Gewinnung
von Beurteilungskriterien (nach oben)
Der Primat der praktischen Perspektive kommt im
Verfahren der Urteilsbildung auch dadurch zum Ausdruck, dass vor
der Analyse der Wirklichkeit die Frage nach normativ bedeutsamen
Tatsachen gestellt wird. Es ist eine Normhypothese zu finden. (1)
Ausgehend von den Ansprüchen der Konfliktparteien kann eine
Liste von Anforderungen, die eine ideale Lösung des hier zu
behandelnden Problems umreißen, aufgestellt werden. Diese
ist durch Rückgriff auf geltende Normvorstellungen und Kriterien,
die in Urteilen (Präjudizien) und in Stellungnahmen Dritter
erkennbar sind, zu erweitern. (2) Ziel dieses Arbeitsschrittes ist
es, einerseits abstrakte normative Grundsätze und Kriterien
zur Beurteilung des Streitfalles, die normative Hypothese zu finden
und andererseits den normativen Obersätzen relevante Tatbestände
zuzuordnen, die konkretisieren, wann gegen diese Obersätze
verstoßen wird und wann nicht. Die normative Hypothese ist
zu operationalisieren (3), indem z.B. vergleichbare Fälle für
die zu bestimmenden Begriffe angeführt werden. Wenn die Konkretisierung
der Normhypothese nicht an dieser Stelle vorgenommen wird, besteht
die Gefahr, dass im Laufe des Prozesses der Urteilsbildung die Beurteilung
der vorliegenden Sachverhalte zu sehr von der Rechtsauffassung der
Konfliktparteien beeinflusst und eine unabhängige und unparteiliche
Beurteilung zufällig wird. Die Rechtsauffassung würde
sich dann der Wirklichkeit anpassen. Die quaestio iuris muss demgegenüber
zwar fallbezogen, aber im Rechtsanspruch unabhängig von der
Wirklichkeit beantwortet werden. (4)
Bei der Auswahl und Gewichtung von Urteilskriterien spielt das Vor-Urteil,
mit dem der Handelnde an das Problem herangeht, insofern eine Rolle,
als die positiven Momente derjenigen Position, der er selbst zunächst
zuneigt, und die negativen Momente der anderen Position differenzierter
wahrgenommen und bearbeitet werden. Durch Diskussion mit anderen,
die entgegengesetzter oder unterschiedlicher Auffassung sind, kann
diese Asymmetrie in den normativen Grundlagen korrigiert werden.
(5)
(W. Sander: Effizienz und Emanzipation. Prinzipien
verantwortlichen Urteilens und Handelns. Eine Grundlegung zur Didaktik
der politischen Bildung., Opladen 1984, S. 270.)
Fußnoten
(1) Mit "hypothetisch"
soll hier nicht gekennzeichnet werden, dssß der Anspruch der
Norm nur bedingt verbindlich sei, sondern dass zu klären ist,
ob die Norm auf den vorliegenden Fall anwendbar ist. K. Engisch
spricht zur Kennzeichnung dieses Sachverhaltes daher auch vom "konditionalen
Imperativ" (1971, S. 32; vgl. zum Gesamtzusammenhang M. Kriele,
1976, 163).
(2) Das Hauptproblem ist: Wie
kann die Bestimmung des juridischen Obersatzes der Willkür
des Urteilenden entzogen und zugleich so vorgenommen werden, dass
er der Idee zur Gerechtigkeit nahekommt? "Das eigentliche Problem
der Rechtsgewinnung ist ... die Gewinnung des Obersatzes." (M. Kriele, 1976, S. 197; vgl. ebd., S. 50ff) Zu den Grenzen der
juristischen Deduktion vgl. M. Kriele (1976, S. 97-101) und K. Engisch
(1971, S. 47f). Zur Kritik am Rechts- und Gesetzespositivismus vgl.
W. Krawietz (1978, S. 3ff, S. 55, S. 92) und P. v. Oertzen (1974).
Gegen eine Prinzipienorientierung spricht sich P. Noll (1978) aus.
(3) 1. Die hier erforderliche
Operationalisierung ist durchaus vergleichbar mit entsprechenden
Vorgängen in der empirischen Sozialforschung: am Anfang einer
Untersuchung steht eine Hypothese und erste vage Annäherung
(Approximation) zwischen Hypothese, Variablen, Ausprägungen
und Daten, die im Verlaufe der Untersuchung verbessert wird. Hier
wie dort muss der nominale Bedeutungskern der (normativen) Hypothese
unabhängig von den Daten definiert werden; er darf nicht durch
die operationale Definition ersetzt werden, wie z.B. in der empiristischen
Psychologie, wenn dort davon ausgegangen wird: 'Intelligenz ist,
was der Intelligenztest misst'. Im praktischen Bereich würde
diese Vermengung zu einer Auslieferung des Rechts an die Wirklichkeit
führen. M. Kriele spricht in seiner "Theorie der Rechtsgewinnung"
nicht von Operationalisierung, sondern im Anschluss an K. Engisch
(1960, S. 14f) von einem "Hin- und Herwandern des Blicks"
zwischen Normhypothese und Rechtssätzen. "Auf Grund der
Normhypothesen weiß er (der Jurist - W.S.), wo er in den Gesetzen
zu blättern und die möglicherweise einschlägigen
Rechtssätze zu suchen hat. Hat er sie gefunden, so wandert
der Blick zurück, um zu prüfen, ob der Rechtssatz wirklich
einschlägig und anwendbar ist." (M. Kriele, 1976, S. 204)
2. Aus den vorhandenen positiv-rechtlichen Rechtssätzen und
Kriterien (Normhypothese) kann im modus ponens nur das "abgeleitet"
werden, was sich bisher an Rechtssätzen in ähnlich gelagerten
Fällen bewährt hat. Die Tradition kommt zur Geltung. Diese
deduktive Denkweise stößt, wenn der Fall anders gelagert
ist, an ihre Grenzen. Im modus tollens kann das überlieferte
Recht weiterentwickelt werden (vgl. Kap. 5.3).
(4) Eine naturalistische und
positivistische Auffassung vom Recht würde dazu beitragen,
das Recht der Wirklichkeit auszuliefern. Demgegenüber muss
die quaestio juris in Sachverhaltsfragen zwar fallbezogen, aber
in der Fundierung des Rechtsanspruchs unabhängig von der Wirklichkeit
beantwortet werden. Kein Richter käme auf die Idee, a) nur
durch Klärung von Sachverhaltsfragen entscheiden zu wollen,
ob jemand schuldig ist oder nicht; er benötigt dazu Rechtsgrundlagen.
Die Sachverhalte sind nur relevant in Bezug auf die Frage, ob Normtatsachen
der Fall sind; b) durch eine Umfrage unter Juristen oder durch eine
Befragung des Volkes zu ermitteln, ob dieser oder jener Angeklagte
schuldig ist oder nicht schuldig. Sollensaussagen lassen sich nicht
auf Seinsaussagen zurückführen. Der Richter muss daher
in eigener Zuständigkeit und hinsichtlich des Geltungsanspruches
unabhängig von der Wirklichkeit, d.h. vor der Entscheidung
(a priori) den relevanten Obersatz finden und die relevanten juristischen
Tatsachen ausfindig machen, um so eine normative Grundlage zur Beurteilung
des Falles zu entwickeln. Er wird dann klären, ob die Sachverhalte
des vorliegenden Falles unter die normativ relevanten Tatsachen
subsumierbar sind. Ist der Angeklagte ein Mörder, Dieb? Hat
der Beklagte das geschuldete Geld zurückgezahlt oder nicht?
Erst vor dem normativen Hintergrund ergibt sich das Problem der
Beweissicherung, der Beweiserhebung und der Beweislast.
(5) Auch der Richter geht, wie
K. Engisch (1971) im Anschluss an J. Esser (1970) betont, mit einem
gewissen Vorverständnis an den Fall heran, das er im Laufe
des Gerichtsprozesses ständig prüfen und modifizieren
muss, wenn er ein gerechtes Urteil fällen will. (Vgl. außerdem
K. Engisch 1971, S. 200, Anm. 36)
|
Text: Schiedsrichterentscheidung
im Fußballspiel (nach oben)
Hinweis: Die Präsentation "Urteilsbildung
am Beispiel der Schiedsrichterentscheidung" kann an dieser
Stelle eine nützliche Hilfe darstellen, um den Prozess der
Urteilsbildung und die sieben Regeln zu verdeutlichen, und vor allem,
um den zentralen Unterschied zwischen Regeln und Sachverhalten deutlich
zu machen.
Schiedsrichterentscheidungen im Fußballspiel
[...] Wie selbstverständlich geht man als
Fernsehzuschauer bei der Übertragung von nationalen und internationalen
Meisterschaften davon aus, dass Schiedsrichter die Fußballspiele
leiten. Sie pfeifen das Spiel an und ab, sie geben die Tore. Über
nichts können sich die Fußballfans mehr aufregen, als
über offensichtliche Fehlentscheidungen von Schiedsrichtern.
Wie bei fast jedem anderen Spiel kann man das Fußballspiel
jedoch auch ohne Schiedsrichter spielen. Die Spieler müssen
sich dann selbst einigen. (Auch in der Geschichte des Fußballspiels
trat der Schiedsrichter erst relativ spät in Erscheinung.)
Wenn sich Jugendliche am Nachmittag auf einem Bolzplatz treffen,
um Fußball zu spielen, können sie nicht nur auf einen
Schiedsrichter verzichten, sondern bestimmen ad hoc und den jeweiligen
Verhältnissen angepasst, nach welchen Regeln sie spielen wollen.
Wer sollte sie auch daran hindern, die Spielregeln so abzuändern,
dass ihnen das Spiel Spaß macht? Sie entscheiden über
die Anzahl der Spieler, die Größe des Spielfeldes, die
Größe des Tores, ob gegen ein oder zwei Tore gespielt
wird, ob es feste oder fliegende Torwarte gibt, wann ein Strafstoß,
wann ein Tor zu geben ist usw. Schiedsrichterentscheidungen sind
nicht nötig. Erst wenn mehrere Mannschaften gegeneinander spielen
und einen Wettkampf austragen wollen, ist es notwendig, die Regeln
von willkürlichen und zufälligen Bedingungen unabhängig
zu machen und vor den durchzuführenden Spielen einheitlich
und verbindlich festzulegen. Für alle Mannschaften gelten dann
die gleichen Regeln; die Wettkampfbedingungen werden einheitlich
normiert. Außerdem wird der Spielablauf für die Spieler
(und damit auch Zuschauer) erwartbarer. Die Mannschaften können
für den Wettkampf trainieren, die Spieler ihre Rollen (Verteidiger,
Mittelfeldspieler, Stürmer oder ähnliche) einüben,
die Zuschauer mitreden. Je wichtiger nun das Fußballspiel
wird und je mehr für die Beteiligten von einem Sieg oder einer
Niederlage abhängt, desto notwendiger wird es, dass ein nicht
zu den Mannschaften gehörender unparteiischer Dritter die Einhaltung
der Wettkampfregeln beachtet und Regelverstöße ahndet.
In dieser Konstellation wird die Leitung des Spiels durch einen
Schiedsrichter notwendig. Seine Aufgaben und Rechte werden im Wesentlichen
durch die geltenden Wettkampfregeln - die Fußballfreunde sprechen
hier vom Regelwerk - bestimmt.
Vier Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden:
-
Welcher Zusammenhang besteht zwischen Regelwerk und Entscheidungen
des Schiedsrichters?
-
Was ist typisch für eine gute Schiedsrichterentscheidung?
-
Was kennzeichnet ein parteiisches Schiedsrichterverhalten?
-
Was kann getan werden, um das Ausmaß von Schiedsrichter–Fehlentscheidungen
möglichst gering zu halten?
(Quelle: Sander, W./Priester, J.: Recht Rechtssprechung Gerechtigkeit.
Arbeitsbuch Sozialwissenschaften 2, Opladen 1985, S. 36-37)
Das Regelwerk für die Sportart Fußball
ist mehr als 100 Jahre alt. Erste Aufzeichnungen finden sich im
Jahre 1863 in England, dem Mutterland des Fußballs. Die noch
sehr lückenhaften Regeln waren kurz und umfassten nur etwa
13 Abschnitte. Bestimmungen über Spielerzahl, Spieldauer, Spielstrafen
und Schiedsrichter fehlten ebenso wie die Hinweise auf den Ball,
die Technik der Spielwertung und den Torwart (...) Inhalt und Konvention
der ersten sog. „Cambridge-Rules" basierten auf dem Standesethos
britischer Ober- und Mittelschicht-Studenten, die durch Modifizierung
von Rugby-Regeln das Fußballspiel initiierten. Zunehmende
Popularität und Erfahrungen mit der Sportart Fußball
führten zur Überarbeitung dieser ersten Bestimmungen.
Vor allem die mangelnde Verbindlichkeit der ursprünglichen
Oberschicht-Normen für die immer größer werdende
Zahl von Spielteilnehmern aus unteren Sozialschichten erzwang die
Etablierung von mit Sanktionsrecht ausgestatteten Spielleitern.
Den 1870 eingeführten zwei „Umpires“ wurde
1881 ein „Referee“ außerhalb des Spielfelds zur Seite gestellt.
Der „Penalty kick“ (1890) bildete einen weiteren Schritt in dem
Bemühen, Spielregeln festzuschreiben und deren Kontrolle zu
perfektionieren. Die heutigen Regeln wurden 1938 kodifiziert und
haben seit dieser Zeit nur unwesentliche Änderungen erfahren.
Amtliche Kommentare zu jeder einzelnen Regel sollen Interpretationsvarianten
weitgehend ausschließen. Die internationale Dachorganisation
der nationalen Fußballverbände (FIFA) veröffentlicht
für jede neue Spielsaison das gültige und in den meisten
Fällen gegenüber dem Vorjahr unveränderte Regelwerk,
nach dem der Wettkampf durchzuführen ist. In insgesamt 17 Regeln
finden sich Bestimmungen zu Spielvoraussetzungen, Unterbrechungen
und Fortsetzungen, verbotenem Spiel und unsportlichem Betragen,
Spielstrafen und zur Abseitsregel und Spielleitung.
(Quelle: Albrecht, D/Musahl, H.: Das Schiedsrichterphänomen
- ein Syndrom?, in: Albrecht, D.: (Hrsg.): Fußballsport. Ergebnisse
sportwissenschaftlicher Forschung, Berlin/München/Frankfurt
a.M. 1979, S. 35-36..)
Information:
Das International Football Association Board IFAB
ist die "oberste Gesetzgebungsinstanz" des organisierten
Fußballsports. Regeländerungen werden automatisch vom
Deutschen Fußball-Bund (DFB) übernommen und bedürfen
keines Beschlusses des DFB-Bundestages.
Schiedsrichter im Fußball
Ursprünglich lag die Spielleitung in den Händen
der beteiligten Akteure, die selbst über Regelüberschreitungen
und Konsequenzen urteilten. Erst 1873 etablierte sich die Funktion
eines neutralen Spielleiters auch in den Regeln; 1881 wurde der
Schiedsrichter dann amtlich berufen. Zu seinen Aufgaben gehörten
damals bereits organisatorische (Zeitnehmen, Notizen anfertigen
usw.) und spielleitende (Verwarnung, Spielausschluss usw.) Tätigkeiten.
Im Laufe der folgenden Jahrzehnte erhielten die Schiedsrichter immer
mehr Machtbefugnisse. Hatten sie anfangs nur die Aufgabe, bei strittigen
Entscheidungen der Linienrichter einzugreifen, galten sie ab 1891
als alleinige Spielleiter. Schon ein Jahr später (1892) wurde
die Endgültigkeit von Tatsachenentscheidungen festgeschrieben
und erst 1923 soweit relativiert, als „sie nur insofern unanfechtbar
sind, soweit es sich um das Spielergebnis handelt" [. . .]
(Quelle: Albrecht, D/Musahl, H.: Das Schiedsrichterphänomen
- ein Syndrom?, in: Albrecht, D.: (Hrsg.): Fußballsport. Ergebnisse
sportwissenschaftlicher Forschung, Berlin/München/Frankfurt
a.M. 1979, S. 36.)
Fußball-Regeln 2006/2007: Regel 5
- Der Schiedsrichter
Die Vollmacht des Schiedsrichters
Jedes Spiel wird von einem Schiedsrichter geleitet,
der die unbeschränkte Vollmacht hat, den Fußballregeln
in dem Spiel Geltung zu verschaffen, für das er nominiert wurde.
Rechte und Pflichten
Der Schiedsrichter hat
- den Spielregeln Geltung zu verschaffen,
- das Spiel in Zusammenarbeit mit den Schiedsrichter-Assistenten
und, wo vorhanden,
mit dem Vierten Offiziellen zu leiten,
- sicherzustellen, dass die Bälle der Regel 2 entsprechen,
- sicherzustellen, dass die Ausrüstung der Spieler der
Regel 4 entspricht,
- die Zeit zu nehmen und sich Aufzeichnungen über den
Verlauf des Spieles zu machen,
- ein Spiel bei irgendeiner Regelübertretung oder aus
anderem Grunde zu stoppen,
zeitweilig zu unterbrechen oder abzubrechen,
- ein Spiel bei jedem Eingriff von außen zu stoppen,
zeitweilig zu unterbrechen oder
abzubrechen,
- das Spiel zu unterbrechen, wenn er einen Spieler für
ernsthaft verletzt hält, und zu
veranlassen, dass er vom Spielfeld gebracht wird. Ein verletzter
Spieler darf erst
auf das Feld zurückkehren, wenn das Spiel wieder aufgenommen
wurde,
- das Spiel weiterlaufen zu lassen, bis der Ball aus dem Spiel
ist, wenn er überzeugt
davon ist, dass ein Spieler nur leicht verletzt ist,
- dafür zu sorgen, dass ein Spieler mit blutender Wunde
das Spielfeld zur
Behandlung verlässt. Der Spieler darf erst nach einem Zeichen
des Schiedsrichters
zurückkehren, der sich davon überzeugt haben muss,
dass die Blutung gestoppt
wurde,
- von einer Spielunterbrechung abzusehen, wenn dies von Vorteil
für diejenige
Mannschaft ist, gegen die eine Regelübertretung begangen
wurde, und den ursprünglichen
Verstoß zu bestrafen, wenn der erwartete Vorteil zu dieser
Zeit nicht
eintritt,
- den schwerer wiegenden Verstoß zu bestrafen, wenn ein
Spieler zur gleichen Zeit
mehrere Regelübertretungen beging,
- disziplinarische Maßnahmen gegen Spieler zu ergreifen,
die einen verwarnungs- oder
feldverweiswürdigen Verstoß begangen haben. Er muss
dies nicht sofort tun,
aber auf jeden Fall dann, wenn der Ball zum nächsten Male
aus dem Spiel ist,
- Maßnahmen gegen Mannschaftsverantwortliche zu ergreifen,
die sich nicht verantwortungsbewusst benehmen, und er darf sie
nach eigener Einschätzung vom
Spielfeld und dessen unmittelbarer Umgebung entfernen lassen,
- nach einem Hinweis des Assistenten über Ereignisse zu
entscheiden, die er selbst
nicht gesehen hat,
- zu verhindern, dass Personen das Spielfeld betreten, die
hierzu nicht berechtigt
sind,
- das Spiel fortsetzen zu lassen, nachdem es unterbrochen war
und
- der zuständigen Behörde einen Bericht über
das Spiel zukommen zu lassen, der
Informationen über die gegen Spieler und/oder Offizielle
ausgesprochenen disziplinarischen
Maßnahmen sowie alle besonderen Vorkommnisse vor, während
oder nach dem Spiel enthalten muss.
Entscheidungen des Schiedsrichters
Seine Entscheidungen über Tatsachen, die mit
dem Spiel zusammenhängen, sind endgültig.
Er darf eine Entscheidung nur ändern, wenn
er festgestellt hat, dass sie falsch war, oder falls er es für
nötig hält, auch auf einen Hinweis eines Schiedsrichter-
Assistenten. Voraussetzung hierfür ist, dass er das Spiel weder
fortgesetzt noch abgepfiffen hat. [...]
(Quelle: Deutscher Fußball-Bund: Fußball-Regeln
2006/2007, S. 19-20, http://www.dfb.de/fileadmin/Assets/pdf/regeln0607.pdf,
abgerufen am 13.11.2006.)
Arbeitsaufträge:
- Welche Rolle kam dem Schiedsrichter ursprünglich zu?
Warum wurde er - diesen Texten zufolge - notwendig?
- Welche Gründe werden für das Aufkommen des Schiedsrichters
und für die Abfassung von Regeln genannt? Versuchen Sie
den Zusammenhang in allgemeinen Thesen zu formulieren.
- Welche Aufgaben und Machtbefugnisse hat der Schiedsrichter
heute? Wie haben sich diese mit der veränderten Bedeutung
des Fußballspiels gewandelt? (Beachten Sie, dass das Fußballspiel
heute z. T. Profisport ist und dass Schiedsrichter das Spiel
manipulieren können.)
- Versuchen Sie die in der Einleitung zu diesem Kapitel formulierten
Thesen über das Fußballspiel aufgrund ihrer Kenntnisse
zu präzisieren und zu erweitern. (Berücksichtigen
Sie dabei u. a. die Rolle der Spieler, der Zuschauer, des Schiedsrichters.)
Fußball-Regeln 2006/2007: Regel 10
- Wie ein Tor erzielt wird
Torerzielung
Ein Tor ist gültig erzielt, wenn der Ball
vollständig die Torlinie zwischen den Torpfosten und unter
der Querlatte überquert hat, ohne dass die Regeln vorher von
der Mannschaft übertreten wurden, zu deren Gunsten das Tor
erzielt wurde. [...]
Anweisungen des DFB
-
Ein Pfiff bei der Torerzielung sollte nur
in unklaren Fällen erfolgen.
-
Bestehen Zweifel, ob der Ball vollständig
im Tor war, soll der Schiedsrichter das Spiel weiterlaufen lassen.
-
Ein Tor kann auf keinen Fall anerkannt werden,
wenn der Ball, bevor er die Torlinie überquert hat, durch
einen äußeren Einfluss aufgehalten wurde. Wenn dies
im normalen Spielverlauf geschieht – außer beim
Treten eines Strafstoßes –, muss das Spiel unterbrochen
und durch Schiedsrichter-Ball an jener Stelle fortgesetzt werden,
an welcher der Ball durch diesen äußeren Einfluss
aufgehalten wurde.*)
-
Wenn ein Zuschauer das Spielfeld betritt,
bevor der Ball vollständig die Torlinie überschritten
hat, und versucht, ein Tor zu verhindern, der Ball aber ins
Tor geht, gilt dieses Tor, es sei denn, der Zuschauer hat den
Ball berührt oder einen Spieler behindert. In diesem Falle
hat der Schiedsrichter das Spiel zu unterbrechen und durch Schiedsrichter-Ball
am Ort, wo die Berührung stattfand, wieder aufzunehmen.*)
-
Der Schiedsrichter muss die Wiederaufnahme
des Spiels, nachdem ein Tor erzielt wurde, beschleunigen. Die
Spieler dürfen ihre Freude nach einem Treffer zeigen, jedoch
in einem vernünftigen Maß. Die Spieler werden für
unsportliches Verhalten verwarnt, wenn ihr Feiern (z.B. Trikotausziehen)
provokativ anmutet und sie beabsichtigen, ihre Gegner oder die
gegnerischen Fans anzuheizen oder bloßzustellen. Spieler,
die durch das Feiern ihres Tores der übermäßigen
Zeitvergeudung beschuldigt werden, werden wie bislang verwarnt.
Spieler dürfen grundsätzlich nicht die Zäune
hinaufklettern oder ihr Trikot ausziehen. Dies gilt als unsportliches
Verhalten.
(Quelle: Deutscher Fußball-Bund: Fußball-Regeln
2006/2007, S. 32-33, http://www.dfb.de/fileadmin/Assets/pdf/regeln0607.pdf,
abgerufen am 13.11.2006.)
Information:
An diesem Beispiel der Torregel lässt sich
in elementarer Weise zeigen, was eine Entscheidung voraussetzt:
- eine Regel, die zu einem Tatbestand (also
einer möglichst genauen und gültigen Festlegung von
entscheidungsrelevanten Merkmalen) eine Folge zuordnet: Wenn
X (mögliches Ereignis bestimmter Art), dann Y (Rechtsfolge
bestimmter Art);
- eine konkrete Sachverhaltsbeschreibung,
die den Tatbestand der Regel erfüllt. Die Entscheidung
muss aus a) und b) zwingend ableitbar sein.
Arbeitsaufträge:
- Der Tatbestand "Tor" ist in dem „Wenn-Satz"
der Regel X beschrieben. Listen Sie die Tatbestandsmerkmale
der Regel X auf, an die sich der Schiedsrichter halten muss,
wenn er Tor-Entscheidungen fällt.
- Konstruieren Sie fiktive Fälle, in denen kein Tor gegeben
werden darf, weil (mindestens) eines der Tatbestandsmerkmale
nicht erfüllt ist. Diskutieren Sie Grenzfälle. (Beachten
Sie dabei, dass die Feststellung des Sachverhaltes - z. B. ob
der Ball die Torlinie voll überschritten hat - hier noch
nicht als Problem angesehen wird. Es geht zunächst nur
darum, den Sinn der Regel zu verstehen und die Regel richtig
auf fiktive Fälle anzuwenden.)
- Wie muss sich der Schiedsrichter verhalten, damit er den
für die Entscheidung relevanten Sachverhalt (z. B. hat
der Ball die Torlinie voll überschritten?) genau beobachten
kann?
- Warum wird in den Ratschlägen für den Schiedsrichter
betont, dass Torentscheidungen "immer nur aus eigener Wahrnehmung"
zu treffen sind, und dass diese Entscheidung "nur dem Schiedsrichter"
zusteht? (Wie würde es sich auswirken, wenn in schwierigen
Fällen eine Videoaufzeichnung mit zu Rate gezogen werden
müsste?)
- Nehmen Sie andere Regeln aus dem Fußballspiel oder
formulieren Sie selbst "Wenn-dann-Regeln", um zu verdeutlichen,
wie Tatbestand und Sachverhalt bei der Entscheidungsfindung
zusammenspielen müssen.
- Auf dieser Grundlage können Sie nun die zwei typischen
Fehlerquellen im Entscheidungsvorgang identifizieren: Zum einen
kann die Auslegung der Regel falsch sein. (Dann wird gegen den
Wortlaut oder gegen den Sinn der Regel verstoßen.) Zum
anderen kann die Beobachtung des Sachverhaltes (der Tatsachen)
ungenau oder falsch sein. (Dann wird etwas behauptet, was nicht
der Fall gewesen ist.) Verdeutlichen Sie diese beiden Fehlerquellen
anhand von typischen Schiedsrichterentscheidungen (zu Regel
X).
- Warum kann und muss der Schiedsrichter unberücksichtigt
lassen, welche Folgen seine Entscheidungen haben? (Bedenken
Sie, wie sich die Situation des Schiedsrichters veränderte,
wenn er die Folgen seiner Entscheidung bei der Entscheidungsfindung
mitbedenken müsste.)
Nun können Sie am Beispiel der Regel 10 die
Frage beantworten:
- welchen Stellenwert das Regelwerk für Schiedsrichterentscheidungen
hat,
- warum es für den Schiedsrichter wichtig ist, möglichst
klar und eindeutig formulierte Regeln zu haben, den Wortlaut
der Regeln zu kennen und ihre Anwendung einzuüben,
- warum der Schiedsrichter möglichst "auf Ballhöhe" sein sollte,
- wie die Wahrnehmung der Wirklichkeit von der Regel aus gesteuert
wird
- was eine gute Schiedsrichterentscheidung ausmacht,
- wo der Schiedsrichter einen Ermessensspielraum hat,
- wann der Schiedsrichter "parteiisch" ist
- warum der Schiedsrichter die Folgen seiner Entscheidung unberücksichtigt
lassen kann und muss.
Erwartungen an den Schiedsrichter
Hier sei schon gesagt, dass nicht nur die Regelkenntnis
entscheidend für die Bewertung von Schiedsrichterleistungen
ist, sondern dass auch Auftreten, Verhalten zu den Spielern und
gegenüber entstehenden Situationen eine erhebliche Rolle spielen.
[. . .]
Jeder Schiedsrichter muss in seinem Auftreten bestimmt
sein. Er darf keinen anmaßenden Ton anschlagen, weil das unkameradschaftlich
wäre, aber er darf auch keinen Zweifel darüber aufkommen
lassen, dass er zu seiner Entscheidung steht. Das heißt nicht,
dass er eine falsche Entscheidung auch dann bestehen lässt,
wenn er starke Bedenken wegen ihrer Richtigkeit hat. Die Regel verbietet
dem Schiedsrichter nicht, eine Entscheidung abzuändern, wenn
er erkennt, dass er sich geirrt hat. Aber diese Erkenntnis muss
ihm kommen, bevor er das Spiel weitergehen lässt. Er kann also
nicht ein Tor anerkennen, dann den Anstoß ausführen lassen
und nun erst auf Reklamation hin seine Torentscheidung zurücknehmen,
um auf Abseits zu entscheiden, weil angeblich der Torschütze
abseits stand. Das ist falsch und unzulässig.
Der Schiedsrichter muss schnell sein. Das gilt
sowohl für sein Laufen auf dem Spielfeld, wie für die
Abgabe der Entscheidungen. Er versuche im Ablauf des Spieles möglichst
immer in Ballnähe zu sein. Das wird ihm nicht immer gelingen,
aber dann muss er, wenn irgendwo sich etwas ereignet und des Schiedsrichters
Eingriff notwendig ist, sich schnellstens an den Tatort begeben.
Der Schiedsrichter muss in seinen Entscheidungen
sicher sein. Sicherheit in der Entscheidung setzt eine genaue Kenntnis
der Spielregeln voraus. Der Schiedsrichter hat in der Frage der
Anwendung der Spielregeln weitgehende Möglichkeiten. Es ist
in sein Ermessen gestellt, wie weit seine Ansicht über einen
Regelverstoß sich dem Regeltext anpasst. Aber wenn er einmal
eine Spielerhandlung als Regelverstoß bewertet, dann muss
er die Strafe aussprechen, die für diesen Verstoß in
den Spielregeln vorgesehen ist. Er kann also nicht für ein
absichtlich unfaires Spiel eines verteidigenden Spielers in
dessen Strafraum nur einen Freistoß geben, sondern muss auf
Strafstoß erkennen. Dagegen ist die Frage, ob das Verhalten
strafwürdig ist, der Ansicht des Schiedsrichters unterworfen,
der hierzu die Grundlage in den Bestimmungen der Spielregeln findet.
Das Ziel der Schiedsrichterausbildung geht dahin, eine weitgehende
Übereinstimmung in der Spielauffassung zu erreichen, um damit
die Gleichheit der Schiedsrichterentscheidungen zu fördern.
Hier kommt alles auf die richtige Auffassung des Schiedsrichters
an.
(Quelle: Koppehel, C.: Der Schiedsrichter im
Fußball, Frankfurt a.M. 1961, S. 6-8.)
Ausbildung und Auswahl von Schiedsrichtern
Die Grundausbildung für Schiedsrichter-Anwärter
beansprucht im Allgemeinen 16-20 Unterrichtsstunden und führt
von theoretischen Grundlagen der Regelkenntnis zu praktischer Regelauslegung
und -anwendung. Am Ende eines Lehrgangs muss sich jeder Teilnehmer
einer Abschlussprüfung unterziehen. Diese Prüfung besteht
aus einem theoretischen Teil mit schriftlicher Beantwortung von
Regelfragen und einem praktischen Leistungstest, in dem der Prüfling
seine physische Leistungsfähigkeit nachzuweisen hat. Nach bestandener
Prüfung werden die ersten Einsätze des neuen Schiedsrichters
beobachtet und beurteilt, anschließend erfolgt seine Eingliederung
in die Schiedsrichtervereinigung und mit der Aushändigung des
Ausweises seine offizielle Anerkennung als Schiedsrichter.
Einsatz- und Aufstiegsmöglichkeiten der Schiedsrichter
sind ähnlich wie im Fußball-Spielbetrieb geregelt. Durch
die zuständigen Schiedsrichterausschüsse werden alle Schiedsrichter
in Leistungsklassen eingeteilt. Auf- und Abstieg innerhalb dieser
Klassen richten sich nach den Leistungen bei der Leitung von Spielen
und nach den Regelkenntnis-Überprüfungen während
der regelmäßigen Schulungen.
Um die praktischen Leistungen der Schiedsrichter
beurteilen und bewerten zu können, werden sie durch Mitglieder
der Schiedsrichterausschüsse beobachtet. In höheren Klassen
führen ehemalige Schiedsrichter mittels ausführlicher
Beobachtungsbogen die regelmäßige Überprüfung
der Schiedsrichterleistungen durch. Diese Beobachtungsbogen werden
über den zuständigen Schiedsrichter-Obmann an den betreffenden
Schiedsrichter weitergeleitet und ermöglichen es diesem, seine
Fehler zu erkennen und abzustellen. Die Auswertung dieser Beobachtungsbogen
bildet später die Grundlage für die Einstufung des Schiedsrichters
in verschiedene Leistungsklassen.
(Quelle: Albrecht, D/Musahl, H.: Das Schiedsrichterphänomen
- ein Syndrom?, in: Albrecht, D.: (Hrsg.): Fußballsport. Ergebnisse
sportwissenschaftlicher Forschung, Berlin/München/Frankfurt
a.M. 1979, S. 37.)
Arbeitsaufträge:
-
Versuchen Sie aufgrund der in den Texten formulierten
Erwartungen an den Schiedsrichter dessen Funktion beim Fußballspiel
zu bestimmen.
-
Machen Sie Vorschläge, wie die Entscheidungsfähigkeit
des Schiedsrichters "trainiert" werden kann. Beachten
Sie dabei, dass jede Entscheidung aus einem Zusammenspiel von
Tatbestand und Sachverhaltsfeststellung besteht und dass typische
Fehler vermieden werden müssen.
-
Worauf wird in den Ausbildungsvorschlägen
des Autors Wert gelegt? Vergleichen Sie ihre Vorschläge
damit.
-
Versuchen Sie, anhand der nachfolgend aufgeführten
Vergleichsgesichtspunkte und Ihres bisherigen Wissens über
richterliches Handeln, (vermutete) Gemeinsamkeiten und Unterschiede
in der Tätigkeit eines Schiedsrichters und eines Richters
festzuhalten. Notieren Sie die Fragen bezüglich des Rechts,
zu denen Sie durch diesen Vergleich veranlasst werden. Vergleichsgesichtspunkte
sind: Genauigkeit der Regeln, Umfang des Ermessensspielraums,
Art und Weise der Wahrnehmung der entscheidungsrelevanten Sachverhalte,
Fehlerquellen der Entscheidung, Revidierbarkeit der Entscheidung,
Begründung von Entscheidungen, Nachvollziehbarkeit des
Entscheidungsvorgangs.
Hinweis:
Der Vergleich zwischen Richter und Schiedsrichter
soll deutlich machen, welche Elemente bei einer Entscheidung zusammenspielen
müssen. Zu beachten ist, dass ihre beiden Rollen ansonsten
sehr unterschiedlich sind. So soll hier z. B. nicht der Eindruck
erweckt werden, Richter hätten wie Schiedsrichter den Kampf
zwischen den Parteien (z.B. Verteidigung und Anklage) zu leiten.
Für das angloamerikanische Recht mag der Vergleich auch in
dieser Hinsicht zutreffend sein (s. die Rolle des Richters in US-Spielfilmen).
Für die deutsche Rechtstradition ist dieses Rollenverständnis
wesensfremd. Der Strafrichter gestaltet den Strafprozess mit und
hat sich daher z.B. aktiv in die Klärung der Sachverhaltsfragen
einzuschalten und darf dies nicht allein der Verteidigung oder der
Staatsanwaltschaft überlassen.
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