Klaus Bruckmann                                                                                                        April 1997

 

Didaktische Standpunkte zum Sportunterricht

 

1. 1945 Lehrplan  Leibesübungen:

Gesundheitspflege, Körperbildung und Charakterfestigkeit sind die Aufgaben der Leibesübungen.

2. 1957 Empfehlungen zur Förderung der Leibeserziehung an den

Schulen:

Die Leibeserziehung gehört zur Gesamterziehung der Jugend. Bil­dung und Erziehung sind insgesamt in Frage gestellt, wenn sie nicht oder nur unzureichend gepflegt wird.

3. 1974 Unterrichtsempfehlungen Sport:

Aufgaben, Ziele und Inhalte des Sportunterrichts ergeben sich aus dem Auftrag der Schule, den jungen Menschen auf die gesellschaft­liche Wirklichkeit und Weiterentwicklung vorzubereiten, seine Be­gabungen zu wecken und seine Anlagen voll zu entfalten

4. 1980/81 Richtlinien Sport NRW: Band 1

S. 7: Der Sport ist in seinen vielfältigen Formen zu einem bedeutsa­men Bereich der gesellschaftlichen und kulturellen Wirklichkeit ge­worden. Wer Sport betreibt, kann dadurch in verschiedener Hinsicht sein Leben bereichern...

5. 1994 Symposion - Aussagen von Brockmeyer, Rumpff, Beckers, Kurz

a) Brockmeyer:

Gedanken zum Bildungswert von Schulsport: Ist Sport wichtig? Antwort hängt ab vom Bild von Schule (Unterrichtsschule - Schule als Lebens­raum).

1) Veränderungen laufen in Richtung Auffangen der psychischen Si­tuation und Disposition, die Kinder mitbringen. Kann Sport (prädestiniert) das Erziehungsproblem aufgreifen, nicht steuernd, nicht erziehend sondern aus einer im Unterricht gegebenen Aktivi­täts- und Sozialsituation heraus?

2) Veränderungen laufen in Richtung Heterogenität. Bietet Sport nicht einen positiven Erfahrungsraum von Differenzen?

3) Veränderungen laufen in Richtung Verlust von Orientierungs-si­cherheit, also zu mehr Interaktion. Ist Sport nicht ursprünglich Inter­aktion? Kann man hier Teamprozesse im besonderen Maße aktivieren?

4) Lernen trainieren: Ist Sport nicht ein Aktivitätsbereich mit beson­derem Potential für Erleben von Training, von Weiterent-wicklung?

5) Kann der Sport Brücken schlagen in andere Sachbereiche? (z.B. Me­dienerziehung)

6) Können nicht Kulturtechniken wie ”Sich-selbst-sozial-verhalten-können“ und ”Selbstwirksamkeit“ im Sport prädestiniert entwickelt werden?

7) Im Sport kann man prädestiniert deutlich machen, daß man in ei­nem Bedingungsrahmen lernt, arbeitet, Erfahrungen gewinnt.

b) Rumpf

Nachdenken über das Leibrepertoire des Menschen, über seine Tätig­keitsformen: z.B. als Verkehrskörper, z.B. Richtung notwendiger Appa­rateanpassung. Wir müssen uns und unserem Nachwuchs einen Körper anerziehen, der beherrscht funktioniert; Sinne sind dabei notwendige Zulieferagenturen. Was hilfts aber dem Körper, sich und die Welt zu be­herrschen, wenn man die Welt nicht mehr spürt und sich in ihr? Auch in der Schule sind sinnliche Erfahrungen nur Material für Vernunftent­wicklung. Neigt unsere Schule dazu, die leibgebundene Weltberührungen und die daran geknüpften Tätigkeiten zu unterschätzen? Schule zeigt ein Bild starker Unterentwicklung, was die Kultivierung sinngebundener Tätigkeit angeht. Die leibhafte Vernunft wird kaum ernstgenommen. Der instrumentell fügsam gemachte Körper ist unbestrittenes Leitbild der Erziehung. Aber wir machen damit Mangelerfahrungen, auch mit der Vorherrschaft der reinen Vernunft im Sport: mehr herausholen, mehr leisten, mehr ausbeuten! Auch der Sportkörper verkommt im Funktio­nalisierbaren, im Kontrollierten.

Leiberfahrungen, Körpermodellierungen, sinnliche Weltzurichtungen ha­ben aber höchste gesellschaftliche Brisanz.

Leib 1 ist zu verstehen als Instrument der Selbst- und Weltbeherr­schung, der Leib der energischen Leistung und Körperbeherrschung. Er darf aber nicht Leib 2 dominieren. Leib 2 vergegenwärtigt sich im Spiel, in Langsamkeit, im Dar­stellen, in Verfremdungen des Gewohnten, mit meditativen Zügen. Es müssen Gegenerfahrungen zu der fortschreitenden Entsinnlichung des Lebens ausgegraben werden. Dazu gehören spieleri­sche, variierende Grundtätigkeiten, Beziehungen zu Musik, Bildneri­schem, Theater.

c) Beckers

Ruf nach dem Doppelauftrag von Erziehung: Vermittlung realitätsbezo­gener Fertigkeiten und Entwicklung selbständiger Persönlichkeiten.Sport ist nicht nur Ausgleich von Bewegungsdefiziten oder Ersatz für Erfah­rungen. Er ist eine der wichtigsten Quellen für Erfahrung, falls er die Bewegung (und nicht Sportarten) in den Mittelpunkt rückt. Beckers for­dert eine stärkere pädagogische Orientierung des Sportunterrichts, näm­lich neben der Handlungsfähigkeit im Sport den Aufbau eines reflek­tierten, identitätsstiftenden Selbstbildes, also die Wendung von der Sa­che zum Subjekt. Gefordert wird eine realistische Wende zur Lebenswelt der Jugendlichen und ein weiter Sportbegriff. Richtlinien sollten sich an übersportlichen Aufgaben, Bereichen oder Qualifikationen orientieren. Mehrperspektivität bezieht sich auf diese Bereiche und nicht auf Sport­arten.

 

6. 1995 Leipzig

a) Kurz: (Handlungsfähigkeit im Sport)

(Eine Didaktik reduzierter Ansprüche (aus: Elemente des Schulsports))

Pragmatischer Standpunkt, Ernstnehmen der realen Bedingungen (d.h. u.a. Sportarten akzeptieren als bestimmender Faktor für Lehrer, Schüler, Gesellschaft):

Sportunterricht gibt Anleitung zum Handeln in einem relevanten Teilbe­reich unserer Gesellschaft, er gibt also praktische Lebenshilfe. Dabei sollte die Orientierung am Sinn des Sports (Mehrperspektivität) und die Fähigkeit zum sinngemäßen, souveränen Umgang mit seinen Elementen und Regeln grundlegend sein. (Leistung/Spannung(im Spiel u. auch im Wagnis)/Soziales Miteinander/Fitneß und Gesundheit/besondere Erfah­rungen mit dem Körper/Ausdrucksqualität unserer Bewegung).

b) Größing: (Bewegungspädagogisches Konzept)

Schulische Bewegungserziehung steht im Kontext zu der gesellschaftli­chen Bewegungskultur, die jetzt und erst recht in Zukunft nicht eindeu­tig mit Sportkultur gleichzusetzen ist. ”Handlungsfähigkeit im Sport“ nimmt nicht die ganze Fülle der menschlichen Bewegungskultur ins Vi­sier pädagogischer Bemühungen. Der Sport hat seine pädagogische Un­schuld verloren. Der Begriff Bewegungskultur reicht weiter, er bezeich­net jene bewegungskulturellen Handlungen des Menschen, die den Be­reichen der Sportkultur, der Spielkultur, der Ausdruckskultur und der Gesundheitskultur angehören. Er wird als Rückbesinnung auf die Vielfalt der europäischen Bewegungskultur unter Einbeziehung der Sportkultur verstanden. Der Begriff ”Kultur“ ist ein Wertbegriff, der als subjektive Verfassung die gesamte Lebensführung eines Menschen prägt und nach außen hin auch kennzeichnet. Er ist nicht mit Kult zu verwechseln. Ge­fordert wird die bewegungskulturelle Vielfalt, die über Sportkultur hin­ausgeht (die Vielzahl der Sportarten ist eigentlich die Wiederholung des Gleichen), aber auf der Basis von Fundamentalem und Bedächtigkeit. Außerdem wird das joculatorische Prinzip (Zweck im Tun und nicht im Ergebnis) eingefordert (z.B. die ”gauklerischen Bewegungskünste”), wie auch das Prinzip der ökologischen Bedachtsamkeit , das des mitweltli­chen Bewegungshandelns und der Regionalität.

c) Volkamer

Das Wesen des Sports ist geprägt von willkürlicher Schaffung von Pro­blemen, Aufgaben und Konflikten, von Spaß an der Lösung, von Folgelo­sigkeit, Nutzlosigkeit. Sport ist eine auf sich selbst zurückweisende (autotelische) Tätigkeit. Sie dient keinem höherem Zweck. Hier für sich einen Sinn zu finden, ist individuell und freiwillig. Daraust ergibt sich u.a. eine sachimmante Beliebigkeit bzgl. der Auswahl von Unterrichtsin­halten.

Die pädagogischen Wirkungen von Sport ergeben sich aus der Person des Lehrers (Modellernen) und setzen Freiwilligkeit voraus. Daraus ergeben sich konkrete Konsequenzen für den Unterricht. Dabei ist Selbstironie die wichtigste Eigenschaft des Lehrers: Sport ist nur so lange erst zu neh­men, wie er nicht ganz ernst genommen wird.

d) Söll: Sportartenkonzept

Sportarten sind die wesentlichen Bedeutungsträger des Sports und bie­ten die entscheidenden didaktischen Ansätze. Sportarten sind nicht austauschbar und sie müssen gemäß der ihnen eigenen Struktur unter­richtet werden. Es geht um das Eigentliche und Wesentliche des Sports. Die S. sollen erfahren, was der Sport will und was er kann: Sport genügt sich selbst, ist motorische Aktivität, ist auf Optimierung angelegt.

Sport ist der wichtigste Repräsentant der menschlichen Bewegungskul­tur.

3 unaustauschbare Grundverhaltensweisen sind bei der sportlichen Aus­einandersetzung mit Bewegung zu unterscheiden und zu realisieren: 1. Sport im engeren Sinn (Leichtathletik,...) 2. Kunstsportarten (Gerätturnen ...) mit der Nähe zu Bewegungskünsten 3. Sportspiele mit der Nähe zu Bewegungsspielen. (Kontinuum zwischen Bewegungskunst und Bewe­gungsspiel)

1. Leitziel: Einführung in die Bewegungskultur unserer Gesellschaft (=Bewegungsbildung)

2. Leitziel: Gewährleistung einer allgemeinen körperlich/sportlichen Ausbildung (=Körperbildung)

Grundtätigkeiten werden verstanden als allgemeines und sportartüber­greifendes Fundamentum für die Auseinandersetzung mit Bewegungs­problemen als sportlich-künstlerische, sportlich und sportlich -spieleri­sche Bewegung zur Verwirklichung der 2 Leitziele als Beitrag zur Erzie­hung als Gesamtaufgabe der Schule.

e) Funke

Antrophologischer Ausgangspunkt (bei aller Gefahr von Setzungen und Nichtberücksichtigen von Wandel): Sportunterricht ist die Stelle des öf­fentlichen Erziehungswesen, wo Leib und Leiblichkeit des Menschseins thematisiert und behandelt wird. Es geht nur oberflächlich gesehen um Sporttreiben. Pädagogisch gesehen geht es um die Entwicklung funda­mentaler Dimensionen des Leibthemas:

- die Geschicklichkeit und Verfügbarkeit des leiblichen Vermögens (Werkzeugleib)

- die Sinnlichkeit und Sensibilität des leiblichen Wahrnehmens (Sinnleib)

- die Ausdrucks- und Interpretationsqualität des leiblichen Handelns (Symbolleib)

- die Begegnungsfähigkeit im leiblichen Umgang mit anderen (Beziehungsleib)

- das selbst und von anderen wahrnehmbare Körperbild (Erscheinungsleib).

Sportpädagogik ist damit eines jener unverzichtbaren kulturellen Mittel, mit denen wir durch gesellschaftliche Anstrengung dasjenige kompen-sieren, was wir durch andere gesellschaftliche Anstrengungen verlieren - die Gelegenheit, als leiblich verfaßte Menschen zu handeln in einer Welt, deren Bestreben die Entleibung aller Vorgänge und Verhältnisse bildet.

Es geht also im Sport um die mehrdimensionale Thematisierung von Leiblichkeit.

f) Schack Könnensentwicklung

Wir brauchen eine Kultur der Könnensentwicklung im Sportunterricht. Nur so sind z. B. Flow-Erfahrungen und Sinnfindungen möglich.

 

 

7. Grupe 1971 - 1994

a) 1971

Sportpädagogische Aussagen über ”Ganzheit“ und ”Leib-Seele-Einheit“ sind bisher zu ungenau. Der Mensch ist ein vielfältig strukturiertes We­sen und entsprechend zu beleuchten. Auch das Verständnis von ”Spiel“ hat sich gewandelt (mehr als ein Randphänomen).

Scheler: ”Menschsein als unvollendetes Dasein, als ein Sein in Bewegung“. Das Leibliche erscheint als grundlegendes Phänomen menschlichen Le­bens. Der Mensch gilt als ein organisiertes und sich zugleich organisie­rendes Subjekt innerhalb eines komplexen Zusammenhangs von Kräften, Bezügen und Ordnungen, in denen auch seine Leiblichkeit eingefügt ist.

Sich-Bewegen wird als ein Verhalten zur Welt begriffen. Spiel ist ein Raum freien Handels, ist sinnvoll und zweckfrei zugleich, sein Sinn liegt in ihm selbst (happy living).

Der Wandel zur Freizeitgesellschaft bringt mit sich, daß die Sinnerfüllung des Lebens nunmehr auch im Freizeitraum gesucht wird (und nicht al­lein in Arbeit und Beruf). Außerdem wird Bewegungstraining und Bewe­gungsausgleich immer wichtiger (abnehmende körperliche Alltagsbela­stung, zunehmende psychische Belastung).

Bildung kann die Ordnung des Leibverhältnisses nicht auslassen und nicht auf spielerische Züge vezichten.

Sport und Leibesübungen bieten im besonderen Maße Möglichkeiten und Chancen eines wirksamen Bildungsgeschehens.

1. Bildungsmotiv der Leibesübungen: unverwechselbare Erfahrungen und Erlebnisse und damit auch Einsichten. Die Welt bekommt eine ei­gene Bewegtheit, wenn wir uns selbst bewegen oder gelernt haben, uns zu bewegen.

2. Motiv: Gesundheit und Leistungsfähigkeit (asketischer Grundzug)

3. Motiv: Ästhetische Komponente (Orientierung auf künstliche Natür­lichkeit)

4. Motiv: Bildung personaler Tugenden und sozialen Verhaltens (Zwanglosigkeit als Voraussetzung).

5. Motive: Das Spielerische (Befriedigung des erfüllten Augenblicks, Be­reich der Zwecklosigkeit zugänglich machen).

b) 1994:

Beschreibt die Entwicklung des Schulsports in den Stufen 1957:”Empfehlungen zur Förderung der Leibeserziehung an den Schu­len“, 1972 ”erstes” und 1985 ”zweites Aktionsprogramm für den Schul­sport“. 1957: bildungstheoretischer Ansatz (Leib und Spiel), 1972: lerntheoretisch und sportbezogen (Lebenswelt Sport , auch Freizeit­sport), 1985: vermehrt erzieherisch akzentuiert, Sport als Teil des Schullebens.

Heute: Neue Sportlichkeit als Leitbild individueller Lebensstile (Vergnügungssportkultur; Körper-, Gesundheits-, Leistungskult).

Forderung nach Erlebnis, Erfahrung, Können, Leistung und Vielfalt im Schulsport (besonderer Erziehungs- und Erfahrungsraum). Suche nach dem pädagogisch wertvollen, dem ”besseren“ Sport. Ausgangspunkt: Ganzheit und Einheit des Individuums - dazu gehört Bewegung, Spiel und Gesundheit, ebenso der Körper (wichtigstes Erfahrungsorgan, Ziel vieler individueller Sinnbildungsprozesse), auch der Sport (als wesentli­cher Faktor des Lebens und Erlebens in Kindheit und Jugend).

Bildung in und durch Spiel, Bewegung und Sport: Ziel der Selbstgestal­tung und Weltaneignung durch Primärerfahrungen, durch körperliche Bildung, durch Bewegungsvielfalt und durch sportliches Können und sportliche Leistung. Sport als Modell freiwilligen, selbstbestimmten und sozialen Handelns, als kulturelles Anliegen. Bewegung, Spiel und Sport als schulpädagogisches Konzept.

Konsequenzen für den außerunterrichtlichen Schulsport (Schulsportkultur): 

1. Dem Erziehungs- und Bildungauftrag verpflichtet, an der Ganzheit des Menschen orientiert;

2. Möglichkeiten und Eigenständigkeit des außerunterrichtlichen Sports,

3. sinnvolle Eingrenzung des Angebots,

4. Erprobungs- und Entwicklungsmöglichkeiten neuer Bewegungs- und Spielformen,

5. Rahmenbedingungen schaffen,

Sport sollte wieder verstanden werden als Kultur und Kultivierung von Körper und Bewegung, in spielerischen und sportlichen Darstellungs- und Ausdrucksformen.

 

8. Kurz 1994

Handlungsfähigkeit im Sport als Leitidee für die Sek II

1. Erfahrungen mit der Wirklichkeit des Sports ergänzen, erweitern, vertiefen,

2. keine weitreichenden Transfererwartungen als Mittel der Erziehung,

3. Handeln als sinnerprobende, sinnsuchende Tätigkeit, Handlungsfähig­keit als Fähigkeit, Formen des Sports auf Sinnhaftigkeit zu prüfen,

4. Erfahrungen mit Sinnrichtungen(Leistung, Miteinander, Eindruck, Ausdruck, Gesundheit, Spannung) des Sports sammeln (Mehrperspektivität).

5. Aufgabe ist die Anleitung zur Sinnrealisierung,

6. Selbständigkeit der Schüler bei Planung, Durchführung, Auswertung,

7. Bewertung der Schüler nach Handlungsfähigkeit im umfassenden Sinn.

Folgerung ist die thematische Ausrichtung von Grundkursen:

Bspl 1: Ausdruck, Bspl 2: Gesundheit, Fitneß, Körperwahrnehmung, body-styling, Bspl 3: Wir suchen unser Spiel, Bspl 4: Natur und Gemeinschaft erleben, ohne sie zu gefährden.