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Mit dem neuen Schuljahr stellt sich wieder die drängende Frage: Sollen statt bauchfreier Tops vielleicht doch besser Schuluniformen Pflicht werden? Eine Güterabwägung

Von Harald Martenstein

Zwei Debatten, die in Deutschland seit einiger Zeit geführt werden und die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben: die Gebissbezahldebatte und die Schuluniformdebatte. In der Gebissbezahldebatte geht es darum, ob wir in Zukunft unseren Zahnersatz hundertprozentig selber finanzieren. Die Gegner dieser Sparmaßnahme sagen: »Man soll nicht am Gebiss erkennen können, ob jemand arm oder reich ist.« Wieso eigentlich nicht? Ob jemand arm oder reich ist, erkennt man an der Kleidung, an der Brille, am Auto, an der Wohnung, an dem Viertel, in dem die betreffende Person lebt, an der durchschnittlichen Lebenserwartung… Warum darf man's nicht auch am Gebiss erkennen?

Vielleicht geht es ja in der Gebissfrage um etwas anderes, Grundsätzlicheres. In Deutschland wurden soziale Unterschiede in den letzten Jahrzehnten eher versteckt, sensible Menschen genierten sich fast, Millionär zu sein. Wir waren, in unserem Alltag, relativ egalitär. Wir lagen in dieser Hinsicht näher bei Schweden als bei den USA.

Seit ein paar Jahren ändert sich das. Viele denken heute, zumindest tendenziell: Die Armen sind oft selber schuld, sie leisten eben zu wenig. Die Reichen haben es schon irgendwie verdient, reich zu sein. Die Neoliberalen meinen: Zu viel Mitleid bremst den Aufschwung. Diese Art des Denkens finden nicht alle gut. Solche Menschen sagen zum Beispiel den Gebiss-Satz und geben sich so als Romantiker zu erkennen. Neoliberale, ihr könnt uns alles nehmen – aber lasst uns wenigstens unser Gebiss. In der Schuluniformdebatte geht es ebenfalls um die Gleichheit. Aber sie kommt aus der entgegengesetzten Richtung. Es ist sozusagen eine sozialdemokratische Gegenoffensive. Sollen deutsche Kinder Schuluniformen tragen? Immer wieder finden Versuche statt, zum Beispiel vor zwei Jahren in einer Hauptschule und einem Gymnasium in Berlin oder im vergangenen Herbst in der Klasse 9b der Realschule Herkenrath, in einem Ortsteil von Bergisch Gladbach.

Die Versuche enden stets mit dem gleichen Ergebnis: Die Welt geht offenbar wegen der Einheitskleidung nicht unter, die Schüler finden ihre Uniform ganz okay, obwohl es am Anfang ein seltsames Gefühl ist, klar, in der letzten Woche aber klagen die Schüler über Langeweile. In Herkenrath trugen sie nicht direkt eine Uniform, lediglich schwarze Strickjacken, weiße T-Shirts und Jeans. In Berlin waren es Sweat-Shirts.

Wie viel Freiheit, wie viel Gleichheit wollen wir haben? Ist Deutschland wieder ein normales Land? Es ist lustig zu sehen, wie aus den großen politischen Themen einer Umbruchzeit in null Komma nichts kleine Themen des Alltags werden und wie die Fronten sich verschieben.

Vor ein paar Jahren stand die Schuluniform-Debatte noch im Schatten der Geschichte. Deutsche Kinder in Uniform? Hitlerjugend! FDJ! Das hat stark nachgelassen. Die Gegner der Uniform argumentieren nicht mehr mit dem „Dritten Reich“, sondern, ganz im Gegenteil, mit der Freiheit. Die Schuluniform, sagen sie, unterdrückt den kindlichen Individualismus.

Kaum zu glauben: Die Schuluniform wird heute tatsächlich als ein eher linkes Projekt wahrgenommen. Schuluniformen gelten als Mittel gegen den »Markenfetischismus« der Kinder und gegen den Konsumterror (schönes, altes 70er-Jahre-Wort!). Schuluniformen verwischen den Unterschied zwischen reichen und armen Elternhäusern. Sie bringen, wie ein Berliner Lehrer sagte, die Schüler dazu, »endlich nicht mehr über Markenlabels zu fachsimpeln, sondern sich über die wirklich wichtigen Dinge im Leben zu unterhalten«, was für Dinge das auch immer sein mögen.

Man muss sich einen Schulhof vorstellen. Große Pause. Alle Kinder in Uniform. Sie stehen mit ernsten Gesichtern beisammen und reden über ihre Gesundheit. Denn Gesundheit ist das Allerwichtigste.

In den Umfragen steigt die Beliebtheit der Schuluniform. In Herkenrath waren zuletzt etwa 50 Prozent dafür. In Berlin gehören zu den Uniformbefürwortern der ehemalige Wirtschaftssenator und PDS-Chef Gregor Gysi sowie der ehemalige Kultursenator und CDU-Politiker Christoph Stölzl. Es versteht sich, dass jemand wie Stölzl auch das eine oder andere konservative Argument in sein Lob der Schuluniform einflicht – Uniformen als »Symbol für den Willen zu Leistungseliten« und als Symbol für »Gemeinschaftsgeist«.

Die Uniform soll außerdem ein Mittel gegen die zunehmende Sexualisierung des Schulalltags sein, gegen die bauchfreie Mode, gegen den gepiercten Nabel und das, was der Bremer Bildungssenator Willi Lemke die »Sexbomben-Invasion« auf den Schulhöfen nennt.

Die Erfahrung zeigt allerdings, dass Individualismus, Modeterror und das Lolita-Phänomen sich selbst unter widrigsten Bedingungen ihren Weg bahnen.

In England, wo die Uniform zum Kernbestand der Nationalkultur gehört, sah sich in diesem Sommer eine Rektorin genötigt, das Tragen von Stringtangas zu verbieten. Die Schülerinnen – Elfjährige! – ziehen die Hosen oder Röcke ihrer Uniform so weit nach unten wie möglich, die Tangastrings dagegen werden möglichst weit nach oben gezogen. Auf diese Weise sieht der Betrachter, welche Art von Unterbekleidung das Mädchen anhat, und kann sich darüber Gedanken machen, nicht zuletzt sexuelle.

Unser Kind (11) spricht sich eindeutig für die Schuluniform aus, hauptsächlich wegen des Gemeinschaftsgefühls. Man gehört zu einer Schule und ist stolz auf sie und trägt das Gleiche wie die Oberprimaner. Außerdem: Harry Potter. Die Harry-Potter-Bücher und -Filme haben das britische Schulwesen in deutschen Kinderkreisen populär gemacht, in seinen sämtlichen Facetten.

Und der Vater?

Ich habe Kopfschmerzen. Ich gehe zu meinem Kind und sage: Die Welt von heute hat mit der Welt, in der ich einst aufgewachsen bin, nichts mehr zu tun. Ich verstehe sie nicht mehr. Die Linken und die Wertkonservativen wollen euch Kinder in Uniformen stecken, um euch vor der kapitalistischen Verführung zu schützen. Ihr findet das super. Ich finde es, je länger ich darüber nachdenke, eigentlich auch super.

Wenn aber Uniformen dazu gut sind, um den ekelhaften Marken-Konkurrenzkampf wegzukriegen, warum sollen dann nur Kinder welche tragen? Warum keine Betriebsuniformen? Hausuniformen? Generationsuniformen? Werden wir dann endlich relaxter? Reden wir öfter über unsere Gesundheit? Die Liberalen dagegen nehmen uns Alten unsere Gebisse weg. Werden wir uns ohne Gebiss, wenn kühl der Abendwind durch unsere hohlen Backen streicht, wirklich freier fühlen?

Nur eine einzige Sache ist noch genau so wie in meiner Jugend. Die reichen Leute haben eine Menge Probleme. Aber, weißt du, für die Armen ist es auch nicht immer einfach.

(Quelle:Martenstein, H.: Freiheit, Gleichheit, Kleiderstreit, in: Die Zeit, 14.08.2003, http://zeus.zeit.de/text/2003/34/Titel_2fSchuluniform_34, abgerufen am 13.11.2006.)

www.zeit.de

 

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Kriterien:

  • Sozialverträglichkeit,
  • Würde des Menschen,
  • Gleichheit,
  • Freiheit,
  • Individualität,
  • Gemeinschaftssinn/ Solidarität.

Sachverhalte/ zu klärende Sachverhaltsaussagen:

  • In den Umfragen steigt die Beliebtheit der Schuluniform zur Zeit noch an. In Herkenrath waren zuletzt etwa 50 Prozent der Schüler dafür.
  • Kann die im Text angedeutete Paralleldebatte (Gebissdebatte) neue Punkte für die Schuluniformdebatte aufwerfen?
  • Wenn Schuluniformen aus pädagogischen Gründen der Gleichheit angeschafft werden, warum soll dann nicht eine Einheitskluft in allen Lebensbereichen befürwortet werden?
  • Sind Schuluniformen ein Mittel gegen Sexualisierung des Schulalltags? Welche Kleidervorschriften müssten zusätzlich erlassen werden (siehe Strings in England)?