein Zeichen der Zeit - die Sicherheit an erster Stelle. Mit Sicherheit auch
die Einengung der Erfahrungen, es gibt keine Chance zu entweichen.
Angeschnallt können die Kinder kein Empfinden für die Schwerkraft entwickeln
und ihr Gleichgewicht nicht auf die Probe! stellen. Die Sinne stumpfen ab,
wenn sie nicht gebraucht und benutzt werden. Ein Beispiel hierfür ist auch der Umgang
mit den Füßen: Babys betasten sie, spielen mit ihnen, stecken sie in den
Mund. Spätestens im Kleinkindalter aber setzt dann die Entfremdung ein: In
Schuhe gezwängt, wird den Füßen der sinnlich wahrnehmbare Kontakt mit der
Erde verweigert. So kommt es, dass Barfußlaufen auf einer Wiese mittlerweile
verunsichert, es kitzelt und pikst - sogar am Strand sieht man inzwischen
viele Kinder, die nur noch mit Gummisandalen im Sand spielen oder ins Wasser
gehen. Dieser Verzicht auf Sinneswahrnehmungen hat
einen realen Verlust zur Folge: Bei der Geburt verfügt der Mensch über mehr
als einhundert Milliarden Nervenzellen, die jedoch erst dann funktionsfähig
sind, wenn sie miteinander verknüpft werden konnten. In der frühen Kindheit
werden durch Sinnestätigkeit und körperliche Aktivität Reize geschaffen -
Reize, die diese Verknüpfungen, die Synapsenbildungen, unterstützen. Die
Verbindungen zwischen den Nervenzellen werden komplexer, je mehr Reize durch
die Sinnesorgane zum Gehirn gelangen. So haben Hirnforscher herausgefunden, dass
sich Säuglinge, die in ihrem ersten Lebensjahr vorwiegend in der Wiege lagen,
auffallend langsamer entwickeln als Kinder mit mehr Freiheiten. Einige dieser
Wiegenkinder konnten im Alter von 21 Monaten noch nicht sitzen, einige sogar
mit drei Jahren nicht richtig laufen. In den USA gibt es mittlerweile
Intelligenzschulen für Babys und Kleinkinder. Hier stehen Krabbeln, Kriechen
auf instabilem Untergrund, Klettern und Schaukeln auf dem Programm, um geistige
Kompetenz zu entwickeln. Doch nicht nur die geistige Entwicklung
wird durch Bewegung beeinflusst: Über die Erfahrungen, die das Kind mit
seinem Körper gewinnt, entwickelt es ein Bild von den eigenen Fähigkeiten.
Das Kind macht erstmals die Erfahrung von Können und Nichtkönnen, von Erfolg
und Misserfolg, von seiner Leistungsfähigkeit und seinen Grenzen. Kinder
erleben zuerst durch ihre körperlichen Aktivitäten, dass sie selbst imstande
sind, etwas zu leisten, dass sie mit ihren Handlungen etwas bewirken können.
Im Kleinkindalter äußert sich das Bemühen um Selbstständigkeit am
deutlichsten in Bewegungshandlungen: Sich allein anziehen, ohne fremde Hilfe
laufen, auf Mauern klettern - dies sind körperliche Errungenschaften, die dem
Kind (und auch seinen Eltern) schrittweise zunehmende Unabhängigkeit
beweisen. Das Wort Selbstständigkeit speist sich nicht zufällig aus »selber
stehen können«. Das Beispiel Hessen zeigt: Mehr Sport,
mehr Gymnasiasten Deshalb sollten Bewegen und Lernen auch in
der Schule nicht als Gegensatz betrachtet werden. Dort ist der
Sportunterricht zwar das einzige Körperfach neben vielen Kopffächern, dennoch
wird ihm nicht die Bedeutung beigemessen, die er angesichts seines Einflusses
auf die Entwicklung haben müsste. Denn er böte Ausgleich zum stundenlangen
Sitzen, ob am Computer oder im Klassenzimmer. In jenen Situationen nämlich
werden viele Informationen aufgenommen, ist schnelle Reaktion gefordert. Die
dabei produzierten Hormone bewirken einen verstärkten Bewegungsdrang, nach
jeder Stunde am Computer sollte deshalb eigentlich eine Stunde Fußball folgen
und zumindest nach jeder Klassenarbeit eine Runde Rennen auf dem Schulhof.
Doch das stört den Schulbetrieb, scheint verlorene Zeit zu sein, die für die
anderen Schulfächer dringend gebraucht wird - auch wenn wegen der Unruhe der
Kinder nach einer Klassenarbeit meist kein normaler Unterricht mehr möglich
ist. Eine Grundschule in Hessen hat d! eshalb schon in den neunziger Jahren
die tägliche Sportstunde für alle Schüler zur Pflicht gemacht - auf Kosten
anderer Fächer und unter anfänglichem Protest vieler Lehrer. Das Projekt
wurde wissenschaftlich begleitet, die Konsequenzen verblüfften das Kollegium:
Wie die Raufereien auf dem Schulhof gingen auch Unfälle und Verletzungen
deutlich zurück, Übergewichtige machten rasante Fortschritte, auch in Sachen
Integration, die Konzentrationsfähigkeit der Kinder im Unterricht nahm zu -
bis hin zu der Tatsache, dass die Lehrer nach eigenen Aussagen jetzt etwa 15
Prozent mehr Schüler fürs Gymnasium empfehlen können. Ein Beispiel dafür, wie in unserer
Gesellschaft die Entwicklungsbedingungen für Kinder verbessert werden können.
Dabei hängt vieles auch von der Initiative der Eltern ab: Die Gruppen der
Kinder, die sich immer weniger, und derer, die sich immer mehr bewegen,
werden immer größer. So wächst zwangsläufig auch die Kluft zwischen den
sportlich schon früh von ihren Eltern unterstützten Kindern, die in
Sportvereinen und privaten Instituten ihre Talente entfalten können, und
jenen Kindern, die aufgrund ungünstiger Lebensbedingungen oder mangelnder
Motivation immer weniger gefordert und gefördert werden. Dabei ist Bewegung nicht in erster Linie
eine Frage des Wohnortes oder der Finanzen - ein Besuch in einem Freizeitpark
zum Beispiel ist teuer, hat aber nichts mit selbstgesteuerter Bewegung zu
tun. Es bedarf auch keiner Fitness- und Trainingsprogramme, Erwachsene müssen
vielmehr den Wert der Bewegung wieder erkennen und die Notwendigkeit, sie
gerade im Alltag zuzulassen. Das heißt zum Beispiel, das Kinderzimmer nicht
mit elektronischem Spielzeug oder monofunktionellen Möbelstücken zu
überfrachten, sondern Raum für Bewegung zu lassen. Mit Matratzen- oder
Schaumstoffteilen können Kinder herrliche Bewegungslandschaften bauen, können
klettern, springen, rollen, sich verstecken. Die freie Natur ist der beste Spielplatz
Zuallererst sind also die Eltern gefragt -
auch, mit ihren Kindern wieder hinauszugehen und zu spielen, in der freien
Natur mit all ihren Herausforderungen. Da reicht es, im Wald nur wenige Meter
vom Weg abzuweichen. Was gibt es da nicht alles: weichen Laubboden,
beinstellende Wurzeln, gefällte Bäume zum Balancieren! Genügend
Herausforderungen, die Kultur des Körpers zu fördern und so primäre,
unmittelbare Lernerfahrungen zu machen, die mehr sind als »nur« Sport: dass
Üben den Erfolg näher bringt. Dass man selbst verantwortlich ist für das
Ergebnis seines Tuns. Und dass Anstrengung die Leistung verbessert. *Dr. Renate Zimmer ist Professorin für
Sportpädagogik an der Universität Osnabrück und Autorin eines Motoriktests
für vier- bis sechsjährige Kinder (»MOT 4-6«, gemeinsam mit Meinhart
Volkamer). Zimmer arbeitet selbst regelmäßig mit Kindern und ist in der
Erzieher- und Lehrerfortbildung tätig. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher zum
Thema Bewegung und Entwicklungs- förderung von Kindern. Zuletzt erschien als
Ratgeber für Eltern: »Schafft die Stühle ab! - Was Kinder durch Bewegung
lernen« (Herder Spektrum). |