Regeln der Urteilsbildung - Hintergrund

Der verfassungsgebende Akt

 

Der verfassungsgebende Akt (nach oben)

Bevor sich der Urteilende einem konkreten Konfliktfall oder Problem zuwendet, muss er gleichsam in einem verfassungsgebenden Akt dafür sorgen, dass sich die Urteilsbildung, d.h. die Überwindung von Vor-Urteilen (1), in einem vernunftgemäßen Verfahren vollzieht (2). Zum verfassungsgebenden Akt gehört es,

  • dass der Urteilende für politisch-moralische Entscheidungen verantwortlich sein will und sich selbst für die Letztbegründung für zuständig hält (Heautonomie);
  • dass er die theoretische von der praktischen Perspektive sorgfältig unterscheidet;
  • dass die theoretische Perspektive nur zur Klärung von Sachverhaltsfragen (quaestio facti) eingesetzt werden darf;
  • dass die Frage nach der Rechtmäßigkeit von Handlungsmaximen (quaestio iuris) letztlich nur innerhalb der praktischen Perspektive beantwortet werden kann;
  • dass der praktischen Vernunft vor der theoretischen Vernunft ein Vorrang einzuräumen ist;
  • dass der oberste Maßstab zur Beurteilung von Maximen des Handelns der kategorische Imperativ ist;
  • dass die Gültigkeit von Sachverhaltsaussagen und die Rechtmäßigkeit von Handlungsmaximen von der Intensität der Prüfung gemäß dem modus tollens abhängig ist;
  • dass er bereit ist, die Gründe für die Entscheidungen darzulegen, so sie von anderen diskutiert und im Falle der Gültigkeit übernommen, im Falle der Ungültigkeit revidiert werden können (das Prinzip der Öffentlichkeit). (3)

(W. Sander: Effizienz und Emanzipation. Prinzipien verantwortlichen Urteilens und Handelns. Eine Grundlegung zur Didaktik der politischen Bildung., Opladen 1984, S. 269.)

Fußnote

(1) 1. Der Begriff "bevor" im Sinne von "immer schon" (a priori) ist nicht so sehr zeitlich, als vielmehr rechtlich zu verstehen: Das praktische Fundament muß gelegt sein, bevor der Urteilsspruch erfolgt. Das schließt nicht aus, daß während des Prozes ses der Urteilsbildung eine "Nachbesserung" der Grundlegung, d.h. eine Präzisierung der entscheidungsrelevanten Kriterien erfolgt, falls dies erforderlich sein sollte. - Unterrichtspraktisch bedeutet dies: Der verfassungsgebende Akt muß nicht notwendigerweise in vollem Umfang schon zu Beginn einer Unterrichtsreihe stattfinden. Anders bei der Urteilsbildung im Strafrecht. Dort gilt der Grundsatz: "Eine Tat darf nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde." (Art. 103, Abs. 2 GG; vgl. Art. 20, Abs. 3 GG) 2. Im Unterschied zum Richterspruch geht das politisch-moralische Urteil der Ausführungshandlung voraus Richterliches Urteilen bezieht sich auf vergangenes Handeln (vgl. K. Engisch, 1960, S. 42, S. 53), polititsch-moralisches Urteilen auch auf Zukünftiges. 3. Wenn hier von Urteilsbildung als Überwindung von Vor-Urteilen gesprochen wird, dann wird der Terminus "Vor-Urteil" nicht in Anlehnung an die in der Psychologie, Sozialpsychologie und Soziologie gebräuchliche Bedeutung, sondern in einem juridischen Sinne verwandt. In den empirischen Sozialwissenschaften wird in der Regel die Übereinstimmung von Aussagen mit der Wirklichkeit zum entscheidenden Maßstab von Vorurteilshaftigkeit der Aussagen gemacht. Statt vieler H.E. Wolff: "Demzufolge ist ein Vorurteil eine Aussage (Behauptung, Stellungnahme etc.) über einen Gegenstand, ohne daß dem Aussagenden die objektiven Sachstrukturen dieses Gegenstandes empirisch ausreichend bekannt sind oder von ihm berücksichtigt werden." (1979, S. 24) Ähnlich definiert H. v. Gizycki Vorurteile als "Dispositionen zu falschen, generalisierend bewertenden und behauptenden Urteilen, an denen festgehalten
wird, auch wenn der Wahrheitsanspruch des Urteils zureichend als abgewiesen gelten kann." (1972, S. 45) An der Art, wie in der Psychologie der Zusammenhang zwischen Wahrnehmen, Urteilen und Handeln erörtert wird, zeigt sich m.E. mit aller Deutlichkeit die Dominanz der theoretischen Vernunft (vgl. den Sam-melband von A. Thomas und R. Brackhane (Hrsg.), 1980). Verbesserung der Informationsbasis reicht entgegen der Auffassung vieler Autoren (s. H. Rampacher, 1978, Wilkening 1974 und Zangemeister 1978) nicht aus, um die praktische Qualität von Urteilen zu erhöhen. 4. Erste Ansätze zur Überwindung der kognitivistischen Engführung zeigen sich in der Pädagogik so z.B. bei O.F. Bollnow (1976), der darauf hinweist, daß zur Urteilsfähigkeit "nicht nur sachliches Wissen, sondern auch die Fähigkeit zur klaren Entscheidung" (s. S. 191) gehört. Jedoch wird die vom Urteil geforderte Gerechtigkeit der Entscheidung wiederum nur von der Sache her begründet. "Man spricht hier sinnvoll von einer Sachgerechtigkeit, die im Urteil notwendig angestrebt wird. Die Entscheidung, die im Urteil gefällt wird, geschieht also nicht aus dem Anspruch der natürlichen Interessen, sondern ausschließlich von der Sache her." (S. 192) So deutlich hier darauf hingewiesen wird, daß die "Erziehung zur Urteilsfähigkeit ... nicht auf dem Wege der Wissensvermittlung (als Unterricht oder als Information im weitesten Sinne) zu erreichen" ist (S. 195), so unklar ist, wie die "erkenntnismäßige und ethische Seite im Urteil" (S. 194) miteinander verbunden werden können. Demgegenüber geht das juridische Konzept von Urteil (und Vor-Urteil) von der Idee aus, daß beide Aspekte - richtige Aussagen über die Wirklichkeit und gerechte Wertungen - in der Rechtsprechung, wie noch zu zeigen sein wird, miteinander verknüpft werden müssen.

(2) 1. Diese Verfassungsgebung verhindert nicht nur die falsche Vorstellung, man könne oder solle politisch-moralische Entscheidungen innerhalb der empirisch-wissenschaftlichen Rationalität fällen, sondern schützt auch vor Überwältigungsversuchen von außen, z.B. durch politische Propaganda oder Indoktrination. (Zum Überwältigungsverbot in der politischen Bildung vgl. F. Minssen, 1973, S. 14; S. Schiele und H. Schneider 1977) Beachtet man die Bedeutung dieses verfassungsgebenden Aktes, so wird der Streit in der Politischen Bildung, ob Grundwerte verfassungswidrig seien (vgl. Ch. v. Krockow, 1979; 1980 und H. Boventer, 1980), hinfällig. 2. Das Gericht schützt sich vor äußeren Einflüssen dadurch, daß es z.B. Eingriffe in das laufende Verfahren zurückweist und Nötigungen des Gerichts - Contempt of Court - unter Strafe stellt (vgl. M. Kriele, 1976,S. 231).

(3) 1. Durch diesen verfassungsgebenden Akt unterscheidet sich das hier Vorgeschlagene Prozeß-Modell von den gängigen Strukturmodellen der politischen Urteilsbildung, die meistens mit der Wahrnehmung beginnen, die Beurteilung an den Schluß des Arbeitsvorgänge setzen und auf das explizite Aufstellen von Beurteilungskriterien verzichten (vgl. W. Hilligen 1975, S. 224; W. Gagel, 1967). 2. In diesem Akt sollte sich das vollziehen, was Kant die Revolution der Gesinnung nennt. Der Akt verhindert, daß sich Heteronomie schon in die Grundlegung moralischen Handelns einschleicht. Der Absolutismus der Wirklichkeit läßt sich nur überwinden, wenn das Sollen eigenständig begründet und nicht aus dem Sein abgeleitet wird. Würde auf diesen Akt verzichtet, wäre der erste Schritt in die Richtung getan, daß sich die Vernunft die Gesetze des Handelns von der Wirklichkeit vorschreiben läßt (vgl. z.B. B. Humes Gefühlsethik). 3. Die Schwierigkeit, die grundlegenden Regeln der Urteilsbildung den Subjekten bewußt zu machen, kann es nicht erübrigen, diesen Akt in rudimentärer Weise vorzuschalten. Wie dies möglich ist, hat Kant im "moralischen Katechismus" in elementarer Form gezeigt. Ähnliches kommt in der Maieutik der sokratischen Dialoge zum Ausdruck. Außerdem sei hier auf die Möglichkeit des Gedankenexperimentes hingewiesen.