Regeln der Urteilsbildung - Beispiel

Diskussion zur Handhabung der Regeln der Urteilsbildung


Diskussion zur Handhabung der Regeln der Urteilsbildung (nach oben)

Transkription

Frage 1: Warum sollen die sieben Regeln der Urteilsbildung eingeführt und beachtet werden?

M: Urteilsbildung ist eines der wichtigsten Erziehungsziele, aber eine einfache und praktikable Arbeitsanleitung zur Erstellung eines Urteils fehlt. Diese Lücke wird durch die sieben Regeln geschlossen. Der Prozess der Urteilsbildung lässt sich entlang der sieben Regeln gut gliedern. Damit wird sichergestellt, dass alle wichtigen Aspekte beachtet und Fehler vermieden werden. Ein gut begründetes Urteil kann so das Ergebnis einzelner Arbeitsschritte sein. Würde es die Regeln nicht geben, könnte die Beliebigkeit vorläufiger Urteile nicht überwunden werden.

S: Meiner Ansicht nach werden einige der sieben Regeln bei jeder Urteilsbildung schon unbewusst berücksichtigt. Die Bewusstmachung der sieben Regeln ist aber ein wichtiger Schritt, Schülerinnen und Schülern die Qualität von Urteilen deutlich zu machen. Es geht darum, dass die Schülerinnen und Schüler erkennen, dass zwar Spontanurteile gefällt werden sollen und können, es für ein fundiertes und diskutables Urteil aber erforderlich ist, bestimmte Arbeitsschritte bewusst zu vollziehen.

WS: Wichtig scheint mir auch zu sein, Urteilsbildung nicht als eine Aufgabe anzusehen, die nur von einem Einzigen erbracht wird, sondern auch als eine Gemeinschaftsaufgabe, in der andere Personen mitwirken sollten. Gemeinsame Arbeit am Urteil setzt voraus, sich vor Beginn der Urteilsbildung auf Regeln zu verständigen. So kann die Arbeit am Urteil als sozialer Prozess organisiert werden. Wenn jeder weiß, vorauf es ankommt, kann sich jeder auf den anderen verlassen und die Urteilbildung kann arbeitsteilig geschehen. Oder, wenn ich beispielsweise keine Zeit habe, mich in ein komplexes Thema einzuarbeiten, aber auf ein Urteil zurückgreifen kann, das von jemandem nach der bekannten Struktur erarbeitet wurde, dann kann ich mich sehr schnell in das Urteil einarbeiten und sehe sofort, wo gut gearbeitet wurde, wo Schwachpunkte sind und wo noch nachgearbeitet werden muss. Außerdem kommt es häufig vor, dass man bei komplexen Fragen in manchen Aspekten mit den Urteilen eines anderen übereinstimmt und in manchen Aspekten nicht. Herauszubekommen, woran diese unterschiedliche Einschätzung liegt, scheint mir mit Hilfe der sieben Regeln leicht möglich zu sein. Liegt es an den Normen, hat man Normen unterschiedlich gewichtet und ist also aufgrund der unterschiedlichen Gewichtung der Normen zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen? Oder schätzt man die Sachverhalte unterschiedlich ein? Am Beispiel der Schuluniform: Wenn man Disziplin, Effektivität und ein gutes Lernklima für das A und O von schulischem Unterricht hält, ist es verständlich, dass man alle störenden Elemente, vom Gerangel bis hin zum Mobbing wegen unterschiedlicher Kleidung, eliminieren möchte. Aber wenn man sagt, Schule hat auch viele andere erzieherische Aufgaben zu lösen, dann würde man zwar die Verbesserung des Schulklimas akzeptieren, könnte aber auch sagen, etwa die Erziehung zur Mündigkeit, zur Freiheit, zur Selbstständigkeit und zur sozialen Rücksichtnahme sind genauso wichtig. Man käme also wegen der unterschiedlichen Gewichtung der Normen zu unterschiedlichen Urteilen. Die Transparenz des Urteilsprozesses macht also deutlich, wo Übereinstimmungen bestehen und wo nicht. Das führt dazu, dass eine weitere Arbeit am Urteil in der Diskussion möglich wird.

Frage 2: An welchen Stellen war es im Prozess der Urteilsbildung hilfreich oder nützlich die Regeln zu befolgen?

M: Grundsätzlich während des gesamten Prozesses, da die Regeln ja dazu zwingen, genau zu arbeiten. Besonders hilfreich ist für mich Regel 4, das Bilden von Detailurteilen. Hier liegt das Problem meiner Meinung nach darin, dass man ohne die Regel häufig geneigt sein könnte, zunächst ein Gesamturteil zu bilden, das einem gefällt und erst danach nach passenden Detailurteilen zu suchen. Die Regel 4 veranlasst nun dazu, wirklich erst zu den verschiedenen Normen einzelne Detailurteile und dann auf dieser Basis ein Gesamturteil zu bilden. Man muss sich also auf jeden Fall mit allen Aspekten befassen und erhält so möglicherweise, zumindest wenn man ehrlich zu sich selbst ist, ein anderes Urteil als das spontan gefällte.

S: Auch ich finde Regel 4 sehr wichtig. Gerade auch den Punkt, sich neutral die einzelnen Sachverhalte anzuschauen und entlang der Kriterien Detailurteile zu fällen, ohne sich bereits auf ein Gesamturteil festgelegt zu haben. Das ist die nüchterne Perspektive des Kriminalisten, der Indizien sucht, und natürlich auch die des empirisch-analytisch auftretenden Wissenschaftlers. Wichtiger finde ich aber noch die Bewusstmachung der Gewichtung, den ersten Teil der Regel 5. Dass mir also, wenn ich zum Gesamturteil komme, sehr klar wird, welche Kriterien für mich die bedeutenden Kriterien sind. Ich denke, die Bildung einer Rangfolge von Kriterien und darauf basierend die des Gesamturteils, ist wichtig für einen anschließenden Diskurs mit anderen. Differenzen können so leicht sichtbar werden. Neue Sachverhalte können den formulierten Detailurteilen bzw. den Kriterien zugeordnet werden. Ich habe so auch eine Struktur, im Diskurs zu reagieren. Die Gewichtung der Detailurteile finde ich also gerade auch im Hinblick auf die Veröffentlichung und den Diskurs besonders wichtig.

WS: Urteilsbildung ist ein lebendiger Prozess, daher finde ich es wichtig, Leute, die in die Urteilsbildung einsteigen wollen, also Schülerinnen und Schüler, darauf aufmerksam zu machen, dass es deutliche Unterscheidungen zwischen normativen Kriterien und Sachverhaltsaussagen gibt. Ich halte es für ein Kennzeichen des modernen Denkens, dass eine strikte Trennung von Aussagen über das Sein und Aussagen über das Sollen stattfindet. Das kann man am Prozess der Urteilsbildung sehr gut didaktisieren. Das ist im Ansatz intuitiv so vorgesehen, aber Schülern und Schülerinnen, manchen Referendaren und manchen Lehrern ist nicht klar genug geworden, dass normative Kriterien und Sachverhaltaussagen zwei Perspektiven sind, die eingenommen werden sollen, und dass man diesen Perspektivenwechsel lernen muss. Deshalb ist es wichtig, diese Regeln zu beachten, denn wenn man die Differenz zwischen Sein und Sollen nicht beachtet, kommt der Prozess der Urteilsbildung nicht in Gang und man sucht "in der Sache selber" nur eine gute Lösung mit fatalen Folgen für die Urteilsbildung. Man würde beispielsweise fragen: Was ist ein guter Staat? Das ist aber nicht sinnvoll. Man muss vielmehr Kriterien haben, denn erst dann kann man beurteilen, ob ein Sachverhalt gut oder schlecht ist. Am Beispiel der Schuluniformen kann man sehr gut deutlich machen, was damit gemeint ist. Die Befürworter von Schuluniformen haben sicher eine Fülle von Argumenten, um zu erklären, warum ihrer Meinung nach die Einführung von Schuluniformen eine gute Sache sei. Aber durch die Trennung von Sein- und Sollens-Aussagen wird deutlich, dass ein Argument, dass etwas gut ist, nur deshalb gut ist, weil man sich auf bestimmte normative Kriterien bezieht und die Sachverhalte darauf Bezug nehmen lässt. Menschen frühzeitig zu vermitteln, dass Denken in zwei unterschiedlichen Perspektiven möglich und notwendig ist, ist meiner Meinung nach eine vornehme Aufgabe der politischen Bildung in der Schule. Dieser Gedanke ist auch das Kernstück des Modells der politischen Urteilsbildung. Wenn dieser übersehen wird, bleibt Urteilsbildung eher archaisch. Gute Schule, gute Lehrer, gute Schüler, guter Unterricht, gute Schulkleidung, gute Staatsbürger etc.

Frage 3: Welche Bedeutung kommt den normativen Kriterien im Prozess der Urteilsbildung zu?

M: Meiner Meinung nach sind die normativen Kriterien zentral für den gesamten Prozess, da sie diesen strukturieren. Sie bieten die relevanten Gesichtspunkte für die Recherche nach Sachverhalten an.

S: Das sehe ich etwas anders. Nach meiner Auffassung ist es eher so, dass sich die normativen Kriterien aus den vorhandenen Sachverhalten ableiten lassen.

M: Aber die normativen Kriterien ergeben sich doch bereits aus dem konkreten Entscheidungsfall. Wenn ich beispielsweise entscheiden soll, ob ich mich für oder gegen Kernkraft ausspreche, fällt mir doch sofort das Kriterium Sicherheit ein, ich weiß also sofort, worum sich der Streitpunkt drehen könnte: Sind Kernkraftwerke sicher genug (angesichts des Gefahrenpotenzials)? Und erst hiernach recherchiere ich Sachverhalte, die mich darüber aufklären, wie sicher ein Kernkraftwerk ist.

S: Aber erstens stützt man sich bei der Herausarbeitung des Konfliktes bereits auf bekannte Sachverhalte und zweitens könnte die Recherche nach Sachverhalten zu neuen normativen Kriterien führen, z.B. Lösung des Entsorgungsproblems.

M: Also stehen normative Kriterien und Sachverhalte in einer wechselseitigen Beziehung, in der beide Aspekte den Ausgangspunkt für den jeweils anderen Aspekt bilden können. Aber die Relevanz wird durch die normative Vorgabe gesteuert.

WS: Hier wird in besonders lebhafter Weise deutlich, dass tatsächlich eine wechselseitige Beziehung besteht. Von der Struktur der Argumentation ist es doch wunderbar, wenn man beispielsweise nicht nur sechs normative Kriterien, sondern durch die Auseinandersetzung mit Sachverhalten schließlich acht normative Kriterien zur weiteren Arbeit am Urteil zur Verfügung hat. Die Qualität eines Urteils wird so auf jeden Fall deutlich besser. Es lässt sich also zwischen der Genese und der Gültigkeit von normativen Kriterien sehr gut unterscheiden. Egal mit welchem Vorwissen man die Urteilsbildung beginnt und wie viele normative Kriterien einem zu Beginn zur Verfügung stehen – Sorgen muss man keine haben, dass das Urteil schlecht ausfallen könnte, weil zu wenige Kriterien vorhanden sind. Das auch deshalb, weil man sein Urteil anderen vorlegt, die einen dann darauf aufmerksam machen, welche normativen Kriterien möglicherweise noch fehlen. Das Urteil kann dann von mir ohne Schwierigkeiten verbessert werden. Wichtig ist es immer, nicht gleich zu Beginn ein perfektes Urteil vorlegen zu wollen, sondern sich der Fehler, die man bei der Urteilsbildung machen könnte, bewusst zu werden. Man kann an drei Stellen Fehler machen, und zwar: bei der Auswahl der normativen Kriterien, bei der Auswahl der Sachverhalte und schließlich bei der Verbindung von Kriterien und Sachverhalten. Strukturierend für den ganzen Prozess der Urteilsbildung sind sicher die normativen Kriterien.

S: Normative Kriterien tragen nach meiner Meinung wesentlich zur Abstraktion bei. So kann vermieden werden, sich in Details und unwichtige Nebenaspekte zu verstricken. Sicher können auch manche Kriterien übertragen werden auf andere Entscheidungsfälle. Vor allem dann, wenn ähnliche Kriterien berücksichtigt werden müssen. Wichtig finde ich auch, dass der Urteilsbildungs-Prozess an Hand von Kriterien bearbeitbar und überarbeitbar wird. Neue Sachverhalte können problemlos Kriterien zugeordnet werden. Oder es lassen sich aus neuen Sachverhalten auch neue Kriterien ableiten.

WS: Für die Steuerung des Arbeitsprozesses sowie die Präsentation des Urteils ist es also enorm wichtig, über normative Relevanz-Gesichtspunkte zu verfügen. Diese sind durch die normativen Kriterien gegeben, wie sie in Regel 2 erarbeitet werden.

Frage 4: Ist es sinnvoll, Urteile immer nach den Regeln der Urteilsbildung zu fällen, oder können sie auch ohne die Regeln gebildet werden? Hilft es, die Regeln anzuwenden, um die Qualität von Urteilen zu verbessern?

M: Es ist wohl weder sinnvoll noch praktikabel, bei jeder Entscheidung, die man im Leben zu treffen hat, den gesamten Prozess der Urteilsbildung zu durchlaufen. Dieses ist nach meiner Ansicht aber auch nicht unbedingt notwendig, da bei jedem Urteil, das formuliert wird, auch unbewusst die Regeln beachtet werden. Wenn man den Prozess der Urteilsbildung kennt und ihn vielleicht auch schon an verschiedenen Entscheidungsfällen bewusst nachvollzogen hat, neigt man wahrscheinlich besonders dazu, die Regeln der Urteilsbildung auch in Alltags-Entscheidungen deutlicher einzubeziehen. Grundsätzlich kann man nach meiner Ansicht sagen: Je wichtiger eine Entscheidung ist, desto sinnvoller ist eine planvolle und gründliche Berücksichtigung der Regeln der Urteilsbildung. Die Qualität von Urteilen wird nämlich durch die genaue Beachtung der Regeln verbessert.

S.: Ja. Ich bin auch der Meinung, dass man die Regeln der Urteilsbildung bei jeder Entscheidung in einem gewissen Maß schon immer berücksichtigt, allerdings findet eine gezielte Recherche der Sachverhalte und die bewusste Berücksichtung von Kriterien selten statt. Deshalb meine ich, dass die Regeln der Urteilsbildung immer dann besonders zu berücksichtigen sind, wenn einem das Ergebnis besonders am Herzen liegt. Das kann in gesellschaftlichen oder politischen Zusammenhängen sein, wie etwa bei der Einführung von Schuluniformen, das kann aber auch im privaten Bereich sein, zum Beispiel beim Kauf eines Computers. Die Anwendung ist meines Erachtens insbesondere dann sinnvoll, wenn das formulierte Urteil eine Diskussion anstoßen soll. Man wird aber sicher nicht bei jeder anstehenden Entscheidung ein nach allen "Regeln der Kunst" ausformuliertes Urteil anfertigen müssen.

WS: Zwei Aspekte würde ich gerne noch ergänzen. Im Fernsehen ist das Diskutieren und das Sich-Selbst-Präsentieren durch neue Formate en vogue geworden. Aber selbst wenn man sich eine gute Sendung, wie etwa "Hart aber fair", anschaut, dann sieht man eher, dass hier überwiegend die Inszenierung von Positionen/Personen stattfindet. Noch nie habe ich beobachtet, dass der Prozess, wie man zur Beurteilung von kontroversen Fragen gelangt, offen gelegt wird und dass man sieht, wie man sich durch Argumente langsam der Lösung strittiger Fragen annähern kann. Das ist sicher keine vermessene Aufgabe, auch wenn man den Unterhaltungswert mindert, aber dadurch den didaktischen und sachlichen Gehalt einer Auseinandersetzung erhöht. Es kann ja eine attraktive Aufgabe des Unterrichts in der Schule sein, Schülerinnen und Schülern anhand von Beispielen zu zeigen, dass man, wenn man ein wenig Zeit in die kontroverse Beurteilung eines Falles investiert, mit vertretbarem Aufwand zu guten Urteilen kommt. Damit lernt man auch, der Kraft der eigenen Vernunft zu vertrauen. Wir sollten nicht nur danach fragen, welche Interessen hinter den "Dingen" stecken. Wir neigen heute ja bei der Beurteilung von Sachverhalten und kontroversen Themen dazu, erst einmal zu schauen, welche Interessensgruppen welche Meinungen vertreten, und erst dann einzuschätzen, wie man sich selbst positioniert. Im Prozess der Urteilsbildung, und das ist auch die Stärke, versucht man selbst ein Urteil zu bilden und sich dabei auf das gekonnte Zusammenspiel von normativen Kriterien und Sachverhalten einzulassen. Insofern bedeutet der Ansatz eine enorme Reduzierung der Argumentation von bloßen Worthülsen, leeren Phrasen und rhetorischen Finessen. Es gibt zur Zeit ja genügend Personen, die ausschließlich mit ihrer rhetorischen Begabung die Diskussionspartner ganz alt aussehen lassen, sachlich aber total uninformiert sind. Unser Prozess der Urteilsbildung ist sozusagen das „Arbeitsmodell des kleinen Mannes“, der sich solide an Probleme heranwagt und darauf vertraut, dass seine kritische Beurteilung auch einen Wert hat. Dieses Modell im Unterricht stark zu machen, wäre also sehr wertvoll, damit Schülerinnen und Schüler die positive Erfahrung sammeln können, wie man zu eigenen tragfähigen Urteilen gelangt. Natürlich ist es angesichts des Kampfes um die mediale Aufmerksamkeit kaum vorstellbar, dass das Modell jemals zur Strukturierung von Fernsehsendungen beitragen wird. Also, "Hart aber fair" nach den Regeln der Urteilsbildung funktioniert nicht, weil der Unterhaltungswert zu gering ist. Aber ein paar Elemente des Modells in einer solchen Sendung unterzubringen, wäre nicht schlecht. Da aber Unterricht noch nicht unter den gleichen Zwängen wie Fernsehsendungen steht (Einschaltquoten), kann hier Schülerinnen und Schülern an Hand von Beispielen diese Struktur vermittelt werden, die dann auch auf andere Fälle transferiert werden kann. Damit könnte Öffentlichkeit wieder einen anderen Stellenwert bekommen. Wenn Personen, die sich an der öffentlichen Diskussion beteiligen, nicht nur auf Selbstdarstellung und Rhetorik, sondern auch auf qualitativ gute Argumente und Urteile achten, wäre das wunderbar.

Zudem ist wichtig, dass man trotz der Sorgfalt, die man auf die Entwicklung von Urteilen legt, nicht vernachlässigen darf, dass gut begründete Urteile noch lange nicht zu Akzeptanz und entsprechendem kollektiven Handeln in der Gesellschaft führen. Akzeptanz hängt von etwas ganz anderem ab! Diesen Zusammenhang zu untersuchen, fände ich interessant. Also zu untersuchen, wodurch und wie man die Akzeptanz von gut begründeten Urteilen erreichen kann. Ich glaube nicht, dass man sagen kann: Wir bilden ein Urteil nach den sieben Regelen und dann verändert sich die Welt. Vielmehr muss man sich politisch engagieren, sich zusammenschließen, Mehrheiten und Minderheiten berücksichtigen und gucken, wie man sich in den politischen Alltag hineinstürzt und sich dort behauptet, wenn man begründete Urteile gefällt hat.

S: Was mir hier noch einfällt, ist, dass das Modell der Urteilsbildung den Schülerinnen und Schülern deutlich macht, dass es nicht schlimm ist, auch einmal ein falsches Urteil zu bilden. Die Bereitschaft, zunächst einmal ein Spontanurteil zu fällen, ist ja nicht immer gegeben, weil man sich häufig erst gar nicht zutraut, ein Urteil zu fällen. Das Konzept nimmt diese Scheu, weil die Regeln erlauben, ein fundiertes Urteil zu erarbeiten. Das scheint mir wichtig zu sein, um etwas freier zu werden.

WS: Interessant sind auch noch Kompetenzstufen der Urteilsbildung. Kompetenzstufe 0 wäre, wenn jemand nur "aus dem Bauch heraus" sein Urteil fällt und keine oder kaum Argumente anführt. Bei Kompetenzstufe 1 kann derjenige, der urteilt, einige Gründe anführen. Dies wäre die Ebene des Spontanurteils. Stufe 2 ist dann gegeben, wenn der Urteilende nicht nur eine Entscheidung trifft und Gründe nennt, sondern über eine Struktur (Regeln) verfügt, mit der die Bearbeitung von Urteilen systematisch erfolgen kann und die anzeigt, worauf zu achten ist, um Fehler zu vermeiden. Dies wäre dann unser Angebot – eine deutliche Steigerung gegenüber unbegründeten Urteilen, aber auch der argumentativ gestützten Entscheidung ohne Regeln. Bei Kompetenzstufe 3 kennt jemand nicht nur die Regeln, sondern arbeitet auch bewusst danach und braucht für die Bildung eines Urteils eine gewisse Zeit. Und in der Kompetenzstufe 4 macht sich der Urteilende zudem bewusst, dass er im Prozess der Urteilsbildung, was das Wissen, die normativen Kriterien und auch die Arbeitsweise betrifft, selbst immer auch "einseitig" ist und dass deshalb der Austausch mit anderen für die Qualität des Urteils sehr wichtig ist. Er wird also beherzigen, dass gezielte Kommunikation mit anderen notwendig ist, um die Defizite, die sein Urteil enthalten, zu beheben. Dies halte ich für eine wichtige Maßnahme zur Qualitätssteigerung der politischen Urteile. Man könnte sogar noch eine negative Kompetenzstufe einführen. Diese würde dann den Zustand bezeichnen, dass jemand überhaupt nicht zu einem Urteil bereit ist. Dies ist übrigens gar nicht so selten und wird durch die Intellektualisierung unseres Alltags noch verstärkt – die Ohnmacht der Meinungslosen.