Beweisaufnahme
(quaestio facti) (nach oben)
Der Urteilende hat sich sachkundig zu machen. Er
muss die Konfliktparteien hinsichtlich der in der Normhypothese
relevanten Tatbestände befragen und Sachverhaltsaussagen hinsichtlich
ihrer Glaubwürdigkeit (Gültigkeit, Objektivität,
Widerspruchsfreiheit und Zuverlässigkeit) (1) prüfen z.B.
durch Vergleich mit Expertenaussagen, durch Gutachten, durch Ortsbesichtigung,
durch Quellenstudium, durch Zeugenberichte etc. (2) Mit Hilfe der
theoretischen Vernunft (Kausalperspektive) ist es möglich, die
Positionen X und Y als funktionale Zusammenhänge zu betrachten
und in ihrer inneren Logik zu verstehen. (3) Der Urteilende muss
in der Lage sein, das Selbstverständnis der beiden Positionen
in wesentlichen Umrissen korrekt und unverkürzt darzustellen
(4), indem er die Z-A-S-Relationen der Position X der der Position
Y gegenüberstellt. Die Wirklichkeit wird aus unterschiedlichen
Perspektiven rekonstruiert und prognostiziert.
Eine Bewertung dieser gegensätzlichen Positionen hinsichtlich
der normativen Hypothese ist in diesem Stadium der Urteilsfindung
nicht gefordert. Jedoch sollte in der Beweisaufnahme deutlich werden,
wo Schwachstellen in den Sachverhaltsdarstellungen der Positionen
X und Y vorliegen. (Werden z.B. Sachverhalte behauptet, die nicht
beweisbar oder gar falsch sind? Werden Folgen und Nebenfolgen des
eigenen Handelns richtig eingeschätzt? Bestehen Unklarheiten
und Widersprüche in den Aussagen zu verschiedenen Zeitpunkten?)
Die Wirklichkeitsadäquatheit der Theorien, die die innere Logik
der Handlungsalternativen wiedergibt, kann durch kontroverse Diskussion
gefördert werden, indem man z.B. einmal unter Berücksichtigung
der verschiedenen Daten von der Perspektive X und dann von der Perspektive
Y aus die Handlungsalternativen darstellt. Durch Theorienpluralismus
und Perspektivenwechsel ("an der Stelle jedes anderen denken")
kann der Fehler der standpunktspezifischen Rezeption von Wirklichkeit
überwunden werden. Die Zurückstellung der Frage, wer recht
oder unrecht hat - dies kann als Wertfreiheit interpretiert werden
-, ermöglicht es im Stadium der Beweisaufnahme, die gegensätzlichen
Sachverhaltsdarstellungen der Parteien zunächst als Gegensätze
zu erkennen und schrittweise einer Klärung zuzuführen.
Die Fähigkeit zur Wahrnehmung und Erklärung von Wirklichkeit
ist kein Selbstzweck. Ihre Bedeutung ergibt sich aus ihrer Stellung
im Prozess der politisch-moralischen Urteilsbildung: Nur insoweit,
als von verschiedenen Seiten aus geprüft werden muss, ob Sachverhaltsaussagen
zutreffen oder nicht, sind analytische und theoretische Fähigkeiten,
wie sie vor allem in den empirischen Wissenschaften kultiviert werden,
erforderlich. (5)
Die Beweisaufnahme kann abgeschlossen werden, wenn die für
die Beurteilung relevanten Sachverhalte hinreichend geklärt
und die Entscheidungsalternativen (Position X und Position Y) hinsichtlich
der Hauptvariablen (Z, A, S) und deren Zusammenhang präzise
erfasst sind. Dabei sind nicht nur die unterschiedlichen Zielvorstellungen
und Maßnahmen, sondern vor allem die Konsequenzen herauszuarbeiten,
die sich mit den Positionen X und Y kurz- wie langfristig ergeben.
Ohne die Kenntnisnahme der zu erwartenden Folgen und Nebenfolgen
können die hier erkennbaren Alternativen nicht zusammenfassend
hinsichtlich ihrer Gültigkeit und Berechtigung beurteilt werden.
(W. Sander: Effizienz und Emanzipation. Prinzipien
verantwortlichen Urteilens und Handelns. Eine Grundlegung zur Didaktik
der politischen Bildung., Opladen 1984, S. 270-271.)
Fußnoten
(1) Dies sind die gängigen
Gütekriterien in der empirischen Sozialforschung. (Vgl. R.
Mayntz u.a., 1969)
(2) "Rein logisch genommen
ist die Tatsachenfeststellung im gerichtlichen Verfahren nahe verwandt
der historischen Tatsachenfeststellung. Wie der Historiker auf Grund
der ihm zu Gebote stehenden Quellen geschichtliche Tatsachen ermittelt,
so werden im gerichtlichen Prozess auf Grund der Erklärungen
des Angeklagten selbst, zu denen auch ein etwaiges Geständnis
gehört, und mit Hilfe der so genannten Beweismittel, nämlich
der Augenscheinsobjekte, Urkunden, Zeugen und Sachverständigen,
rechtserhebliche Tatsachen erschlossen." (K. Engisch, 1971,
S. 50f, vgl. S. 52f)
(3) Zur zusammenhängenden
Erklärung von Daten, die in diesem Vorgang gleichsam wie ein
Puzzle zusammengesetzt werden müssen, sind Theorien notwendig,
die die theoretische Vernunft z.B. in den wissenschaftlichen Bezugsdisziplinen
wie Soziologie, Ökonomie, Politik, aber auch in Alltagstheorien
zur Verfügung stellt. Im Anschluss an Kant lässt sich
sagen: Datenerhebung ohne Theorie ist blind, Theorie ohne Daten
ist leer. Wissenschaftliche Theorien und Begriffe haben, wie sich
hier wiederum bestätigt, nur einen funktionalen Stellenwert.
(4) Daraus ergibt sich das Recht
und die Pflicht für den Urteilenden, möglichst auf authentische
Zeugnisse zurückzugreifen. Das Recht des Richters auf eigenständige
Zeugenvernahme gemäß dem "Grundsatz der freien Beweiswürdigung"
wird in § 261 der Strafprozessordnung folgendermaßen
formuliert: 'Über das Ergebnis der Beweißaufnahme entscheidet
das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung
geschöpften Überzeugung." (Vgl. K. Engisch, 1971,
S. 53ff)
(5) 1. Je mehr die Analyse und
Erklärung von Wirklichkeit zur einzigen Aufgabe des politischen
Unterrichts wird, desto mehr wird der Begriff der Urteilsbildung
eingeengt auf die Klärung der quaestio facti; die quaestio
juris wird ausgeklammert oder als Appendix angehängt. Die Vermittlung
materialen Wissens und formaler (methodischer) Fertigkeiten rückt
dann immer mehr in den Mittelpunkt, aber die Durchführung und
Begründung von praktischen Urteilen und Entscheidungen werden
systematisch vernachlässigt. 2. Es ist zu prüfen, inwieweit
in den gängigen didaktischen Konzeptionen des politischen Unterrichts
die quaestio facti im Vordergrund steht und einseitig zur technisch-theoretischen
Urteilsbildung angeleitet wird. Die Arbeitshypothese einer solchen
Analyse könnte wie folgt formuliert werden: Die in den didaktischen
Konzeptionen und Richtlinien angestrebte Art der Urteilsbildung
(Denkbewegung) verbleibt innerhalb des Kausalschemas und umfasst
im günstigsten Fall eine zusammenhängende Bestimmung der
Z-A-S-Relationen des jeweiligen Falles (der Wirklichkeit). Kürzer
formuliert: Oberstes Ziel des Politik-Unterrichts ist traditionellerweise
die Erkenntnis und das Verständnis von politisch-sozialer Wirklichkeit.
3. Dass Juristen die Methoden der Beweisaufnahme (Erkenntnis von
Wirklichkeit) maßgeblich beeinflusst haben, dürfte außer
Zweifel stehen (vgl. J. Henningsens scharfsinnige Essays (1968),
insbesondere S. 28f). Das beste Wissen über die Wirklichkeit
und die geschicktesten Verhörmethoden reichen jedoch nicht
aus, um gerechte Urteile zu fällen. Wer die Frage nach Gut
und Böse, nach Recht und Unrecht ausschließlich zum Gegenstand
empirischer Beweisführung machen will, läuft - wie die
Geschichte gezeigt hat - Gefahr, Hexenprozesse zu führen und
Gottesurteile herbeiführen zu wollen (sehr instruktiv ders.,
S. 25ff). Mündigkeit besteht m.E. jedoch nicht, wie J. Henningsen
meint, schon darin, die Propaganda und die Beweisführungstricks
der Mächtigen zu durchschauen, "raffiniert" und damit
aufgeklärt zu werden (vgl. ebd., S. 36f), indem man z.B. lernt,
die Daten aus unterschiedlichen Perspektiven plausibel zusammenzusetzen
und den Perspektivenwechsel spielerisch zu handhaben (vgl. ebd.,
S. 460. Politische Bildung, die auf Mündigkeit zielt, kann
nicht darauf verzichten, die Frage, wer recht und unrecht hat, ins
Zentrum ihrer Tätigkeit zu stellen. 4. Weitere drei Thesen,
die es zu falsifizieren gälte, könnten lauten - Jeder
Didaktiker der politischen Bildung lässt sich innerhalb des
Polaritätenfeldes von Subjekt und System, Anpassung und Widerstand
verorten. - Die relative Nähe bzw. Ferne zu anderen Positionen
bestimmen die Konfliktlinien innerhalb der didaktischen Diskussion.
- Solange die Kontrahenten innerhalb dieses Polaritätenfeldes
argumentieren und auf die Grundlegung verzichten, führt eine
Intensivierung der Auseinandersetzung um die unterschiedlichen Auffassungen
von den Aufgaben des Unterrichts nicht zu einer Annäherung,
sondern zu einer Vertiefung der Gegensätze. Die Thesen wären
anhand folgender didaktischer Konzeptionen zu überprüfen:
K.G. Fischer (1973), H. Giesecke (1970, 1972 u. 1973)Ö, R.
Engelhardt (1971),W. Hilligen (1973 u. 1975), R. Schmiederer (1972a),
E.A. Roloff (1974) , B. Sutor (1973), D. Grosser (1974), K.-C. Lingelbach
(1967, 1970), W. Christian (1974, 1978), B. Claußen (1981a),
K. Rothe (1981), J. Bergrath (1977), E. Calliess u.a. (1974), F.-J.
Kaiser (1973), Th. Ellwein (1964), O. Negt (1972), E. Weniger (1963).
Zum Stand der von den Bundesländern getragenen
Richtlinien- und Curriculumentwicklung im Bereich der politischen
Bildung vgl. W. Northemann (1978). Zur dritten These vgl. die Diskussion
zwischen R. Schmiederer (1968) und W. Hilligen (1968), B. Sutor
(1974) und E.A. Roloff (1974) und H. Boventer (1980) und C. v. Krockow
(1979, 1980).
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Text: Schiedsrichterentscheidung im
Fußballspiel - Die Situationsbeurteilung (nach
oben)
Die Entscheidung, ob ein Tor erzielt wurde oder
nicht, obliegt, zumindest bei einem organisierten Fußballspiel,
wie gezeigt wurde, dem Schiedsrichter. Seine Kompetenzen sind beispielsweise
im Regelwerk des DFB festgelegt. Damit es nun tatsächlich zu
einer Torenstcheidung kommt, müssen zwei Bedingungen zusammenfallen.
Der Schiedsrichter muss zum einen mit den Torregeln, die ja ebenfalls
eindeutig geregelt sind, vertraut sein. Diese Bedingung sollte in
den meisten Fällen erfüllt sein, da Schiedsrichter bevor
sie zum Einsatz kommen, gründlich in der Regelkunde ausgebildet
werden. Zum anderen muss der Schiedsrichter eine konkrete Spielsituation
richtig beurteilen und dann mit der bekannten Regel abgleichen.
Die Frage, die sich der Schidsrichter zu stellen hat, lautet also:
War der Ball in dieser Situation mit vollem Umfang hinter der Torlinie.
Kann er diese Frage mit "Ja" beantworten, so gibt er ein
Tor, beantwortet er sie mit "Nein", lässt er weiterspielen.
Dass dieser Abgleich von Regel und Sachverhalt
den Schiedsrichter nicht selten vor einige Probleme stellt, zeigen
immer wieder heiß diskutierte "Fehlentscheidungen".
Das prominenteste Beispiel eines solchen Falles ist wohl das "Wembley
Tor". Im WM-Endspiel von 1966 zwischen England und Deutschland
im Londoner Wembley Stadion schoss der englische Spieler Geoff Hurst
den Ball gegen die Unterlatte des deutschen Tors von wo aus er auf
die Torlinie und danach wieder ins Spielfeld sprang. Der Schweizer
Schiedsrichter Gottfried Dienst entschied, nachdem er sich mit dem
russischen Linienrichter Tofiq Bährämov per Zeichensprache
über sie Situation verständigt hatte, auf Tor. England
gewann das Spiel mit 3:2 und wurde Weltmeister. Lange Zeit war diese
Entscheidung sehr umstritten. Mit Hilfe der Auswertung von Filmaufnahmen
des Tores konnte mittlerweile gezeigt werden, dass der Ball die
Torlinie weder beim Aufspringen noch in der Luft die Torlinie vollständig
überschritten hatte. Dem Schiedsrichter ist in diesem Fall
beim Abgleich von Regel und Situation also eine Fehler unterlaufen;
er hat den Sachverhalt falsch beurteilt und ist deshalb zu einer
falschen Entscheidung gekommen.
Deutlich wird an diesem Beispiel, wie schwierig
die richtige Beurteilung von Sachverhalten sein kann. Sicher, die
meisten Torentscheidungen sind unstrittig, weil der Ball eindeutig
und leicht erkennbar im Tor landet und der Sachverhalt damit richtig
erkannt wird. In manchen Fällen sind aber lediglich einige
Millimeter entscheidend. Dem Schiedsrichter steht in allen Fällen
zunächst nur die eigene optische Sinneswahrnehmung für
die Beurteilung einer Situation zur Verfügung, welche in der
Regel sehr kurz ist, sehr schnell verläuft und nicht wiederholbar
ist. Voraussetzung ist hierfür, dass der Schiedsrichter sowohl
den Ball als auch die Torlinie im Blick hat. Zusätzlich kann
der Schiedsrichter seine Assistenten, zu der Situation befragen.
Für diese gelten natürlich dieselben Umstände bei
der Beurteilung wie für den Schiedsrichter.
Wegen dieser Schwierigkeiten werden immer wieder
Möglichkeiten diskutiert, die eine Beurteilung der Torsituation
erleichtern sollen. Mit Hilfe des Videobeweises, der in einigen
Sportarten bereits eingeführt ist, soll in unklaren Fällen
der Sachverhalt durch die Auswertung vorhandener Aufnahmen der konkreten
Situation am Spielfeldrand beurteilt werden. Hiergegen wird eingewendet,
dass auch bei eingehender Betrachtung der Videobänder eine
korrekte Beurteilung nicht immer möglich sei und dass durch
die erforderlichen Unterbrechungen die Dynamik des Spiels verloren
ginge. Relativ neu ist der Vorschlag, den Ball mit einem Chip auszurüsten,
so dass dessen genaue Position auf dem Spielfeld genau bestimmt
werden und damit jede Torsituation eindeutig nachvollzogen und sogar
belegt werden kann.
Fragen:
- Wie lassen sich die Überlegungen zu der Beurteilung von
Torsituationen auf Sachverhalte in der Urteilsbildung übertragen?
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