Gesamturteil - Hintergrund

Entscheidung

 

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Nachdem die Einzelbewertungen durchgeführt worden sind, kann nun das Gesamturteil gefällt werden. Dabei ist folgende Regel zu beachten: Unter Berücksichtigung der Einzelwerte und der Unsicherheiten in der Beurteilung ist derjenigen Alternative der Vorzug zu geben, die eine Veränderung der Wirklichkeit in diejenige Richtung erwarten lässt, die am ehesten den aufgestellten normativen Grundsätzen genügt und am ehesten mit dem kategorischen Imperativ vereinbar ist. Ein Verzicht auf eine Entscheidung ist grundsätzlich nicht möglich. (1)
Die Entscheidung muss sich auf die zentralen Dimensionen der Normhypothese (Grundsätze) stützen und dabei zugleich - dies ist die Prüfleistung im modus tollens - die rechtlich erheblichen Folgen neuer Sachverhalte in die Gesamtwürdigung miteinbeziehen.(2) In der ratio decidendi, in den tragenden Gründen, in der Maxime der Entscheidung, kommt so einerseits durch Bezugnahme auf die Normhypothese die bisherige Rechtsauffassung zu Wort, andererseits wird die Rechtsauffassung so weiterentwickelt, dass die präjudizielle Zukunftswirkung des Urteils bei der Entscheidung mitberücksichtigt wird. Die "Folgen, die die allgemeine Geltung der ratio decidendi voraussichtlich haben würde" (M. Kriele 1976, S. 332), sind entscheidungsrelevant. Die Entscheidungsverantwortung des Urteilenden kommt besonders darin zum Tragen, dass er sich nicht nur auf bestehende und geltende Vorstellungen von Recht und Gesetz stützt, sondern in sein Gesamturteil durch Rekurs auf den kategorischen Imperativ neue Maximen des Handelns einarbeitet und selbständig Recht fortschreibt. (3) Die Qualität des Gesamturteils hängt davon ab, inwiefern es gelingt, die Einzelwertungen zu einem solchen Urteil zusammenzufassen, das für die weitere Entwicklung des jeweils behandelten Problems maßgebliche Regeln aufstellt, die Gültigkeit beanspruchen können.

(W. Sander: Effizienz und Emanzipation. Prinzipien verantwortlichen Urteilens und Handelns. Eine Grundlegung zur Didaktik der politischen Bildung., Opladen 1984, S. 272-273.)

Fußnoten

(1) 1. Der Forderung, man solle lernen, in Entscheidungskonflikten verantwortlich zu entscheiden, wird kein Didaktiker der Politischen Bildung widersprechen. So sah z.B. der Deutsche Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen in seiner "Empfehlung für die Neuordnung der Höheren Schulen" (1965) die Vermittlung von Urteilsfähigkeit als eine der zentralen Bildungsaufgaben des Lehrgangs "Politische Weltkunde" an. Im Unterricht soll demnach für die Schüler erfahrbar sein, "was alles zu einem rational begründeten und sittlich verantwortbaren politischen Urteil gehört und wie man zu einer politischen Einsicht kommt." (S. 65)
2. Innerhalb der unterschiedlichen didaktischen Konzeption ist allerdings in hohem Maße unklar, a) wie eine solche Urteils- und Entscheidungsfindung möglich ist und b) wie die politisch-moralische Urteilsbildung im Unterricht gefördert werden kann. Die Folge dieser Unklarheit in der Grundlegung ist z.B. der Streit um Parteinahme, Parteilichkeit und Minimalkonsens (vgl. B. Sutor, 1974, W. Hilligen, 1975a, S. 52, S. 172). An diesem Problem sei der Zusammenhang kurz exemplifiziert: W. Hilligen versucht, durch Formulierung von drei grundlegenden "Optionen" Validierungsmaßstäbe für die Strukturierung von Inhalten und Intentionen der politischen Bildung zu gewinnen, die "den formalen und materialen Minimalkonsens" unter Politik-Didaktikern wieder herstellen sollen (vgl. 1975a, S. 175). Sein Vorschlag zur Lösung des Begründungsproblems läßt jedoch wiederum die Art der Problemdefinition erkennen, die letztlich in die Kontroverse des Positivismus-Streits und zur Unlösbarkeit des Begründungsproblems führt. Schon die Definition dessen, was W. Hilligen unter Option versteht, macht die Unterschiede zu der hier vertretenen Konzeption deutlich: „“Optionen sind 'regulative Ideen' (Kant), 'erkenntnisleitende Interessen' (Habermas), die sich als konsensfähige begründen lassen." (1975a, S. 30)
3. Drei Bemerkungen mögen hier genügen, um die wesentlichen Unterschiede deutlich zu machen: - Das Entscheidungsproblem gehört nicht, wie mehrfach in dieser Arbeit betont wurde, zum Bestimmungsbereich der theoretischen, sondern der praktischen Vernunft. Wenn Optionen daher in praktischer Hinsicht entscheidungsrelevante Bezüge darstellen sollen, dürfen sie nicht regulative Ideen oder erkenntnisleitende Interessen sein, sondern müssen konstitutive - nämlich verfassungsgebende - Funktionen haben (s. Stadium 1). - Es geht beim Begründungsproblem nicht nur um Wertentscheidungen bei der Erkenntnis von Wirklichkeit sondern vor allem um die Bewertung von Handlungsmaximen. Daher können Optionen nicht nur erkenntnisleitende Interessen sein, sondern sie müssen den verschiedenen Formen des kategorischen Imperativs entsprechen und sich auf den Willen beziehen. - Werden Optionen als "oberste Lernziele im emotional-evaluativen Bereich" (S. 30) angesehen, die sich "wie jede Wertentscheidung... auf Auswahl und Gewichtung von Informationen" (ebenda) auswirken, dann wird das praktische Entscheidungsproblem zum Gegenstand theoretischer Vernunft gemacht.
4. Wegen dieser Problemreduktion wird die Grundlegung unmöglich gemacht. In didaktischer Hinsicht hat dieser Konstruktionsfehler zur Konsequenz, daß die richtige Erkenntnis von Wirklichkeit ins Zentrum der Urteilsbildung rückt und für die Auswahl von Inhalten und Lernzielen bestimmend wird. Eine politisch-moralische Beurteilung von Entscheidungskonflikten ist in diesem Konzept von Urteilsfindung nur schwer möglich. Zusammenfassend kann gesagt werden: Die Orientierung an Optionen wird hier nicht wegen der inhaltlichen Formulierung der Optionen kritisiert, sondern wegen der Art, wie die Optionen zum Einsatz kommen sollen. Daß weithin unklar ist, wie praktische Entscheidungskonflikte entscheidbar sein können, macht m.E. den blinden Fleck der Didaktik der politischen Bildung aus.

(2) Instruktiv ist hier die Kritik von M. Kriele an der traditionellen juristischen Methodenlehre, nach der die Richter zu Deduktionsmaschinen degenerieren. "Der Rechtsanwender erscheint als methodisch operierender Intellektueller, dessen Ethos sich in Gesetzestreue und in methodischer Sorgfalt erschöpfe und der - im übrigen - von Entscheidungen, Verantwortung und ethischen Anforderungen entlastet sei. Insofern wird die praktische Vernunft aus dem Recht verwiesen. Folgerichtig ist der Schlüsselbegriff, an dem sich die Geister scheiden, der der 'Vernunft' in seinen Varianten... es geht um die Frage, ob sich in der Praxis unserer Rechtsgewinnung praktische Vernunft manifestiert und was daraus für die juristische Methodenlehre folgt." (1976, S. 312f)

(3) Die ethische Verantwortung des einzelnen Richters wird nach M. Kriele in der neuen Methodenlehre des Rechts besonders betont: "Der entscheidende Unterschied zwischen dem traditionellen und dem neuen Verständnis der Rechtsgewinnung liegt in der Frage, ob praktische Entscheidungsverantwortung, Moral und Gerechtigkeit, kurz ob die ethische Dimension für die Rechtsgewinnung bedeutsam ist oder nicht. Da für die traditionelle Methodenlehre der ethische Anspruch auf Gesetztreue und redliche methodische Interpretation schrumpfte, erschien die Annahme folgerichtig, daß praktische Philosophie und Rechtstheorie einander wechselseitig nicht viel zu sagen hätten. Die neuere Rechtstheorie hingegen begegnet sich mit den zeitgenössischen Bemühungen um eine philosophische Neubegründung der Ethik in vielerlei Hinsicht ... Da das Recht im demokratischen Verfassungsstaat ethisch« geprägt ist und da der praktische Jurist an der Rechtsbildung beteiligt ist, geht die juristische Normbildung den Ethiker unmittelbar an." (M. Kriele, 1976, S. 342; anders P. Noll, 1978 und H. Lübbe, 1980a)