Detailurteil - Hintergrund

Einzelbeurteilung der kontroversen Positionen

 

Einzelbeurteilung der kontroversen Positionen (nach oben)

Nachdem die quaestio iuris und die quaestio facti in einem ersten Durchgang beantwortet worden sind, werden in diesem Arbeitsvorgang beide Perspektiven schrittweise aufeinander zugeführt: Es ist zu klären, welche der normativ relevanten Tatbestände aufgrund der Sachverhaltsanalyse als gegeben angesehen werden können, welche nicht. (1) Die rechtserheblichen Tatsachen ergeben sich a) aus der Normhypothese gemäß dem modus ponens (siehe Stadium 3) und b) aus der normativen Beurteilung der Folgeerwartungen von Sachverhaltszusammenhängen gemäß dem modus tollens. Mit dieser Schlußweise können neue Sachverhalte und ihre Folgen in die Normhypothese eingeordnet werden. (2) Die hier erforderliche Arbeit ist eine Art Feinabstimmung zwischen normativen Vorgaben und Sachverhaltsaussagen über die Wirklichkeit (zutreffende Z-A-S-Relationen). In den einzelnen Werturteilen ist dabei festzustellen, welche der theoretisch-technisch möglichen Z-A-S-Relationen - gemäß der Prüfregel des kategorischen Imperativs - eher gewollt sein kann als die anderen. Diese iterative Approximation (3) zwischen Normhypothese und Sachverhaltsaussagen ist notwendig, um die Normhypothese auf den vorliegenden Fall anwendbar zu machen und neue Handlungsalternativen unter praktischen Gesichtspunkten beurteilen zu können. Die Fortschreibung der Normhypothese umfasst die Einzelbewertung neuer Sachverhalte.
Der Vorteil dieser partiellen Vorgehensweise besteht darin, dass zunächst Punkt für Punkt die kontroversen und widersprüchlichen Aussagen über die Wirklichkeit hinsichtlich der normativ relevanten Tatsachen "abgetastet" (4) und neue Sachverhalte wie auch die Folgeerwartungen normativ eingeordnet werden; (5) die Fülle dieser einzelnen Werturteile ist die Basis für das Gesamturteil. (6) Falls notwendig, kann erneut in das Stadium der Beweisaufnahme eingetreten werden. Die Unterschiede zwischen Sach- und Werturteil (Seinsaussagen und Sollensaussagen), die in den Stadien 3, 4 und 5 deutlich wurden, sollten sorgfältig beachtet werden, um naturalistische und normativistische Fehlschlüsse zu vermeiden. Zwischen den drei Stadien bestehen keine linearen, sondern zirkuläre Beziehungen; sie können mehrfach durchlaufen werden, bis der gewünschte Grad der Annäherung erreicht ist. Durch iterative Approximation wird das sachlich richtige und moralisch verantwortbare Urteil vorbereitet, d.h. es wird die Verbindung zwischen den Prinzipien Effizienz und Emanzipation ermöglicht.
Die mitreflektierten Einschätzungen über die Sicherheit bzw. Unsicherheit des jeweiligen Einzelurteils gehen mit in das Gesamturteil ein. Ein weiterer Vorteil dieser Vorgehensweise liegt darin, dass partiellen Änderungen in den Aussagen über die Wirklichkeit durch partielle Änderungen einzelner Werturteile Rechnung getragen werden kann. Die Revidierbarkeit des Urteils wird leichter; eine stückweise Verbesserung des politisch-moralischen Urteils wird möglich.

(W. Sander: Effizienz und Emanzipation. Prinzipien verantwortlichen Urteilens und Handelns. Eine Grundlegung zur Didaktik der politischen Bildung., Opladen 1984, S. 271-272.)

Fußnoten

(1) Mischformen von normativen und deskriptiven Aussagen sind im praktischen Syllogismus möglich (vgl. K. Engisch, 1971, S. 48).

(2) Eine wichtige Basis für die Rechtsgewinnung in der Jurisprudenz ist nach M. Kriele "die Berücksichtigung der präjudiziellen Zukunftswirkung der zu treffenden Entscheidung, d.h. der Folgen, die die allgemeine Geltung der ratio decidendi voraussichtlich haben würde." (1976, S. 332) Weiterhin betont er: "Die offene Diskussion der Folgen wird um so dringender, je komplexer und interdependenter die Entscheidungsfolgen in der modernen Gesellschaft sein können." (S. 333) Die dialektische Beziehung, die zwischen normativen Sätzen (normativen Tatsachen) und Sachverhaltsaussagen besteht und die M. Kriele im Anschluß an K. Engisch (1960, S. 14f) als "Hin- und Herwandern des Blicks" gekennzeichnet hat, läßt sich als eine kreisende Denkbewegung fassen: Sie geht angesichts eines Rechtsstreits von schon vorliegenden normativen Obersätzen aus und gelangt im modus ponens zu ansatzweise relevanten normativen Tatbeständen (Annäherung 1). Im modus tollens entwickelt diese Denkbewegung die für die Urteilsfindung relevanten Maximen weiter, indem sie die normative Herausforderung durch neue Sachverhalte aufnimmt und die weiterentwickelten Maximen und Grundsätze probeweise von den zu erwartenden präjudiziellen Folgen her auf ihre Allgemeingültigkeit hin überprüft (Annäherung 2). Die Differenz zwischen Maxime und konkreter Handlung, auf die schon Kant hingewiesen hat (vgl. MST, S. 392f und Reflexion 7078, S. 119), kann durch die hier beschriebene kreisende Denkbewegung im modus ponens und modus tollens überwunden werden. Die Dialektik zwischen modus ponens und modus tollens macht eine fortschrittliche Traditionsbildung (Bewahrung und Fortschritt) möglich: Jeder Urteilende kann bei ähnlich gelagerten Fällen an vorausgegangene Urteile und die sie tragenden Gründe (Maxime, Sitten, Rechtssätze) im modus ponens anschließen und diese seinerseits im modus tollens prüfen und gegebenenfalls weiterentwickeln. Eine Kultivierung der Sitten und eine Annäherung der Gesetze an die Idee der Gerechtigkeit ist so möglich. Eine präzise Definition des hier erörterten Subsumptionsproblems findet sich bei K. Engisch (1960, S. 19, Anm. 1.).

(3) 1. Diese Vorgehensweise ist durchaus vergleichbar mit dem "Zweistufen"-Modell des juristischen Denkens, wie es von K. Engisch und M. Kriele entwickelt wurde. Das Hin- und Herwandern des Blickes auf der ersten Stufe (zwischen normativer Hypothese und Lebenssachverhalt) befragt vorhandene Rechtsbestimmungen auf ihre Relevanz für den vorliegenden Fall (vgl. M . Kriele, 1976, S. 161f, S. 204). Das Hin- und Herwandern des Blickes zweiter Stufe "diesmal zwischen Normhypothese und Rechtssätzen" führt zur Weiterentwicklung und zur Schließung von Lücken im Gesetz (vgl. S. 196ff). Grundsätzlich betont M. Kriele: "Aus der unendlichen Fülle der Ereignisse im Strom des Lebens hebt sich ein 'Fall' überhaupt nur durch die Annahme heraus, daß gewisse Tatsachen... 'juristisch relevant' seien. Tausend Einzelheiten des wer, wo, wann und wie kann man weglassen, nur auf gewisse Umstände kommt es an. Auf welche es ankommt, richtet sich nach der Normhypothese. Ohne Normhypothese also kann man einen 'Fall' überhaupt nicht erzählen." (M. Kriele, 1976, S. 199, vgl. Anm. 21) 2. Für die Didaktik der Politischen Bildung hat dies analog zur Folge: Die Reduktion der Stoffülle erfolgt nicht mehr durch einen fragwürdigen Rekurs auf die "Struktur der Sache"; sie wird von der Normhypothese aus vorzunehmen sein (s. Anm. 25).

(4) Ein weiterer Vorteil: durch Partialisierung des Vergleichsgegenstandes können die perspektivischen Verzerrungen (z. B. durch Voreingenommenheit des Urteilenden) zurückgedrängt und die Unparteilichkeit des Urteils erhöht werden.

(5) Die Beurteilung findet unter dem Primat der praktischen Vernunft statt, d.h. die Relevanz der normativen Tatsachen bestimmt die Relevanz der Sachverhaltsfeststellungen - und nicht umgekehrt.