Begründung und
Veröffentlichung (nach oben)
Die Urteilsbegründung ist zu verstehen als
eine Kurzbeschreibung des Gedankenganges, der zu dieser Entscheidung
geführt hat und mit dem das Urteil sich rechtfertigen lässt.
(1) Die Darlegung der für die Entscheidung ausschlaggebenden
Gründe ist daher einerseits für die Nachvollziehbarkeit
und damit für die Diskutierbarkeit und Zustimmungsfähigkeit
des Urteils wichtig. Ohne Veröffentlichung der tragenden Gründe
ist es schwerlich möglich, den Vorgang der Entscheidungsfindung
nachzuvollziehen. (2) Verantwortlichkeit - in des Wortes ursprünglicher
Bedeutung - wäre ohne Begründung und Veröffentlichung
nicht möglich. Andererseits kann das Urteil, insbesondere die
Begründung, nur dann präjudizielle Bedeutung gewinnen,
wenn es veröffentlicht wird. Andere, die ein ähnliches
Problem zu lösen haben, können sich die Vorarbeiten dieses
Urteils zunutze machen und mit geringem Aufwand die Urteilsfindung
kritisch nachvollziehen und situationsgemäß fortschreiben.
Fortschrittliche Traditionsbildung ist möglich. Auf der Grundlage
des begründeten Urteils ist Kritik an Veränderungen in
der Wirklichkeit möglich.
Da die Begründung nicht dazu dient, eine vorgefasste (möglicherweise
willkürliche) Entscheidung durch geschlossenes Auftreten nach
außen nachträglich abzusichern und propagandistisch durchzusetzen,
sondern die Gültigkeit der Entscheidung darzulegen und die
Intensität der Prüfungen gemäß dem kategorischen
Imperativ sichtbar zu machen, darf die Begründung dort nicht
Einheitlichkeit und Geschlossenheit vorgeben wollen, wo sie nicht
besteht. Es sollten vielmehr die Unsicherheiten und Entscheidungsschwierigkeiten
beim Abwägen der Alternativen deutlich zum Ausdruck kommen.
Die Glaubwürdigkeit des Urteils wächst dadurch. Sind am
Prozess der Urteilsfindung mehrere Personen beteiligt und wird mit
Mehrheit der Stimmen entschieden, ist es empfehlenswert, auch die
abweichende Auffassung der Minderheit (dissenting opinion) zu veröffentlichen.
(3) Die Differenz in der Urteilsbegründung und im Urteil selbst
beeinträchtigt die Verbindlichkeit des Urteils in keiner Weise.
Weitere sich an der Urteilsfindung anschließende (gemeinsamen)
Aktivitäten - angefangen von öffentlicher Diskussion und
Demonstration bis hin zu politischer Einflussnahme und Machtausübung
- können nur so gut sein wie die Entscheidung, auf die sich
die Akteure stützen. Der Prozess der politisch-moralischen
Urteilsbildung stellt somit die Grundlage jeglicher Art von Ausführungshandeln
dar. Er bezieht sich also nicht nur auf politisches Handeln im engeren
Sinne (z.B. das Handeln der Politiker), sondern auf Handeln im Alltag
generell. (4) [...]
(W. Sander: Effizienz und Emanzipation. Prinzipien
verantwortlichen Urteilens und Handelns. Eine Grundlegung zur Didaktik
der politischen Bildung., Opladen 1984, S. 273-274.)
Fußnoten
(1) Eine Definition von "Rechtfertigen"
im juristischen Sinne gibt M. Kriele: "Rechtfertigen bedeutet,
wie Chief Justice Hale schrieb: die in Frage kommenden Norm-Alternativen
vergleichen, die voraussichtlichen Kon-sequenzen für das praktische,
menschliche, wirtschaftliche, soziale Leben abschätzen und
diejenigen wählen, die bei unparteiischer Abwägung der
begünstigenden und benachteiligenden Wirkungen die relativ
günstig-sten Nachteile und größten Vorteile mit
sich bringen." (1981, S. 107)
(2) Zur Rechtsprechung gehört
nicht nur, daß der Prozeß (die Gerichtsverhandlung)
in der Regel öffentlich ist, sondern auch, daß das Gericht
seine Entscheidung begründet und veröffentlicht. Ohne
eine solche Be-gründung wäre z.B. gezielte Revision kaum
möglich. Die präjudizielle Wirkung von Entscheidungen
ist ein weiterer Beleg für die Mitwirkung der dritten Gewalt
an der Rechtsentwicklung und -fortbildung. "Die recht-setzende
Gewalt kann ... kein Rechtssetzungsmonopol, sondern nur eine Rechtssetzungsprärogative
haben." (M. Kriele, 1976, S. 244, vgl. S. 196) Die Veröffentlichung
von Urteilen der Revisionsgerichte hat in der Bundesrepublik Deutschland
die Rechtsprechung und -auslegung in erheblichem Maße beeinflußt.
Im angelsächsischen Raum kommt der Rechtsgewinnung durch das
Case-Law traditionellerweise eine noch größere Bedeutung
zu als im Kontinentaleuropa, jedoch verwischen sich die Unterschiede
(vgl. M. Kriele, 1976, S. 228ff).
(3) 1. Zur deutschen Rechtstradition
gehörte es bis in die unmittelbare Gegenwart, daß die
"dissenting opinions" höchster Gerichte nicht veröffentlicht
wurden. Beim supreme court der Vereinigten Staaten werden nicht
nur diese dissenting opinions, sondern auch die concurring opinions
veröffentlicht, d.h. "die Rechtsauffassung der Richter,
die mit abweichenden Begründungen das Ergebnis des Gerichts
unterstützen" (M. Kriele, 1976, S. 293). M. Kriele plädiert
daher (in dem 1967 abgefaßten Textteil) noch engagiert dafür,
eine ähnliche Praxis für das Bundesverfassungsgericht
der Bundesrepublik Deutschland einzuführen. (Vgl. S. 307) "Die
Hauptgründe für die Veröffentlichung separater Urteilsgründe
liegen darin, daß die Entscheidungen erheblich an Qualität
gewinnen, und daß sich in den Minderheitsmeinungen oft die
wertvollsten Anregungen für die Diskussion und Fortbildung
des Verfassungsrechts finden." (S. 309) 2. Seit dem 25. Dezember
1970 ist im Gesetz über das Bundesverfassungsgericht folgende
Bestimmung über die "Abweichende Meinung" (Sondervotum,
dissenting und concurring opinion) enthalten (vgl. BGB. IS1765).
"Ein Richter kann seine in der Beratung vertretene abweichende
Meinung zu der Entscheidung oder zu deren Begründung in einem
Sondervotum niederlegen; das Sondervotum ist der Entscheidung anzuschließen."
(§ 30, Abs. 2, Satz 1 BVerfGG) In der Festschrift für
Martin Hirsch, der von Dezember 1971 bis Juli 1981 Richter des Zweiten
Senats des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe war, beschreibt
der ehemalige Bundesrichter W. Geiger, wie es zu dieser Gesetzesänderung
kam und welche Bedeutung er ihr beimißt. Einer der Gedanken,
dessen exemplarischer Charakter für die Politische Bildung
unmittelbar ersichtlich ist, sei abschließend zitiert. "Es
ist eine alte Kunst, von allen Gerichten geübt, die Begründung
einer Entscheidung so zu formulieren, daß sie sich 'gut liest',
daß der Leser insbesondere die Schwächen des Urteils
nicht entdeckt, daß es überzeugt und akzeptiert wird.
Das Sondervotum eröffnetden Blick für eine plausible Alternative
des Argumentierens, enthüllt die Schwachstellen des Urteils,
legt die unausgesprochenen Prämissen des Urteils bloß,
macht die Relativität und die Begrenztheit des Entschei-dungsstandes
bewußt. Dies alles bewirkt es indirekt einfach dadurch, daß
es den Leser in Stand setzt, die Entscheidung kritischer zu lesen
und zu würdigen. Und das befreit von einem gedankenlosen und
unfruchtbaren Sichzufriedengeben mit dem Satz 'Roma locuta, causa
finita', hält die juristische Diskussion offen und erleichtert
eine Änderung der Rechtsüberzeugung, wenn dieselbe Frage
in einem anderen Verfahren oder in einem anderen Zusammenhang noch
einmal zur Entscheidung ansteht." (W. Geiger, 1981, S. 460)
3. Zur Frage, wie die Idee der kritischen Prüfung auf die richterliche
Urteilsfähigkeit angewandt und für die Schulung der Urteilsfähigkeit
fruchtbar gemacht werden kann, hat J. Berkemann in dem Aufsatz "Geset-zesbindung
und Fragen einer ideologiekritischen Urteilskritik" (1974)
zu beantworten versucht. Das dort entwickelte Frageraster (S. 331-335)
läßt sich auch in den Bereich der politisch-moralischen
Urteilsbildung übertragen.
(4) 1. Bezüglich der politischen
Aktivität von Jugendlichen besteht in der Didaktik der politischen
Bildung eine scheinbar unüberbrückbare Kluft zwischen
Sollen und Können: Auf der einen Seite stehen die Appelle an
die Jugendlichen, sich entsprechend der demokratischen Ideen aktiv
am politischen Leben zu beteiligen, auf der anderen Seite stehen
die Hinweise auf die realen Möglichkeiten der Beteiligung,
die das politische System noch "verkraften" kann. Die
Diskussion um die politische Beteiligung ist durch diese Dichotomie
gekennzeichnet. Sie hat eine lange Tradition (vgl. W. Besson, 1958;
J. Habermas u.a. - 1961, S. 15, 50, 67; W. Hennis 1957 und 1962,
S. 87; K. Sontheimer 1963, S. 173; M. Teschner, 1968, S. 138ff;
H. Giesecke, 1970a, S. 56-664, 225-231 und 1972, S. 39f, S. 128ff,
S. 139ff; R. Schmiederer 1972, S. 50; T. Ellwein, 1979; H. Weiler,
1973; B. Claußen, 1976, 1980 u. 1981b, c; K.-D. Laske, 1980).
Die Dichotomie - hier die
Masse der "unpolitischen und unmündigen,' Bürger,
dort die politische Elite, die die Macht verwaltet - ergibt sich
m.E. aus dem zu engen Begriff des politischen Handelns und der politischen
Beteiligung. Wird nämlich über die politischen Beteiligungsmöglichkeiten
in der Demokratie seitens der Didaktiker nachgedacht, so geht es
meist um die Formen direkter politischer Einflußnahme auf
das politische System. Es wird von einem engen Politikbegriff ausgegangen.
Das alltägliche Handeln des Herrn Jedermann wird dabei häufig
als politisch nicht relevant vernachlässigt. Geht man demgegenüber
vom Alltagshandeln aus und fragt nach dem Politischen dieses Alltagshandelns,
so ergibt sich ein weiter Begriff des politischen Handelns. Eine
solche weite Definition hat z.B. T. Ellwein vorgeschlagen: "Politisch
handelt ... derjenige, der eine Entscheidung herbeiführt oder
sie herbeiführen hilft, bei der die gegebenen Verhältnisse
einkalkuliert werden, für die es keine bindenden Anweisungen
gibt und die einen größeren Kreis von Menschen miteinander
verbindet..." (19674, S. 31) Von diesem weiten Begriff der
politischen Beteiligung ausgehend zeigt sich eine Fülle von
politischen Handlungsmöglichkeiten - auch für den Herrn
Jedermann, auch für den Schüler -, für die ein jeder
verantwortlich ist. 3. Die Handlungen der Bürger und die daraus
entstehende politische Kultur sind insofern politisch, als sie die
Umwelt des politischen Systems darstellen. Lernen die Schüler
ihr Alltagshandeln zu politischen, ökonomischen und sozialen
Systemen in Beziehung zu setzen und ihr Handeln auf selbständiges
politisch-moralisches Urteil zu gründen, so kann die daraus
resultierende Form der politischen Beteiligung - die politi-sche
Kultur - weder als Erziehung zum Aktivismus diffamiert noch als
ohnmächtige und abstrakte Aufforderung zur "Beteiligung
am Gemeinwesen“ entschleiert werden. Die praktische Vernunft
bestimmt in diesem Falle, welche der Handlungsalternativen, die
in der Wirklichkeit ausfindig gemacht werden, zu bevorzugen sind.
Das Konzept des Übergangs und der schrittweisen Annäherung
bestimmt dann das Handeln. (Zur politischen Kultur in der Bundesrepublik
vgl. J. Schissler, 1979.)
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