Differenzierung: Jeder wie er will?!
Ein Unterrichtsbeispiel
"Schon wieder turnen, immer das
Gleiche!" - Selbst dieser Schreckensruf älterer Schülerinnen und Schüler
wird heutzutage kaum noch gehört. Viele Schülerinnen und Schüler müssten
vielmehr fragen: "Was ist überhaupt Turnen?" - denn an welchen
Schulen wird noch intensiv geturnt? Dabei ist hinlänglich geklärt, wie wichtig
Klettern, Hangeln, Schwingen, Drehen, Schaukeln, Stützen, Klimmen für eine
allumfassende körperliche und psychische Entwicklung von Kindern und
Jugendlichen ist. Wenn allerdings Langeweile, Frustration, Überforderung den
Unterricht im Turnen bestimmen, helfen alle guten Absichten nicht.
Dass es auch ganz anders geht, dass man auch mit
älteren Schülerinnen und Schülern abwechslungsreich und individuell angemessen
an Geräten turnen kann, ohne den Spaß zu verlieren, sollen die folgenden
Ausführungen belegen.
Die
Klasse und ihre Vorerfahrungen im Turnen
Die 9 Schülerinnen und 14 Schüler der Klasse 10
hatten bereits einige Erfahrungen mit dem Turnen an Geräten. Sie wurden seit der
Klasse 5 mit verschiedenen Formen des freien Turnens vertraut gemacht, sie
nahmen an einigen Bundesjugendspielwettkämpfen im Gerätturnen teil, kannten
Partnerturnen, Synchronturnen und andere Formen turnerischen Bewegens. Thomas[1],
Sören, Birgit und Maike hatten daraufhin sogar den Weg in die
Turn-Arbeitsgemeinschaft der Schule gefunden. Andere, wie der hochgewachsene,
etwas schlacksig wirkende Tischtennisspieler Jan oder die kräftigere
Tennisspielerin Anna, konnten und wollten dieses Engagement nicht teilen. Aber
auch sie hatten erfahren, dass es durchaus Herausforderungen im Turnen gibt,
die sie persönlich ansprechen und zur Bewältigung reizen können.
Die
Unterrichtsidee
Unter den oben beschriebenen Voraussetzungen
wurde eine Unterrichtsreihe entworfen, in der die verschiedenen Sinnrichtungen
turnerischen Bewegens (s. dazu (4)) deutlich gemacht und individuell genutzt
werden sollten. Die Idee war, jede Schülerin und jeden Schüler erleben und
erfahren zu lassen, welche Ausprägung des Turnens für sie besonders geeignet
und interessant ist, und wie man durch konsequentes Üben zu einem ansprechenden
Niveau gelangen kann. Alle Schülerinnen und Schüler sollten ein Angebot verschiedenster turnerischer Aufgaben
erhalten, aus denen sie eine für sich auswählen sollten, um sie dann im
Unterricht beharrlich zu bearbeiten und zu einer Demonstration oder Vorführung
zu bringen. Dementsprechend war notwendig, aber auch zu erwarten , dass in den
Unterrichtsstunden sehr Unterschiedliches geturnt wird, dass die Schülerinnen
und Schüler vermehrt Eigenverantwortung zeigen, dass der Lehrer eher
Berater ist als Initiator und
Organisator, dass viele Anregungen zum Üben und Gestalten Material gestützt
gegeben werden. Es wurde folgender Ablauf des Unterrichts geplant:
1. Stunde: „Wir
turnen gemeinsam - und das intensiv”
Erfahren und
Begreifen von Möglichkeiten des partnerbezogenen Turnens; Klären der vielfältigen
Herausforderungen des Turnens; Vorbereiten auf die individuelle Wahl der
Aufgabe für die folgenden Stunden
2./3. Stunde: „Wir
setzen uns in unserer Gruppe unsere Grobziele”
Zusammensetzen
der Gruppen; Festlegen von Kriterien
für effektive Gruppenarbeit; Klären der
speziellen Aufgabe der Gruppe; erstes
praktisches Auseinandersetzen mit der Aufgabe; Vorbereiten auf die Wahl der
eigenen Kriterien für die Lösung der Aufgabe
4. Stunde: „Wir
sammeln weitere Bewegungsmöglichkeiten, üben und verbessern unser Können”
Festlegen
der Kriterien für die Lösung der
Aufgabe in Absprache mit Partnern;
Einleiten der eigenständigen Übungsprozesse; Nutzen von unterschiedlichen Anregungen (durch Partner, durch
Bilder, durch Literatur, durch Video, ...)
5./6. Stunde: „Wir
üben und verbessern unser Können und unterstützen uns gegenseitig”
Verstärken des
systematischen Übens, des gegenseitigen Helfens und Beratens; Erfahren und
Begreifen des Nutzens der Gruppenarbeit; Erkennen der speziellen Anforderungen
der selbstgewählten Leistungskriterien
7. Stunde: „Wir
üben und verbessern unser Können”
Zielgerichtetes Üben unter den selbstgewählten
Leistungskriterien; Erleben von Beharrlichkeit und Systematik als wichtige
Erfolgsvoraussetzungen; Festlegen der Aufgabenlösung
8./9. Stunde: „Wir
üben und verbessern unsere Übungen und zeigen sie Partnern zur Beratung”
Üben unter dem
Aspekt der nahenden Bewährung; Lernen, sich anderen zu präsentieren; sich
Weiterentwickeln, andere zu beraten und
Rat von anderen anzunehmen; Setzen von Zielen zur Verbesserung des bisher
Erreichten
10. Stunde: „Wir
bereiten uns auf die Demonstration und Vorführung des Geübten vor”
Absprechen der
letzten Übungsinhalte innerhalb der Gruppe; letztes Üben; letztes Klären der
Form und Gestaltung der Präsentation
11./12.
Stunde: „Wir zeigen unser Können”
Demonstrieren
und Vorführen des Geübten; Auswerten der Unterrichtssequenz; Erfahren und
Begreifen der Unterschiedlichkeit von turnerischen Leistungsmöglichkeiten;
Wecken von Neugier auf weitere bzw. andere turnerische Erfahrungen; Begreifen
der Gleichwertigkeit unterschiedlicher sportlicher Leistungen
Im
Turnen vielfältige Herausforderungen erkennen
In Vorbereitung auf eine Angebotswahl für alle
Schülerinnen und Schüler wurde in der ersten Stunde der Unterrichtsreihe die
Vielfalt turnerischen Bewegens in den Mittelpunkt gesetzt. Unter dem Motto:
"Wir turnen gemeinsam - und das intensiv" wurde an einer
Gerätekombination (s. Abb. 1, aus (3, S. 252)) mit allen Schülerinnen und
Schülern geturnt, um sie so wieder an Sprunggeräte und einfache Bewegungsformen
zu gewöhnen, aber auch, um die Basis zu bilden, über individuelles und gemeinschaftliches
Turnen reflektieren zu können. Gemeinsam wurde im Gespräch geklärt, welche
Herausforderungen man im Turnen suchen und annehmen kann, nämlich u.a.:
-
Wagnisse eingehen,
-
Kraft ausbilden,
-
sich rhythmisch bewegen,
-
sich "ästhetisch" bewegen,
-
Vielseitigkeit zeigen,
-
erfinderisch sein,
-
gestalten,
-
wettkämpfen,
-
vorführen,
-
sich gemeinsam bewegen.
Danach ergab sich die Frage, wie man trotz aller
Unterschiede gemeinsam turnen kann.
Es wurde festgehalten:
-
indem man nach Möglichkeiten des gegenseitigen
Helfens und des miteinander Turnens sucht,
-
indem jeder die eigenen Stärken und Schwächen
kennt und offenlegt,
-
indem man andere in ihren Fähigkeiten
unterstützt,
-
indem man sich auf Vorschläge anderer einläßt,
-
indem Lösungen gesucht werden, bei denen jeder
in seinen turnerischen Grenzen bleiben kann.
Aufgaben
für sich auswählen
Welche verschiedenen Angebote und
Aufgabenstellungen sollten die Schülerinnen und Schülern in dieser Altersstufe
nun erhalten? Bei unterschiedlichen Vorerfahrungen, Neigungen und körperlicher
Voraussetzungen konnte es nicht darum gehen, die Vielfalt der
Auswahlmöglichkeiten nur durch verschiedene Geräteangebote zu gewährleisten. Es
sollten deutlich unterschiedliche Intentionen zur Wahl gestellt werden:
-
einen Wettkampf turnen,
-
an einem bekannten Gerät partnerbezogen
gestalten und turnen,
-
wagnisbetont an einem unbekannten Gerät turnen,
-
unter dem Aspekt der Kraftschulung turnen,
-
kreativ und spielerisch mit anderen turnen und
vorführen.
Es kam unter Berücksichtigung der bisherigen
Erfahrungen mit der Klasse zu 5 Angeboten, die in einem Fragebogen zur Auswahl
gestellt wurden (s. Abb. 2). Außerdem sollten die Schülerinnen und Schüler
selbst Vorschläge machen, falls ihnen diese Angebote nicht entsprachen.
Nach der Auswertung der Fragebögen ergab sich,
dass niemand das Angebot 3 (Turnen am unbekannten Hochbarren) gewählt hatte.
Offensichtlich waren zu diesem Angebot die erläuternden Hinweise des Lehrers
nicht ausreichend, um Neugier und Mut zu wecken.
Da von Schülerseite keine neuen Vorschläge
entwickelt worden waren, wurden entsprechend der Wahl 4 Gruppen mit gleichem
Interesse gebildet:
Gruppe A (3
Jungen und 2 Mädchen) wählte den Wettkampf.
Gruppe B (6 Mädchen) suchte sich Partnerturnen am Schwebebalken aus.
Gruppe C (5 Jungen) entschied sich für die
Kraftschulung am Doppelreck.
Gruppe D (6 Jungen und 1 Mädchen) fand ihre
Herausforderung in der Erarbeitung einer Clownnummer.
An dieser Stelle sei erwähnt, dass ein Junge der
Attraktivität der Sprungaufgabe nicht widerstehen konnte und nach 2
Unterrichtsstunden von Gruppe C in die Gruppe D wechseln wollte, was die betroffenen
Schülerinnen und Schüler auch zuließen.
Festlegen
der Gruppenziele und der Gruppenarbeit
In der folgenden Unterrichtseinheit galt es, die
Gruppenprozesse in Gang zu bringen. Sie lief unter dem Motto :"Wir setzen
uns in unserer Gruppe unsere Grobziele". Dazu sollte geklärt werden, welche
Aufgabe jede Gruppe konkret hat, welche Facetten die Aufgabenstellung
beinhaltet, welche Möglichkeiten es gibt, diese Aufgabe optimal zu lösen. Es
mussten Lösungsstrategien entwickelt werden und es wurde mit einer
Stoffsammlung unter dem Motto "Was kann ich schon, was können wir
gemeinsam, was können wir noch lernen?" begonnen. Es galt, individuelle
Neigungen, Stärken und Schwächen aufzudecken und turnerische Vorerfahrungen
einzubringen.
Der Unterricht begann mit einer kurzen
Wiederholung und Vertiefung der in der letzten Stunde auf einem Plakat
festgehaltenen Erkenntnisse. Es wurden die Räume für die einzelnen Gruppen festgelegt
und die entsprechenden Geräte aufgebaut. Vor dem Aufwärmen und vor dem
praktischen Austesten von Bewegungsmöglichkeiten mussten noch Arbeitskriterien
und Regeln für das selbständige Üben festgelegt werden:
-
Jede Gruppe wählt einen Gesprächsführer und regelt das schriftliche Festhalten von
Zwischenergebnissen
-
Jeder einzelne kümmert sich um Anregungen und
Ideen, um die Nutzung von Informationsmaterial
-
Jeder einzelne muß jedem anderen der Gruppe
Unterstützung bieten bzw. kann jederzeit Unterstützung einfordern
-
"Waghalsiges" sollte nicht ohne
Rücksprache mit dem Lehrer geturnt werden
-
Jedes Gruppenmitglied ist für den sicheren
Ordnungsrahmen mitverantwortlich
-
Funktionelle Sportkleidung ist aus
Sicherheitsgründen unerläßlich.
Die Phase des Testens, Ausprobierens und
Sammelns von ersten Ideen wurde mit der Verteilung der genau festgelegten
Aufgabe eingeleitet. Sie war schriftlich fixiert, um jederzeit präsent zu sein
und um detailliertere Anweisungen und Organisationshinweise deutlich machen zu
können (s. Abb. 3, hier ist beispielhaft das Arbeitsblatt für die Gruppe 2
abgebildet).
Schon in dieser ersten Begegnung mit der
ausgewählten Aufgabe wurde deutlich, dass in jeder Gruppe andere Arbeitsweisen
notwendig waren. Die Gruppe A
frischte ihr altes Können auf, probierte vorwiegend Einzelteile an verschiedenen
Geräten, unterstützte sich durch Helfen und Beraten. Nach und nach wurden auch
einfache Verbindungen geturnt, um sie in einer später zu entwerfenden Kürübung
einbauen zu können.
Die Gruppe
B begann sofort mit parnterbezogenen Bewegungsformen. Alle sechs
Schülerinnen arbeiteten eng zusammen,
man turnte vor, beriet sich, probierte am Boden gewagtere Teile und versuchte
sich auch vorsichtig am hohen Schwebebalken.
Die Gruppe
C baute die Doppelreckstation auf und probierte aus, welche Möglichkeiten
an dieser Station für das Turnen unter dem Aspekt der Kraftschulung existieren.
Nach und nach wurden Bank, kleiner Kasten und Medizinball hinzugenommen, um ein
größeres Bewegungsrepertoire zu schaffen.
Die Gruppe
D musste sich erst als Gruppe organisieren. Es wurde ein „Chef” gewählt,
der die Leitung und Gesprächsführung übernehmen sollte. Eine Sprungstation aus
Minitrampolin und 2 nebeneinanderstehenden Kästen mit aufgelegter Matte wurde
aufgebaut und durch Weichböden gesichert. Nach längerer Diskussion einigte man
sich auf eine Rahmenhandlung für die Clownnummer: Es sollte auf lustige Weise
ein Gefängnisausbruch dargestellt werden, der von zwei Polizisten beobachtet
wird und zu einer wilden Verfolgungsjagd über das Sprunggerät führt. Alle
Ausbrecher sollten zu Beginn aus den Sprungkästen - dem Gefängnis - klettern,
um dann von den Polizisiten entdeckt zu werden. Man verteilte unter den
Mitgliedern die Rollen der Ausbrecher und Polizisten. Danach teste jeder seine
Fähigkeiten am Minitramp, um die nötige Sicherheit für spätere risikoreiche
Sprünge zu gewinnen.
Es wurde schon in der ersten Stunde deutlich,
dass für jede Aufgabe, selbst auch bei der Verfolgung individueller Ziele, der
Rückhalt und die Zusammenarbeit in der Gruppe von großer Bedeutung sind.
Am Schluß der Unterrichtseinheit wurde folgende
Hausaufgabe gestellt: "Jede Gruppe fixiert die bisherigen
Arbeitsergebnisse schriftlich. Jeder einzelne füllt den Fragebogen 'Meine
geplante Leistung - meine Leistungskriterien' aus" (s. Abb. 4). Sinn war
es, in aller Ruhe zuhause sich über das bisher Erreichte Gedanken zu machen,
neue Ideen zu sammeln und Klarheit über die eigenen Vorstellung zu gewinnen,
unter welchen Aspekten man am liebsten turnen wollte. Die Wahl der Kriterien
für die eigene Leistung sollte aber nur vorläufigen Charakter haben und auch
mit denjenigen abgestimmt werden, mit denen man gemeinsam partnerbezogen turnen
wollte. Endgültig mussten sie erst im Laufe des Übungsprozesses festgelegt
werden. Diese Kriterien sollten dann die Grundlage für die Leistungsbeurteilung
am Ende der Unterrichtssequenz bilden.
Individuelle
Beurteilungskriterien festlegen
Auf dem ersten Blick scheint es für den
Außenstehenden sicher paradox, Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit
einzuräumen, die Grundlagen für die Beurteilung der eigenen Leistung selbst
festzulegen. Auf dem zweiten Blick sollte aber deutlich werden, dass hier nicht
der Beliebigkeit und Ungerechtigkeit das Wort geredet wird. Was ist durch die
schriftliche Festlegung der eigenen Beurteilungskriterien eigentlich anderes
geschehen als im üblichen Bewertungsverfahren? Normalerweise stellt der
Lehrer eine Aufgabe, nennt die von ihm
ausgewählten und für alle gleichen Beurteilungskriterien der zu erarbeitenden Lösung
und wandelt den Grad der Erfüllung dieser Kriterien in eine Bewertung, ja u.U.
sogar direkt in eine Note um. Hier dagegen sind aus einem vom Lehrer
aufgestellten Kanon an Beurteilungskriterien nicht vom Lehrer sondern vom
Schüler selbst eine vorgegebene Anzahl von Beurteilungskriterien ausgewählt
worden. In beiden Fällen ist somit bekannt, unter welchen ausgewählten Aspekten
Entwickeln, Lernen, Üben, Kooperieren, Helfen und Demonstrieren stattzufinden
hat. Der zweite Fall bietet deshalb nur einen geringen graduellen, aber durch
seine deutlichere Schülerorientierung doch wesentlichen Unterschied zur
üblichen Leistungsbeurteilung. Er eröffnet nämlich die viel größere Chance,
dass die ausgewählten Kriterien zu jedem einzelnen optimal passen und die individuellen
Neigungen und Voraussetzungen getroffen werden. Die Leistungsbeurteilung wird
sogar einfacher, denn die gezeigte Leistung muß nur im geringen Maße durch die
Berücksichtigung des individuellen Lernfortschritts und der körperlichen
Voraussetzungen relativiert werden. Die Beurteilung wird damit auch ein Stück
gerechter, was für die Schüler - wie der Unterricht zeigte - durchaus
nachvollziehbar war und von ihnen begrüßt wurde.
Bewegungsrepertoire
aufbauen
In den folgenden Stunden wurden unter Kenntnis
der genauen Aufgabenstellung, der zugehörigen Beurteilungskriterien und des
zeitlichen Rahmens partnerschaftlich turnerische Bewegungen entwickelt, geübt,
verbessert und gestaltet. Das ging nicht immer reibungslos und natürlich nicht
immer mit größtem Einsatz, schließlich können Freiheiten auch verführen, sich
etwas bequemer einzurichten. Man schaute gelegentlich den anderen Gruppen beim
Üben zu, bedauerte vielleicht auch ab und an, dass man sich nicht für diese
andere Aufgabe entschieden hatte, mit der die Gruppe so kooperativ und
freudvoll umgeht. Insgesamt aber entstand ein Unterrichtsklima, dass von
Probieren, gezielten Absprachen, von
konzentrierter Arbeit, gegenseitiger Unterstützung und auch Spaß am Üben
gekennzeichnet war.
Wie konnte es zu dieser positiven Arbeitshaltung
kommen, wenn doch das Repertoire an Vorerfahrungen für die vielfältigen
Aufgaben deutliche Grenzen hatte und die Unterrichtsprozesse nicht deduktiv
gesteuert wurden? Zum einen zeigte sich, dass für die selbständige
Gruppenarbeit die Ausführlichkeit der Aufgabenstellungen notwendig und
hilfreich war. Zum anderen konnte und wollte der Lehrer sich nicht aus allen
Prozessen heraushalten. Arbeitsschritte wurden angeregt, auf Sicherheitsmaßnahmen
wurde hingewiesen und es wurden auch gewünschte methodische Hilfen gegeben. Um
aber seine eigentliche Rolle des Moderators und Gesamtverantwortlichen nicht
aufgeben zu müssen, mussten die wesentlichen Anregungen Material gestützt
erfolgen. Die Gruppen erhielten Fotokopien von Bildern mit für sie interessanten
Bewegungsfertigkeiten und Gerätearrangements. Lehrbücher mit hilfreichen
Abbildungen und Textpassagen (u. a. (1), (2), (3), (5)) wurden verteilt und in
den Gruppen besprochen. Einige Schülerinnen und Schüler verlangten sogar nach
weiteren Informationen und nahmen zusätzliche Unterlagen mit nach Hause. Es gab
also ausreichend Gelegenheit, neue Anregungen zu bekommen und sich mit
interessanten selbstgewählten Herausforderungen nachhaltig auseinanderzusetzen.
Die Gruppen
A und B arbeiteten von Beginn an intensiv, konzentriert und selbständig.
Hier war es offensichtlich selbstverständlich, kooperativ zusammenzuarbeiten.
Schnell fanden sich Partner mit gleichen Interessen. In der Gruppe B entstand
außerdem die Idee, nicht nur zu zweit sondern auch gemeinsam mit allen sechs
Schülerinnen etwas am Schwebebalken vorzuführen.
Dagegen bereitete das Zusammenstellen einer Folge von Kraftübungen am Doppelreck den
verbliebenen vier Jungen der Gruppe C
unerwartet Schwierigkeiten. Der Lehrer musste mehr als geplant Anregungen für
geeignete Übungen geben, an das mögliche Einbeziehen von Bank, kleinem Kasten,
Medizinball erinnern, auf Verbindungen zwischen einzelnen Elementen hinweisen
und auf Variationsmöglichkeiten der Belastungen aufmerksam machen. Nicht anders
zu erwarten war allerdings, dass zum Teil Kraftübungen ausgesucht wurden, die
bezüglich ihrer Wirbelsäulenbelastung und ihrer Funktionalität problematisch
waren, so dass die fachliche Beratung durch den Lehrer notwendig wurde.
Für die Gruppe
D, die eine Clownnummer zusammenstellen wollte, wurde eine
Videoaufzeichnung bereitgestellt, in der eine Karneval-Kindergruppe lustiges
Springen am hohen Seitpferd demonstrierte, und eine andere, in der Kunstturner
eine professionelle Schauvorführung zum Springen am Kasten zeigten. Diese
Videoaufzeichnungen brachten einen erheblichen Motivationsschub für die Schüler
und auch unabhängig vom Lehrer viele Anregungen für die dramatische Gestaltung
und "Verpackung" einer lustigen Turnvorführung. Schon auf dem
Aufgabenzettel war angeregt worden, jedem Gruppenmitglied eine Rolle zuzuweisen,
um entsprechende Ideen für die Vorführung zu gewinnen. Je nach
schauspielerischem Talent ergaben sich daraus tatsächlich einige interessante
Einfälle für dramaturgische Szenen. Für den Lehrer blieb vorwiegend die Aufgabe,
zu risikoreiche Versuche rechtzeitig zu unterbinden und entsprechende
Vorübungen vorzuschlagen.
Die
Präsentation der Aufgabenlösung vorbereiten
Als der Termin der Präsentation näher rückte,
nahm das Engagement von allen zu. Einige merkten, dass manche Übungschance
nicht optimal genutzt worden war und verfielen in Übereifer. Andere
demonstrierten bewusst Gelassenheit. Trotzdem stellten auch sie immer wieder
Rückfragen an Mitschüler anderer
Gruppen und an den Lehrer bezüglich der bisher erreichten Qualität ihrer Aufgabenlösung.
Spätestens jetzt wurde allen klar, dass eine Präsentation der Arbeitsergebnisse
mehr ist als ein Vorzeigen gelernter Einzelteile. Beeindrucken wollte jede
Gruppe, also wollte man sich etwas Außergewöhnliches ausdenken. Es wurde eine
Generalprobe gewünscht und entsprechend ernsthaft durchgeführt. Letzte Hinweise
auf Verbesserungsmöglichkeiten wurden durch Mitschüler gegeben und im
anschließenden Übungsprozess berücksichtigt.
Leistungen
zeigen, einschätzen und bewerten
Üben hat nur dann einen Sinn, wenn es auch zu
einer Anwendung und Bewährung kommt. So waren Schülerinnen, Schüler und Lehrer
gespannt, welche Leistungen von den einzelnen Gruppen in der Präsentation
gezeigt werden. Neben dem zu erwartenden Spektakel durfte aber nicht aus dem
Blick geraten, welche Intentionen in den vergangenen Unterrichtsstunden von
zentraler Bedeutung gewesen waren.
Zu den Vorführungen jeder einzelnen Gruppe
wurden Teams der Zuschauenden gebildet, die unter bestimmten Kriterien die
Leistung beurteilen sollten, um jeweils zu einer detaillierten Auswertung mit
allen gelangen zu können.
Die Gruppe
A begann mit ihrem Wettkampf. Jeder einzelne turnte an drei Geräten seine
Kürübungen. Beurteilungsgrundlage bildete neben den selbstgewählten
Beurteilungskriterien die Ausschreibung der Bundesjugendspiele Gerätturnen. Das
Kampfgericht wurde aus den übrigen Schülern zusammengesetzt (s. Foto 1). Der
Lehrer blieb im Hintergrund, um bei eindeutigen Missverständnissen oder
Fehlbeurteilungen klären zu können. Man stellte in der Auswertung fest,
dass die Schülerinnen und Schüler
dieser Gruppe bei der Vielzahl der Anforderungen eigentlich mehr Zeit zum Üben
hätten haben müssen, dass sie allerdings die Aufgabe mit Bravour erfüllt
hätten, da sie alle eine gute Ausgangsbasis im motorischen Können von Beginn an
besessen hätten. Für diese Gruppe ergab sich im nachhinein noch die
Möglichkeit, an den von der Schule für die Klassen 5 - 8 veranstalteten
zentralen Bundesjugendspiele im Gerätturnen teilzunehmen und dort Urkunden zu
erringen.
Die Gruppe
B ließ sich in ihrer Präsentation etwas Besonderes einfallen. Man turnte zu
zweit auf einem Balken mit direktem
Partnerbezug (s. Foto 2), dann auf zwei Balken
unterschiedlicher Höhe paarweise synchron und schließlich unter Einbezug des
Bodens an zwei Balken zu sechst. Insgesamt war eine geschlossene Vorführung von
allen entstanden, die nicht so sehr durch Schwierigkeiten bestach, vielmehr
ihre Stärke in der Originalität der Teile und des Partnerbezugs, im
rhythmischen Bewegen und im Bewegungsfluß besaß. Die beobachtenden Schülerinnen
und Schüler hatten hier die Gelegenheit, sich diese Vorführung zweimal
anzusehen, um einmal die Gesamtkomposition zu würdigen und um dann zu einer
präziseren Beurteilung ausgewählter Beurteilungskriterien zu gelangen. Man
stellte fest, dass hier unter ganz anderen Kriterien geübt worden war als in
der Gruppe A. Man erkannte die gestalterische Leistung, die Originalität der
Partnerbezüge und das Bemühen um Ästhetik in der Bewegung. Dass nicht alles
gelang, dass durchaus auch von Schülerin zu Schülerin Leistungsunterschiede
bestanden, war den Mitgliedern der Gruppe B selbst deutlich geworden und musste
nicht weiter vertieft werden.
Die vier Jungen der Gruppe C hatte sich im Übungsprozess anfangs etwas schwer getan und
vermehrt Anregungen benötigtet. Nach und nach hatten sie aber Geschmack an
ihrer Aufgabe gewonnen. Mit wachsendem Repertoire waren sie erfinderischer
geworden und hatten schließlich eine Bewegungsfolge zusammengestellt, die sie
paarweise vorführten.
Sie zeigten nacheinander eine Kraftübung an
einer Gerätestation aus Doppelreck, kleinem Kasten und Bank, in der
Aufschwünge, Klimmzüge, Liegestütze,
Bankdrücken und Kastenstemmen
enthalten waren (s. Foto 3). Sie nannten dabei die jeweils belasteten Muskeln
und bemühten sich, die Übungen funktionsgerecht auszuführen. Hier wurde den
Mitschülern deutlich, dass Geräte durchaus mehrdeutig einsetzbar sind. Sie
bekamen demonstriert, dass mit einfachen Übungen viele Muskelgruppen sehr
unterschiedlich angesprochen werden können, dass auch turnerische Elemente zur
Kraftschulung dienlich sind und in ihrer Vielfalt einen guten Ersatz für ein
monotones Kraftraining bieten können.
Die Clownnummer der Gruppe D stellte natürlich den Höhepunkt der Präsentation dar. Man
hatte sich eine passende Musik zur Unterstützung gewählt, verschiedene Rollen
unter sich verteilt (der "Chef", der "Trottel", die
"Geschickte", der "Ungeschickte", der
"Ängstliche", der "Prahlhans", der "übereifrige Poli-zist",
der "verschlafene Polizist") und unterschiedlich schwere
Bewegungsteile ausgedacht, die allein, zu zweit oder zu mehreren geturnt werden
konnten (s. Foto 4). Eine Menschenpyramide schloß die turbulente und zum Teil
auch recht waghalsige Vorführung ab. Der Beifall war groß, die Stimmung entsprechend. Da störte eigentlich eine
Leistungsbeurteilung. Deshalb wurde nach der Vorführung mit allen Zuschauern
nur über die Gesamtkonzeption gesprochen. Es wurde das waghalsige Turnen
bewundert, die Musikuntermalung gelobt aber noch nicht für optimal empfunden,
die Kostümierung begrüßt, aber die Dramaturgie des Aufbaus kritisiert. Allen
war klar, dass die Vorführung sicherlich noch nicht gut genug war, um sie vor
einem größeren Publikum z.B. im Rahmen eines Schulfestes vorzuführen. Gemeinsam
wurde darüber nachgedacht, welche dramaturgischen Veränderungen man vornehmen
könnte, um zu einer noch größeren Wirkung zu gelangen. Man schlug vor, dass die
Polizisten auf ihrer Verfolgungsjagd zwar von Misserfolg zu Misserfolg geraten
sollten, aber auf keinen Fall eine Rangelei mit den Ausreißern eingehen
dürften. Dies wäre nicht lustig und auch nicht spannend. Die Ganoven sollten am
Schluß durch irgendeinen Trick alle auf einmal eingefangen und abgeführen
werden. Es kam der Vorschlag, die Ausreißer z. B. durch eine fiktive
Straßensperre so „umzuleiten”, dass diese in einem bereitstehenden Barren
landeten, den man dann - eventuell sogar mit einem Blaulicht versehen - als
voll besetzten Gefängniswagen wegrollen könnte.
Nach dieser kurzen Diskussion wurde noch einmal
geturnt und zwar diesmal mit dem neuen Schluss und unter genauer Beobachtung
jedes einzelnen, wie er seine ihm zugewiesene Rolle spielte und wie er die
selbstgewählten Leistungskriterien einlöste. So ergaben sich anschließend noch
einige Verbesserungsvorschläge und Tips für spektakuläreres Auftreten.
Nach den vielfältigen Eindrücken aus den
verschiedenen Vorführungen war es selbstverständlich, noch einmal über die
verschiedenen Sinnrichtungen des Turnens gemeinsam nachzudenken. Man hatte
erlebt, dass Leisten im Sport sehr unterschiedliche Gesichter hat, dass jeder
eine für ihn passende Herausforderung gesucht und gefunden hatte. Es wurde
hervorgehoben, wie wichtig zielgerichtes und beharrliches Üben ist. Die Partnerarbeit
wurde dabei als besonders motivierend bezeichnet. Es wurde insgesamt
festgehalten, dass
-
verschiedene Herausforderungen des Turnens jeden
verschieden anspricht,
-
Leistungen im Turnen und im Sport allgemein sehr
unterschiedlich vollbracht werden können,
-
unterschiedliche Leistungen durchaus
gleichwertig sein können,
-
Üben immer unter ausgewählten Kriterien
stattzufinden hat,
-
Üben nur durch Beharrlichkeit und Systematik
Fortschritte bringt,
-
die Zusammenarbeit mit anderen förderlich für
die eigene Leistung ist.
Ausblick
Sicherlich bedeutete der angelegte hohe
Differenzierungsgrad des Unterrichts eine umfangreichere Vorbereitung der Reihe
als üblich. Andererseits nahm für den Lehrer die Belastung in den Unterrichtsstunden
ab. Hier hatte er zu beraten, zu beobachten, Mut zu machen, anzuregen,
aber nicht ständig zu organisieren, zu
initiieren, zu disziplinieren, zu motivieren. Außerdem sind einmal entworfene
Materialien ein Fundus sowohl für folgenden eigenen Unterricht als auch für den
Austausch mit aufgeschlossenen Fachkollegen! Wesentlich aber für den Erfolg
einer Unterrichtsreihe ist der motorische, kognitive, emotionale und soziale
Gewinn für jede einzelne Schülerin und jeden einzelnen Schüler. Statt einer
rückblickenden Bewertung des Unterrichts sollen nur zwei spontane Äußerungen genannt
werden, Jan:"Ich hätte gern noch weiter an der Clown-Nummer gearbeitet.
Könnten wir sie nicht beim nächsten Schulfest vorführen?" und Anna:"Ich fand es ausgesprochen
hilfreich und angenehm, wie mich Birgit und Maike beim Balkenturnen unterstützt
haben. Ich habe von beiden viel gelernt!"
Literatur:
1.
Bruckmann, K., Bröcker, H., Bruckmann, M.: Gerätturnen Jungen, Berlin 19923
2.
Bruckmann, Marita: Gerätturnen Mädchen, Berlin 19897
3.
Bruckmann, Marita: Wir turnen miteinander, Stuttgart 1990
4.
Bruckmann, Marita: Gerätturnen in der Schule heute: Aus wenig viel machen! In
Sportunterricht 42. Jahrg. 1/1993, S. 3 - 23
5.
Bruckmann, M., Dieckert, J., Herrmann, K.: Gerätturnen für alle, Celle 1991
6.
Kultusminister des Landes NRW und AOK in NRW: Gesundheitserziehung in der
Schule durch Sport, Handreichung für die Sekundarstufe I. Speziell: Turnen -
den Körper beherrschen und Bewegung erleben; Materialien zum Turnen. Bonn 1990