Präzisierung
des Konfliktfalls (nach oben)
Wie im Gerichtsprozess durch einen Eröffnungsbeschluss,
so sind im Prozess der politisch-moralischen Urteilsbildung die
kontroversen Positionen X und Y, die den Kern des zu lösenden
Entscheidungskonfliktes ausmachen, leicht verständlich, kurz
und auf die konkrete Situation bezogen darzustellen. (1) Dabei ist
darauf zu achten, dass die Konfliktparteien ihre Sicht des Sachverhaltes
und ihre Art, (Rechts-)Ansprüche (2) zu begründen, zur
Geltung bringen können. (3) Auf der Basis von authentischen
Aussagen der Konfliktparteien sind der Streitgegenstand und die
Begründungsversuche der gegensätzlichen Positionen zu
identifizieren: Welche widersprüchlichen Ansprüche liegen
vor? Wie versuchen die Kontrahenten, ihre Ansprüche zu begründen?
Die Positionen X und Y unterscheiden sich gewöhnlich nicht
nur darin, dass unterschiedliche Ziele (Zx, Zy) oder unterschiedliche
Mittel (Ax, Ay) für notwendig und berechtigt angesehen werden,
sondern auch andere Definitionen der Situationen (Sx und Sy) gegeben
werden. Der Gegenstand des Streites liegt also in der Regel nicht
nur in der Erklärung der Wirklichkeit oder in der Auswahl von
Zwecken oder Mitteln, sondern er bezieht sich auch und gerade auf
die Richtung, in die die Wirklichkeit (Z-A-S-Relationen) verändert
werden soll. (4) Der Kern des Entscheidungskonflikts besteht also
in gegensätzlichen Maximen (5), die gleichzeitig Anspruch auf
Geltung erheben. Diese kontroversen Maximen sollten zu Beginn des
Urteilsbildungsprozesses möglichst deutlich herausgearbeitet
werden, um das Entscheidungsproblem einzugrenzen und bearbeitbar
zu machen.
(W. Sander: Effizienz und Emanzipation. Prinzipien
verantwortlichen Urteilens und Handelns. Eine Grundlegung zur Didaktik
der politischen Bildung., Opladen 1984, S. 269-270.)
Fußnoten
(1) Auch in der Theorie der
Rechtsgewinnung heißt es: "Am Anfang steht der (wirkliche
oder erdachte) Fall und nicht der Text. Das ist ... eine triviale
Wahrheit, die jedem Juristen selbstverständlich ist, sobald
er sich auf seine tägliche Praxis besinnt." (M. Kriele,
1976, S. 159)
(2) Den für das Rechtsdenken
charakteristischen Terminus "Anspruch" verwendet Kant,
wie H. Kiefner bemerkt, „in fast modern anmutender Weise."
(H. Kiefner, 1978a, S. 293, Anm. 33) Auch der Begriff "eigen“,
in "eigener Wille" oder in "Eigentum" oder "eigenständig",
hat bei Kant nicht phänomenologische Bedeutung (wie in "eigentümlich“),
sondern juridische: Es wird ein Anspruch geltend gemacht.
(3) Wie im Eröffnungsbeschluss
des Gerichts (vgl. K. Engisch, 1971, S. 50) die gegensätzlichen
Rechtsansprüche der Kontrahenten erkennbar werden, so müssen
in der Präzisierung des Konfliktfalles die widersprüchlichen
Auffassungen aufgearbeitet werden. In Analogie zur grundlegenden
Prozess-Maxime "audiatur et alters pars" ergibt sich für
den Unterricht folgende Regel für die Quellenauswahl: Probleme,
die in der Gesellschaft oder Wissenschaft kontrovers beurteilt werden,
müssen als Kontroverse in den unterrichtlichen Quellen erkennbar
sein.
(4) Im vorliegenden Verständnis
von Entscheidungskonflikt oder -problem handelt es sich nicht nur
um ein technisches oder pragmatisches Problem der Art: Zwei von
drei Größen (z.B. Z, A, S) sind gegeben, die dritte ist
gesucht (vgl. H. Klix, 1976, S. 641); vielmehr steht das praktische
Bewertungsproblem im Zentrum der Überlegung.
(5) Welche der alternativen
Lösungsmöglichkeiten kann gewollt sein? Ein Großteil
der didaktischen Literatur zur Politischen Bildung stellt das technische
Informations- und Konstruktionsproblem in den Mittelpunkt des Unterrichts,
nicht aber das zentrale praktische Problem. Die einseitige Orientierung
am Modell der wissenschaftlichen Urteilsbildung (Dominanz der theoretischen
Vernunft) und die Vernachlässigung des Modells des richterlichen
Handelns (der praktischen Vernunft) beeinflusst die Problemdefinition
negativ, denn es interessieren dann nur Fragen wie "was ist?"
oder "wie funktioniert etwas?" oder "wie läßt
sich erklären ... ?“, nicht aber "was ist recht?"
oder "was ist unrecht?" in einem konkreten Fall.
|