Informationstext 01 Wolfgang Thierse: Politische Kultur in den neuen Ländern - Für eine wehrhafte Demokratie

Es ist immer etwas misslich, wenn man als Glanzpunkt angekündigt wird. Dann kann man nur enttäuschen. Schlusspunkt, das hätte ich gerade noch so hingenommen. Ein Schluss muss ja irgendwie sein, und das muss bemerkbar sein, dass es zu Ende geht. In diesem Sinne also will ich mich dem Thema widmen, das mir ja auch, und dem will ich nicht widersprechen, einen gewissermaßen ostdeutschen Schwerpunkt vorgeschrieben hat, zumal wir ja in Räumlichkeiten sind, die immer noch die DDR-Aura verspüren lassen. Wenn ich einen solchen Raum sehe, kriege ich nostalgische Anfälle. Obwohl ich Ihnen versichern kann, ich war noch nie hier. Ich fürchte, es war die Akademie für Staat und Recht, die den glorreichen Namen "Walter Ulbricht" trug. Sie können sich vorstellen, dass ich nie hier war. Aber nun zu dem Thema, was Sie mir gestellt haben.

Vor fast einem Jahr wurde in Guben ein Asylbewerber von einer Horde rechtsextremer Jugendlicher verfolgt und regelrecht gehetzt. In seiner Panik sprang der Mann durch eine geschlossene Haustür und verblutete in kurzer Zeit an den Schnittwunden, die er sich dabei zugezogen hatte. Die Staatsanwaltschaft hält elf Personen verantwortlich für diesen Tod und hat sie angeklagt. Das Gerichtsverfahren in Cottbus zieht sich in die Länge; es dauert schon acht Monate. Zwei der Angeklagten wurden inzwischen dabei erwischt, wie sie den Gedenkstein für den toten Ausländer, der von anderen Gubenern in der Nähe des Tatortes aufgestellt worden war, beschädigt haben. Inzwischen ist dieser Gedenkstein gänzlich gestohlen worden. Wenn sich die Staatsanwaltschaft nicht geirrt hat, sind die in Cottbus Angeklagten schuld am Tod von Omar Ben Nui. Diese Angeklagten fühlen sich aber noch nicht einmal verantwortlich dafür, geschweige denn, dass sie sich schuldig fühlen und verhöhnen das Opfer teilweise auch vor Gericht. Sie bringen ihre Missachtung für Menschen und für die Regeln des demokratischen Rechtsstaats zum Ausdruck, den sie allerdings zugleich zu ihren Gunsten zu nutzen trachten. Sie haben clevere, selber der rechtsradikalen Szene zugerechnete Anwälte, höre ich.

In vielen Stadtteilen und Gemeinden Ostdeutschlands herrscht Angst vor solchen gewaltbereiten Rechtsextremisten, denen es nicht nur an politischer Bildung mangelt, sondern auch an charakterlicher und schlicht moralischer Bildung. Sie gehören an den Rand und nicht in die Mitte einer zivilisierten, demokratischen und toleranten Gesellschaft. Aber sind sie Randphänomene? Ob die Angeklagten von Guben bestraft werden, wird das Gericht in Cottbus entscheiden. Ich habe mir öffentlich gewünscht, dass die Entscheidung schneller fällt und in Kenntnis einiger sehr problematischer Umstände dieses Prozesses seine Dauer als Skandal bezeichnet. Dafür bin ich scharf kritisiert worden. Ich bleibe aber dabei, auch nachdem einige Mitmenschen gemutmaßt haben, ich benötigte Nachhilfe in Sachen Rechtsstaat. Ich danke für dieses Angebot.

Aber in Ostdeutschland brauchen ganz andere Menschen Unterstützung. Diejenigen nämlich, die sich rechtsextremistische Gewalt nicht gefallen lassen wollen; die ein gesellschaftliches Klima verändern wollen, in dem Rechtsextremismus offenbar gedeiht und hingenommen wird.

Dieses Klima möchte ich an ein paar Beispielen illustrieren: Der Stadtrat von Guben. Ich war neulich dort und habe lange diskutiert, der Stadtrat von Guben hat nach dem Tod von Omar Ben Nui einiges gegen Rechtsextremismus unternommen. Ich sage das ausdrücklich. Ich will diese Stadt loben. Ein diskutiertes Sofortprogramm fand jedoch keine Mehrheit, weil eine große Fraktion des Stadtrates nur zustimmen wollte, wenn sich dieses Programm gleichermaßen gegen Linksextremismus wenden würde. Auf meine Frage, ob es in Guben linksextremistische Gewalttaten gäbe, antwortete mir der Vorsitzende dieser Fraktion mit einem klaren "Nein". Der Mann ist ein Demokrat, aber er hat in der Absicht, ausgewogen zu handeln, ein Sofortprogramm gegen akute manifeste rechte Gewalt verhindert.

Das zweite Beispiel aus einer anderen Stadt, die ich neulich auch besucht habe, ein Gymnasium, das eine Partnerschaft mit einem Gymnasium einer westdeutschen Stadt hat. Bei einem Besuch einer Gruppe aus diesem westdeutschen Gymnasium wurde einem der westdeutschen Schüler bei dem Besuch der Disco in diesem Gymnasium von Skinheads eine Bierflasche auf dem Kopf zertrümmert. Zum Glück war die Verletzung nicht so schwer. Aber der Klassenlehrer, der mit war, sowie der Vater des Schülers wollten selbstverständlich eine Anzeige erstatten, weil es ja eine Straftat war. Die Schüler und die Lehrer der ostdeutschen Schule baten darum, von dieser Anzeige abzusehen mit dem Argument: "Ihr seid ja weg, aber wir sind noch da. Wir müssen das ausbaden; wer weiß, was aus unserer Disco wird. Ob da nicht die Skins kommen, und sie kurz und klein schlagen. Und überhaupt, ob die Polizei was ausrichtet und ob die Gerichte etwas tun, ist noch gar nicht ausgemacht." Und in der Diskussion darüber mit den Schülern, als ich in aller zartester Form meine Verwunderung darüber ausgedrückt habe, dass man das Selbstverständlichste nicht tut, eine Straftat anzeigt, da wurde mir von einem der Schüler gesagt, eine Anzeige sei doch ebenfalls eine Aggression so wie die Schläge, die einen Schüler am Kopf verletzt hatten.

Ich erzähle das, weil es ein ganz harmloses Beispiel ist dafür, wie fremd der Rechtsstaat bei vielen in Ostdeutschland noch ist und wie gering das Vertrauen in diesen Rechtsstaat ist. Man glaubt nicht, dass Polizei und Justiz etwas ausrichten. Und in Guben hat man mir entgegengehalten: "Was wollen Sie denn Herr Thierse, das Gericht in Cottbus braucht acht Monate, und ob da irgendeiner von den Hetzern, von denen, die den algerischen Mitbürger zu Tode gehetzt haben, je verurteilt wird, das ist doch eher zu bezweifeln."

Ich will diese Beispiele zunächst nicht weiter kommentieren, sie stellen eine Herausforderung dar: Eine Herausforderung an die Politik aller Ebenen, eine Herausforderung an die Justiz, eine Herausforderung aber auch an die politische Bildung. Die Rede von Toleranz, von Demokratie, von Rechtsstaat und von Zivilgesellschaft, die so viele im Munde führen, ich gewiss auch, sie wird zur leeren Sonntagsrede, wenn wir uns dieser Herausforderung nicht stellen. Sie wird zum folgenlosen Geschwätz, wenn Schulleiter das offenbar polarisierende Thema "Rechtsextremismus" und "Zivilcourage gegen Rechts" nicht in Verbindung mit ihrer jeweiligen Schule öffentlich debattieren wollen. Sie wird zum folgenlosen Geschwätz, wenn Eltern, deren Kinder mit geschorenem Schädel ihre Zimmer mit den Insignien des Faschismus auskleiden und mit Baseballschlägern auf der Straße herumlungern, nicht bemerken wollen, in welche Szene die sich begeben haben. Sie wird unglaubwürdig und verlogen, wenn Kommunalpolitiker den rechten Jugendlichen öffentliche Einrichtungen überlassen, damit die Gemeinde bloß nicht durch öffentlich werdende Konflikte ins Gerede kommt; damit das Image nicht geschädigt wird und womöglich Investoren von auf den Straßen sichtbarem Rechtsextremismus abgeschreckt werden.

Die Rede von der Zivilgesellschaft und kultureller Toleranz wird hohl, wenn bei uns nicht über alltägliche Gewalt vor allem von Rechts geredet werden kann, ohne dass über zur Zeit viel weniger häufig zu beobachtende Gewalt von Links geredet werden muss. Ich nenne nur ein paar Zahlen aus Brandenburg, weil wir hier sind. Ich könnte sie auch von anderen Ländern oder von der Bundesrepublik insgesamt nennen. Hier in Brandenburg belegen die Zahlen für 1998 23 linksextremistisch motivierte Straftaten gegenüber 309 rechtsextremistischen Straftaten. Von ihnen waren 94 fremdenfeindlich und 31 antisemitisch motiviert. Die Zahl von 59 Gewaltstraftaten rechtsextremer gegenüber acht von linksextremistischer Seite spricht eine deutliche Sprache. Und Brandenburg ist kein Einzelfall. Wehrhafte Demokratie der Satz ist selbstverständlich. Wehrhafte Demokratie muss die Feinde der Demokratie in die Schranken weisen. Zuerst die, die sich offen gegen die Demokratie stellen, und nicht die, die keine akute Gefahr darstellen. Wehrhafte Demokratie muss auch die Anstrengung unternehmen, extremistischer Gewalt vorzubeugen, um die Zahl ihrer Gegner von vornherein klein zu halten. Das geschieht unter anderem eben durch politische Bildung innerhalb der Schule, außerhalb der Schule; Bildung von Schülern, Jugendlichen und Bildung von Erwachsenen.

Angesichts des eher zunehmenden Rechtsextremismus, der sich unübersehbar in Ostdeutschland, aber keineswegs nur dort, zeigt, angesichts demoskopisch messbar gewachsener Skepsis gegenüber dem demokratischen und sozialen Rechtsstaat, angesichts wachsender Wahlenthaltung, drängt sich der Eindruck vom Scheitern der politischen Bildung, auf. Diesen Eindruck vorzutragen, heißt sofort die Verteidigung zu provozieren, die Verteidigung der politischen Bildung, und ich will sie selbst zu bedenken geben. Es beginnt mit recht selbstverständlichen Fragen. Was sind die zeitgemäßen Inhalte politischer Bildung? Was sind die zeitgemäßen Methoden? Wer sind die Adressaten der politischen Bildung und werden diese Adressaten auch tatsächlich erreicht? Genügt es, vor allem Multiplikatoren zu unterrichten oder ist ein größeres Publikum anzusprechen? In welchem Rahmen, in welchem Umfeld kann politische Bildung am ehesten wirksam werden? Welche Arbeitsteilung mit anderen Bildungsinhalten gibt es? Und sind diese sinnvoll bzw. erfolgversprechend? Welchen Stellenwert hat politische Bildung in der Schule? Kann die außerschulische politische Bildung darauf aufbauen? Welche inhaltlichen, welche tatsächlichen Arbeitsbeziehungen bestehen zwischen politischer Bildung und zum Beispiel der kommunalen Jugendarbeit, der Sozialarbeit? Welche Verbindungen bestehen zwischen den Unterrichtsfächern, die sich in besonderer Weise mit Werten beschäftigen Deutsch, Religion oder hier in Brandenburg LER, Philosophie, Geschichte und der politischen Bildung?

Diese Fragen müssen Sie, meine Damen und Herren, eher beantworten als ich. Es ist Ihre Profession, nicht meine, da ich das Parlament repräsentiere, das nicht einmal unmittelbarer Auftraggeber, sondern vor allem Objekt, Gegenstand politischer Bildung ist. In meiner Rolle fühle ich mich eher für die allgemeinen Rahmenbedingungen verantwortlich, in denen sich politische Bildung bewähren muss. Und ich sehe mich selbst auch ein wenig als Teil der politischen Bildung. Mein Reden und Handeln soll ein wenig helfen, die Institution Bundestag, den Wert der Freiheit der überlebensnotwendig auf demokratische Verfahren angewiesen ist, begreiflich zu machen.

Und damit bin ich bei einer zweiten Gruppe von Beobachtungen sehr aktueller Natur. Wenn ich es richtig sehe, ist die Reaktion auf die gegenwärtigen Parteispendenaffären in Deutschland durchaus unterscheidbar, unterschiedlich zwischen West und Ost. Im Westen eher Betroffenheit, Enttäuschung, Verärgerung, Wut. Aber Betroffenheit resultiert aus Identifikation und verrät Identifikation mit dieser Demokratie und den Regeln, die für dieses politische System konstitutiv sind. Im Osten beobachte ich eher ein anderes Verhalten: Ein manchmal betroffenes, also enttäuschtes, aber manchmal auch triumphierendes Bestätigtwerden der eigenen Vorurteile, wie man sie in 40 Jahren gelernt hat nach dem Muster: "So ist es uns doch immer gesagt worden. Das haben wir doch immer gewusst, dass das große Geld in Wirklichkeit regiert. Auch in der Demokratie." Das ist eine, wie ich finde beunruhigende Beobachtung, denn sie verrät ja auch ein bestimmtes Ausmaß von Demokratiefremdheit. Die Gefahr des Zynismus ist da durchaus nahe und das, was ich beobachte, wird durch Wahlen in den letzten Wochen bestätigt. Man soll das nicht überbewerten, aber wenn man das Wahlergebnis in Schleswig-Holstein sieht: Kaum Veränderungen bei den Stimmverteilungen minus 3,5 plus 3 Prozentpunkte, das ist nicht erheblich. Die norddeutschen Wähler haben eine beträchtliche demokratische Hornhaut. Und zur gleichen Zeit natürlich im Maßstab ganz anders Oberbürgermeisterwahlen in Halle: Wahlbeteiligung beim ersten Wahlgang deutlich unter 40 Prozent, beim zweiten Wahlgang dann nur noch bei 30 Prozent. Nicht ganz vergleichbar, aber doch ein Beleg, wenn man sich zurück erinnert an frühere Wahlbeteiligungen in Ostdeutschland.

Eine zweite Beobachtung: Heute ist der zehnte Jahrestag der ersten freien Volkskammerwahl. Wir haben gestern im Bundestag die Erinnerung daran feierlich begangen und es ist jedenfalls für mich ganz wesentlich die Erinnerung an den Aufbruch zu eigener selbstbestimmter politischer Aktivität. Das war der Herbst 89, das Jahr 1990 und diese Wahl. Was ich inzwischen erlebe und ich weiß, dass ich jetzt übertreibe, pointiere was ich erlebe, ist doch ein Rückfall in eine autoritäre Haltung. Man erwartet von denen da oben, von den Politikern, vom Staat nahezu alles und alles ganz schnell. Und man ist regelmäßig besonders enttäuscht, wenn diese Erwartung nicht befriedigt wird.

Ich erinnere mich, dass ich das einmal exemplarisch bei einer Diskussion erfahren habe. Das war auch in Brandenburg, ich erzähle nur Beispiele von hier, ich könnte auch von anderen Ländern Beispiele erzählen. Bei einer Diskussion mit Jugendlichen in einem Ausbildungszentrum, wo mehrere hundert Jugendliche tatsächlich eine Berufsausbildung bekommen. Dieser Umstand ist wichtig. In dieser Diskussion haben die Jugendlichen geklagt, sich beschwert und ihre Unsicherheit, ihre Zukunftsängste artikuliert. Was ich nicht kritisiere, sondern sehr gut verstehe. Einer der Jugendlichen hat gewissermaßen wie eine Zusammenfassung der ganzen Unruhe dann heftig gesagt, der Staat muss für uns sorgen, dass wir Arbeit haben und eine gesicherte Zukunft. Und da dachte ich, was sage ich nun, denn ich verstehe diesen Ausbruch, als einen Ausbruch von Ängsten, von Zukunftsunsicherheit, die sehr verbreitet ist in Ostdeutschland. Bei allem was man sonst an Positivem sagen muss. Ich habe ihm dann gesagt: "Wissen Sie, kein Staat der Welt kann für Sie gewissermaßen von der Geburt bis zum Tode sorgen. Wofür der Staat sorgen muss, ist die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass Sie für sich selber sorgen können." In dieser Artikulation eines 18-, 19-Jährigen, der einen Ausbildungsplatz hat, steckt etwas, das ich sicher mit erheblicher Übertreibung das autoritäre Erbe der DDR nenne. Eine Prägung, die ich niemandem vorwerfe, denn wir haben sie nicht freiwillig erfahren. Sie ist nicht Ergebnis unserer eigenen Aktivität, sondern die DDR war ja so strukturiert, dass selbstbestimmtes eigenverantwortetes Handeln, politisches Handeln, alles andere als erwünscht war. Im Gegenteil, es war verboten. Man sollte immer handeln unter Führung der allmächtigen, der allein selig machenden Partei. Das hat tief geprägt. Und jetzt lebt man in einer, freundlich ausgedrückt, offenen Gesellschaft, aber auch einer Gesellschaft der Konkurrenz. Die Radikalität des ökonomischen und sozialen Umbruchs hat vielfältige auch innere Verunsicherung, ein Gefühl von sozialer Unsicherheit bei nicht wenigen erzeugt. Und nicht wenige auch haben den Umbruch weder intellektuell, noch ideologisch, noch moralisch wirklich verarbeitet.

Insofern gibt es eben nicht nur einen ökonomisch-sozialen Umbruch, sondern auch vielfältige Phänomene geradezu moralischer Entwurzelung in Ostdeutschland. Wenn man dies zusammen beschreibt, dann wird etwas verständ licher, warum das demokratische Bewusstsein nach meiner Beobachtung in Ostdeutschland noch nicht so stabil ist. Es ist ja auch kein Wunder. Wir haben noch nicht 40 Jahre Demokratieerfahrung.

Dieses demokratische Bewusstsein ist labiler, es ist viel stärker geprägt von der Sehnsucht nach Sicherheit, aber eben deren Kehrseite auch: Der Verführbarkeit zu falscher Sicherheit. Es ist auch geprägt von einer hoch verständlichen Ungeduld. In solcher Situation ist es umso dringlicher, Demokratie zu erklären, sie verständlich zu machen, sie attraktiv zu machen, für sie zu werben, ihre Schwierigkeiten begreifbar zu machen. Denn die demokratischen Verfahren sind mühevoll, sie sind es nicht in erster Linie wegen der Unfähigkeit oder Entscheidungsscheu von Parteien und Politikern. Die gibt es auch. Da will ich keine allgemeine Entschuldigung aussprechen. Die Mühseligkeit der demokratischen Verfahren ergibt sich aus der Gewaltenteilung, aus dem Föderalismus, aus dem Mehrheitsprinzip, das zugleich dem Minderheitenschutz verpflichtet ist. Sie ergibt sich aus der Gleichheit vor dem Gesetz und den Regeln des Rechtsstaates, die nicht zuletzt deshalb so kompliziert sind, weil sie der Gleichheit vor dem Gesetz ebenso gerecht werden wollen wie der Spezifität jedes Einzelfalls.

Diese demokratischen Verfahren sind heute einer wachsenden Ungeduld ausgesetzt. Ein Klima des Reformstaus, das sich über ein Jahrzehnt aufgebaut hat, mag dafür mit verantwortlich sein. Die Ungeduld gegenüber der Dauer, der Langsamkeit politischer Willensbildung wird von sehr Verschiedenen artikuliert: Sowohl von jungen Menschen als auch von Managern in der Wirtschaft. Sie wird von den Medien gespeist und erst recht von den neuen Medien, die per se schneller sind. Sie kommt aus der Börse. Sie wird gespeist von der Sorge um einen gefährlichen Verkehrsknotenpunkt oder um die Erhaltung natürlicher Lebensgrundlagen. Von überall ertönt der Ruf, die Politik sei zu langsam und außerdem unzureichend. Gefährlich ist, meine Damen und Herren, nicht die Kritik, eine bestimmte politische Entscheidung sei unzureichend. Von solcher Kritik lebt die Demokratie und mit Ihrer Hilfe optimiert und modernisiert sie sich selbst und die Gesellschaft. Gefährlich ist der Vorwurf der Langsamkeit, weil er zu Ende gedacht, die demokratischen Verfahrensweisen, die Demokratie selbst in Frage stellt. Ich bezweifle nicht, dass Parlamente ebenso wie Gerichte gelegentlich der Beschleunigung bedürfen. Etwa im Wege vernünftiger politischer Prioritätensetzung oder im Wege einer Strukturen entrümpelnden Justizreform, die in Angriff genommen ist. Wenn Beschleunigung jedoch zu Lasten der Transparenz geht, schwindet die Legitimation.

Zu Recht gilt das Jahr 1999 als Lehrjahr der rotgrünen Bundesregierung. Es endete in einem durchschlagenden bei Kommunal- und Landtagswahlen demonstrierten Legitimationsverlust für die Regierungsparteien. Eine Serie von Wahlniederlagen hat diese neue Mehrheit im Bund erfahren im Jahr 1999. Es besteht Einigkeit darüber, dass ein wesentlicher Grund für diesen Legitimationsverlust in dem Bestreben nach allzu schnellen Entscheidungen zu suchen sei. Die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse und insbesondere das Staatsbürgerschaftsrecht ich nenne nur zwei Beispiele wurden nicht ausreichend kommuniziert. Sie wurden nicht verstanden. Die Probe, ob sie auch dann zunächst Widerspruch provoziert hätten, wenn sie verstanden worden wären, hat nicht stattgefunden. Das Lehrjahr der Bundesregierung ist nur ein Beispiel für die Folgen von Beschleunigung, noch nicht mal ein dramatisches, denn es stellte nicht die Zustimmung zur Demokratie, sondern nur zu den Regierungsparteien in Frage. Der Vorwurf der Langsamkeit greift dann an die Wurzeln der Demokratie, wenn die Notwendigkeit des Streitens und des schließlichen Aushandelns von Entscheidungen für den Zusammenhalt der Gesellschaft, für ein hohes Maß an Berücksichtigung unterschiedlicher Interessen und Lebensweisen, nicht mehr vermittelbar ist. Demokratie ist kein Selbstzweck. Sie ist gemessen am Zweck der Menschenrechte lediglich die bisher beste Staatsform. Wer den Wert von Freiheit, Toleranz, Gerechtigkeit und Solidarität nicht zu schätzen weiß, der weiß auch nicht den Wert der Langsamkeit von Demokratie zu schätzen und der überlässt die Straßen den Rechtsextremisten, die immer schneller sind, und alle Gestaltungsentscheidung dem freien Spiel der Marktkräfte.

Der Vorwurf der Langsamkeit kommt nicht von ungefähr. Ganz ohne Frage hat die Politik angesichts der Globalisierung an Gestaltungskraft verloren, im gegenwärtigen Moment. Die Zähmung der Marktkräfte im Interesse der Gerechtigkeit und des sozialen Friedens gelingt mit nationalstaatlichen Mitteln längst nicht mehr. Die internationale politische Zusammenarbeit ist noch nicht weit genug entwickelt, um die globale Entfesselung des Kapitals, das um die Welt eilt, auf vergleichbare Weise einzudämmen, wie dies den europäischen Nationalstaaten jeweils gelungen war. Die Politik hinkt ohne Zweifel dieser Entwicklung hinterher. Große Unternehmen sind nicht mehr national, sie sind global. Sie sind Produktionsstandorten nicht mehr in gleicher Weise verbunden, wie es ein patriarchalischer Unternehmer der Gründerzeit, regional dominierte Unternehmen der 50er- und 60er-Jahre im Westen Deutschlands oder gar zu gesellschaftlichen Investitionen verpflichtete Kombinate in der DDR waren. Die Übernahme von Mannesmann durch Vodafone war kein Sieg eines britischen über ein deutsches Unternehmen, sondern die Ausweitung einer globalen Aktiengesellschaft auf einem weiteren nationalen Markt.

Über die Auswirkung dieser Globalisierung ist so viel geredet wie geschrieben worden, dass ich hier nicht in die Einzelheiten gehen muss. Ich will nur darauf hinweisen, dass wir nach meiner Wahrnehmung ein geradezu dramatisches Missverhältnis haben zwischen dem Tempo und der Reichweite ökonomischer Prozesse und Entscheidungen einerseits und dem Tempo und der Reichweite der politischen Prozesse, der politischen Entscheidungen und Institutionen andererseits. Das ist die gegenwärtige Situation. Und wir haben gewissermaßen die Aufgabe, die Grundlagen von Politik, die Institutionen, die Art und Weise wie die Prozesse organisiert werden und ihre Reichweite neu zu begründen. Insofern sind wir politisch gesehen in einer sehr schwierigen Zwischenphase. Ohne Zweifel stellen diese Entwicklungen tiefe Eingriffe in gewohnte Strukturen dar.

Die Entwicklungen, die wir Globalisierung nennen, gefährden bewährte Schutzmechanismen, wie zum Beispiel Tarifautonomie national organisiert oder doch zumindest den herkömmlichen Flächentarifvertrag, den Kündigungsschutz, den Grundsatz gleicher Lohn für gleiche Arbeit, die Tradition eines langfristigen abhängigen Arbeitsverhältnisses. Sie stellen Mobilitätsanforderungen, die weniger Rücksicht auf familiäre Lebensweisen nehmen als bisher üblich. Kurz, diese ökonomischen technologischen Entwicklungen führen zu erheblicher Verunsicherung, zur Desorientierung. Die Politik, bisher nationalstaatlich organisiert wie unser Sozialstaat, hat darauf noch keine angemessene Antwort.

Verunsicherte und nichtorientierte Gesellschaften bedürfen der Versicherung, der Orientierung. Kommt sie nicht schnell genug, entsteht die Gefahr, dass die Le Pens und Haiders oder rechte Szenen in das Vakuum eindringen bei einem Teil der Bürger. Ich halte noch nicht für entschieden, ob Wahlerfolge völkisch Denkender und demokratisch zweifelhafter Populisten oder die Herausbildung verfestigter rechtsextremistischer Strukturen unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen gefährlicher sind. Der Bedarf an Orientierung und die Anforderung an politische Bildung werden jedenfalls in den wachsenden Unübersichtlichkeiten des Zeitalters der Globalisierung erheblich steigen. Für die politische Bildung gibt es also eher mehr zu tun als weniger.

Dabei werden die klassischen Formen der politischen Bildungsarbeit allerdings wohl nicht mehr ausreichen. Politische Bildung darf ruhig offener, moderner, attraktiver werden und vor allem jenen abstrakt belehrenden Charakter ablegen, der ihr in der Vergangenheit nicht immer ganz zu Unrecht nachgesagt worden ist. Dafür gilt es neue Wege zu beschreiten und Strategien zu entwickeln, um vor allem zeitgemäße Inhalte und Vermittlungsformen zu finden. Dies ist zum Beispiel dringend notwendig, um die immensen Vermittlungsmöglichkeiten der neuen Medien nicht denen zu überlassen, die sie bereits zum Teil für die Vermittlung ihrer Parolen von Fremdenfeindlichkeit, Gewaltforderung und Hass nutzen. Es ist bedenklich, dass solche technologischen Innovationen immer zuerst von Radikalen benutzt werden. Die politische Bildungsarbeit hinkt hier allzu oft nur hinterher. Ich weiß, es werden auch in diesem Bereich erhebliche Anstrengungen unternommen.

Ich denke auch zum Beispiel an die Rock- und Pop-Kultur. Hier erzielen rechtslastige Rockgruppen bei ihrer Zielgruppe mit eingängiger Musik und Platten, aber griffigen ausländerfeindlichen Parolen, eine bedenkliche Breitenwirkung. Ich meine, ich bin da selber befangen. Ich kriege das auch nur am Rande mit, weil ich sozusagen eine bürgerliche Existenz führe, wie man das so früher genannt hat. Aber, wenn man ein bisschen aufmerksam wird und sieht, was da an Gruppen durchs Land fährt, wo die sich treffen und wieviel junge Leute da hinkommen, und wenn man sich dann mal übersetzen lässt diese Sprache, die da gesungen gesungen ist vielleicht auch schon eine Übertreibung wird, dann denke ich, muss man erschrecken. Das muss man ernster nehmen als bisher. Und ernster nehmen heißt nicht, dann plötzlich anzufangen zu dozieren, das wäre die falsche Ebene. Solche Felder sollte die politische Bildungsarbeit künftig verstärkt besetzen. Gerade hier gilt es, eigene Wege der Vermittlung demokratischer Grundwerte zu entwickeln. Das ist, ich weiß es, leichter gesagt als getan und ich habe hier keine Patentrezepte anzubieten. Aber warum nicht populäre und engagierte Popkünstler und -künstlerinnen gewinnen, die mit ihrer Nachdenklichkeit junge Menschen erreichen und den genannten Hetzparolen entgegenwirken. Das gesamte Feld der Kultur wird bislang noch zu wenig in die politische Bildungsarbeit einbezogen. Die Vermittlung demokratischer Werte und Tugenden auf solchem Wege im Einzelnen zu organisieren ist Ihre Profession. Ich kann dazu nur ein paar Bemerkungen machen, Perspektiven aufzeigen, in die die politische Bildungsarbeit in Zukunft zielen sollte. In der Grundtendenz muss die politische Bildungsarbeit im Zeitalter der Globalisierung das Spektrum ihrer Adressaten erweitern. Sie darf nicht nur politische Bildung für die Interessierten sein. Die kommen ohnehin in die Akademien und Tagungsstätten. Solche Gesprächskreise, Informationsveranstaltungen, Diskussionsformen bleiben wichtig ich will das gar nicht bestreiten, aber ihre Breitenwirkung genügt wohl nicht mehr. Daran ändert auch der allfällige Hinweis auf die Multiplikatoren nichts.

Ich war in den letzten Monaten ziemlich viel unterwegs, in Dresden, Leipzig, Schwedt, Guben, Frankfurt/Oder, Nordbrandenburg, Wernigerode, Magdeburg und so weiter. Ich war in Jugendclubs, in Schulen, in Beiräten und ich habe immer eine kleine Erfahrung gemacht, die ich nicht aus Eitelkeit übermittle. Man fand es sensationell, jedenfalls irgendwie rühmenswert, dass einer von den ganz hohen Tieren zu ihnen kommt, Jugendliche ernst nimmt, mit ihnen spricht, ihnen zuhört, gar mit sogenannten rechten Jugendlichen redet. Ich nehme das nur als ein Beispiel, welchen Bedarf es gibt, der offensichtlich viel zu wenig befriedigt wird. Dass Leute dort hingehen, wo die Jugendlichen sind und nicht erwarten, dass die jungen Leute hinkommen, wo Politiker oder Bildungsarbeiter sind. Das will ich mit dieser eigenen Erfahrung sagen. Man macht übrigens bei solchen Besuchen nicht nur negative Erfahrungen, sondern auch wunderbare Erfahrungen, wie engagiert Jugendliche ihresgleichen zu überzeugen versuchen. Und die können es besser als ein 55-Jähriger. Ein 18-Jähriger kann besser 16-Jährige überzeugen ich habe das in Frankfurt/Oder an einer Schule erlebt überzeugen, was das ist, Ausländerfeindlichkeit, Intoleranz und Hass. Das ist die angemessene Form, wenn man solche Jugendliche unterstützt. Das ist politische Bildung im besten Sinne des Wortes. Also politische Bildungsarbeit kann und darf durchaus selbst an die Menschen herangehen, hingehen, wo sie sind und nicht immer warten, dass sie in die Institutionen kommen. Sie sollte sich nicht damit begnügen, dies andere tun zu lassen, deshalb muss die politische Bildung heraus aus den Institutionen.

Sie muss übrigens ebenso hinauskommen, über rein abstrakte Institutionen und Staatslehre. Die Vermittlung von Informationen und Wissen über die Funktionsweisen der parlamentarischen Demokratie ist notwendig, selbstverständlich. Aber Bildung ist mehr als Information und Wissen. Bildung heißt: Öffnen für neue Möglichkeiten, für neue Sichtweisen, vor allem für eigenverantwortliches Handeln. Wenn politische Bildung Handlungsmöglichkeiten aufzeigt, dann wird der Bedarf an politischer Information, an politischem Wissen automatisch größer. Dann werden junge Leute empfänglicher für das Wissen, das man ihnen anbietet. Deswegen sage ich also der Grundsatz ist bekannt, ich sage etwas Selbstverständliches: Die politische Bildung zielt auf Förderung von Mündigkeit und eigenständigem Handeln. Sie ist eben deshalb, genau deshalb, eine zutiefst aufklärerische Aufgabe im Sinne von Kant. Politische Bildung strebt an, was Kant im Gegensatz von privatem und öffentlichem Gebrauch der Vernunft verdeutlicht hat. Die parlamentarische Demokratie lebt vom öffentlichen Gebrauch der Vernunft möglichst vieler ihrer Mitglieder. Unter diesem öffentlichen Gebrauch der Vernunft versteht Kant keineswegs nur abstraktes Reflektieren, vielmehr fordert er auf zu persönlichem praktischem Handeln. In diesem Sinne, denke ich, gilt es, für die politische Bildung künftig konkreter zu werden. Sie kann, ich wünsche mir das, Erfahrungen im bürgerschaftlichen Handeln vermitteln, indem sie zum Beispiel Probleme im Bereich der kommunalen Jugend- und Sozialarbeit aufzeigt und zugleich angeht. Es geht darum, Erfahrungen aus erster Hand und vor Ort zu vermitteln. Politische Bildungsarbeit sollte gerade die aufsuchen und aktivieren, die nie von selbst in die Seminare der Akademien und Fortbildungsstätten kämen. Eine solche aktivierende politische Bildungsarbeit auch kein neuer Gedanke, ich weiß eine solche aktivierende politische Bildungsarbeit kann zum Beispiel ansetzen bei Projekten in der Nachbarschaftshilfe, im lokalen Umfeld, in der Kommune, am Mitwirken an der lokalen Müllentsorgung, am Einsatz für einen zusätzlichen Fußgängerüberweg an einem Gefahrenbrennpunkt im eigenen Stadtteil, an der Durchsetzung einer besseren Busanbindung, der Renovierung eines Jugendzentrums oder an der Organisation von Veranstaltungen mit Gleichaltrigen. Dies sind Aufgaben, für die man jüngere wie ältere Menschen gewinnen kann. Wer hier mitwirkt, sich einsetzt, mithilft, Widerstände und Probleme zu überwinden, macht zugleich einen idealen Praxiskurs in politischer Bildung mit. Für mich sind die besten politischen Bildungsmaßnahmen immer jene, die im Idealfall zur Begründung einer Bürgerinitiative oder einer Nachbarschaftshilfe oder auch einer Städtepartnerschaft in Europa und darüber hinaus führen. So verstandene und ausgestaltete politische Bildung lässt erleben und erfahren, was in der Vergangenheit oft nur auf der abstrakten Ebene vermittelt worden ist. Hier gilt es umzudenken und neue Formen der Vermittlung politischer Bildung gerade durch aktivierende Projektangebote zu schaffen. Dabei macht man dann die Erfahrung, die Max Weber in der immer noch unübertroffenen Formulierung genannt hat: aPolitik ist das beharrliche Bohren dicker Bretter.a Und übrigens macht man dabei auch eine wichtige Erfahrung, nämlich die Erfahrung, dass Politik nicht nur unterhaltsam ist und dass Unterhaltung von der Politik zu fordern zugleich heißt, demokratische Politik zu verfälschen. Sie ist nur in begrenztem Ausmaß unterhaltend. Ich sage das, weil ich immer mal wieder die Erwartung höre, die Bundestagsdebatten sollen spannender oder unterhaltender sein. Das ist nicht die Erwartung, die Bundestagsdebatten befriedigen sollen. Sie sollen informativ sein; man solle die unterschiedlichen Positionen durch eine Debatte kennen lernen. Das kann dann sogar eine bestimmte Form von intellektuellem politischem Vergnügen sein, aber das Unterhaltungsbedürfnis können wir nicht befriedigen. Keine Parteiversammlung, keine Sitzung eines Stadtparlaments dürfte das Unterhaltungsbedürfnis befriedigen können. Diese Erwartung an Politik und da dominiert inzwischen das Unterhaltungsbedürfnis wird nicht befriedigt werden können. Ich komme noch einmal zurück auf den Gesichtspunkt der Demokratie als wehrhafte Demokratie. Sie setzt immer das politische Engagement der Bürgerinnen und Bürger für ihren Staat voraus. Das heißt auch: Sie haben die Vorurteile gegenüber dieser Demokratie und gegenüber Politik antipolitische Vorurteile ernst zu nehmen. Sie sind in keiner Hinsicht neu. Ihr Grundmuster findet sich schon in einer der exemplarischen Schriften der deutschen Literaturgeschichte, nämlich bei Thomas Mann. 1918 sind von ihm "Die Betrachtungen eines Unpolitischen" erschienen. Daraus will ich zitieren. Wörtlich: "Ich will nicht die Parlaments- und Parteienwirtschaft, welche die Verpestung des gesamten nationalen Lebens mit Politik bewirkt. Ich will Sachlichkeit, Ordnung und Anstand." Die in diesen Betrachtungen exemplarisch deutlich werdende Politikfeindlichkeit findet sich bis heute in den verbreiteten Stereotypen, wie der Ansicht: "Politik verderbe den Charakter"; "sie sei per se ein schmutziges Geschäft"; "die Parlamente seien Schwatzbuden" und "die ganze politische Szene ist korrupt" oder "das große Geld regiert sowieso". Und wenn einer oder ein anderer oder mehrere Politiker sich gegen Gesetze vergangen haben, gegen Gesetze verstoßen haben, die sie selbst mit verabschiedet haben, dann gerät die Politik, die Demokratie gleich insgesamt in Misskredit. Wir sind ja gerade in einer solchen Situation, wo solche Stimmung durchaus nicht wenig verbreitet ist. Vorgänge, welche die parlamentarische Demokratie insgesamt in Verruf bringen können. Gerade deshalb gilt es, ungerechten Verallgemeinerungen entgegenzutreten und die Demokratie gegen Hetzparolen von allen möglichen Seiten, aber auch gegen dumpfe Vorurteile der Unpolitischen wie gegen das intelligente Apercu zu verteidigen. Denn schließlich sind die sogenannten Unpolitischen in besonderer Weise anfällig für simple Parolen; nicht-demokratiefreundliche Parolen, die Ordnung und Anstand versprechen. Deshalb bleibt die Aktivierung der politikskeptischen Bürgerinnen und Bürger eine zentrale Aufgabe der politischen Bildung. Nur nebenbei, Thomas Mann hat diesen Standpunkt bald danach verlassen. Er wurde einer der intellektuell überzeugendsten Verteidiger der Weimarer Republik, der Weimarer Demokratie.

Ich will, meine Damen und Herren, zum Schluss einige Schlüsselqualifikationen für politische Mündigkeit in der parlamentarischen Demokratie umreißen. Ich tue das im Anschluss an Überlegungen, die Oskar Negt angestellt hat, und ich tue das nicht, weil ich gewissermaßen Vorschriften zu dekretieren hätte. Das habe ich nicht. Ich bin aber überzeugt, dass politische Bildungsarbeit in der parlamentarischen, wehrhaften Demokratie auf ein paar der von mir genannten Schlüsselqualifikationen auf keinen Fall verzichten kann und sie sollten deshalb Ziel politischer Bildungsarbeit in der Schule wie außerhalb der Schule sein:

Erstens: Im Zeitalter der Globalisierung sind Mobilität und die Fähigkeit, sich immer wieder in neue Lebenszusammenhänge zu begeben und alte zu verlassen, unverzichtbare Schlüssel für die individuelle Lebensgestaltung wie für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Zweitens: Erforderlich ist eine neue technologische Kompetenz. Technik darf uns nicht beherrschen, sondern sie ist, sie muss ein Instrument zur Gestaltung unseres Lebens, unserer Gesellschaft bleiben. Technologische Kompetenz bedeutet deshalb nicht nur Technik physisch zu beherrschen, sondern sie auch gesellschaftlich zu beherrschen. Wenn man das sagt, predigt man nicht irgendeiner übelbeleumdeten Technikfeindlichkeit das Wort, sondern man hält Technikfolgenabschätzung, die nüchterne Beurteilung dessen, was technologische Entwicklungen bewirken können, für eine wichtige Aufgabe.

Drittens: Das ökologische Gewissen ist in den letzten zwanzig Jahren erheblich gewachsen. Die Konsequenzen aus dem ökologischen Wissen reichen von Verdrängung tatsächlicher bis zur Überbetonung selbst noch vermeintlicher Gefahren. Ökologische Kompetenz ist deshalb unverzichtbar. Sowohl hinsichtlich der Einschätzung der Risiken, als auch hinsichtlich der Bereitschaft und Fähigkeit zu notwendigen Verhaltensänderungen.

Viertens: Globalisierung bedeutet heute in noch höherem Maße als früher die Pluralisierung der Kulturen, die tägliche Konfrontation mit dem Fremden. Gegen die durch die Medien oft unkritisch vermittelten Klischees, gegen Vereinfachungen hilft nur Einübung in Toleranz, Sensibilität, Neugier und Gewaltfreiheit im Umgang miteinander. Gefordert ist also interkulturelle Kompetenz. Das muss erlernt werden.

Nächster Punkt: Die Schnelllebigkeit der Gegenwart stellt neue Anforderungen auch an unseren Umgang mit der Zeit. Das betrifft nicht nur die individuelle Lebensplanung, sondern auch unseren Umgang mit Geschichte. Erinnern, Trauern, aber auch Wissen um das historische Werden sozialer Entwicklungen sind Voraussetzung für die Gestaltung von Zukunft. Geschichtliche Kompetenz bedeutet die Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und Orientierung im schnellen sozialen Wandel zu finden. Übrigens, die technologische und geschichtliche Kompetenz sind zugleich zwei wichtige Säulen von Medienkompetenz.

Sechstens: Die geschilderten wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen enthalten viele Elemente, die sich zu einer Gefährdung von Demokratie und Rechtsstaat auswachsen können. Die Fähigkeit, Gleichheit von Ungleichheit, Recht von Unrecht zu unterscheiden, soziale Demokratie und rechtsstaatliche Prinzipien als kostbares Angebot von Freiheit, Gerechtigkeit und gesellschaftlichem Zusammenhalt zu erkennen, sind deshalb Schlüsselqualifikationen für eine demokratische Gesellschaft. Siebtens: Als letzte, aber deshalb nicht unwichtigste Schlüsselqualifikation, nenne ich die Beherrschung der um die digitalen Kommunikationsmedien erweiterten Kulturtechniken und das heißt also, die Fähigkeit des Lernens überhaupt. Das wissen wir, ich brauche das gerade Ihnen am wenigsten zu sagen. Die Fähigkeit lebenslang zu lernen, ist vielleicht die wichtigste, die Schlüsselqualifikation schlechthin. Dies, meine sehr geehrten Damen und Herren, sind aus meiner Sicht die zentralen Fähigkeiten, Qualifikationen für eine humane, offene, demokratische, zivile Bürgergesellschaft. Ohne sie kann die parlamentarische Demokratie nicht dauerhaft bestehen, sich vor allem nicht erfolgreich gegen ihre Gegner behaupten. Ich bin mir bewusst, dass eine solche Aufgabenbeschreibung mit den vorhandenen von Land zu Land unterschiedlichen Strukturen der außerschulischen Bildung und ihrer Finanzierung nicht ganz in Einklang zu bringen ist. Ich habe mich als Präsident des Deutschen Bundestages nun wahrlich nicht in landespolitische Dinge einzumischen. Hier und heute entlastet mich das, denn Sie, meine verehrten Damen und Herren, könnten mir sonst die Rechnung präsentieren für das, was ich bei Ihnen bestellt habe.

Aber nach meiner Einsicht in die Dinge sind hier Reformen nötig, auch solche, die Geld kosten. An der politischen Bildung ist, ich fürchte, zu lange gespart worden und ich fürchte, sie wird angesichts der Zwänge, in denen wir uns befinden, auch weiterhin ein Feld sein, bei dem gespart werden soll. Ich will mich dagegen wehren. Übrigens will ich an dieser Stelle auch noch mal sagen, dass ich zu denen gehöre, die mit großer Selbstverständlichkeit, das "Parlament" und die "Beilage zum Parlament" verteidigen. Man wird vernünftigerweise einiges modernisieren können, konzentrieren können. Gegen Einsparungen, die auch die Effektivität fördern, wird man nichts einwenden können. Aber wir brauchen dieses Medium der politischen Kommunikation und der politischen Bildung. Als jemand, der an Argumente, an das Wissen, an Bildung als Voraussetzung für politisches Engagement glaubt, bin ich überzeugt, dass politische Bildung mehr denn je gebraucht wird und zwar sowohl in Ostdeutschland wie in Westdeutschland. Auch wenn ich heute mehr von Ostdeutschland gesprochen habe, das war mein Auftrag und das entspricht meiner Herkunft. Ich halte es, um das am Schluss noch etwas pathetisch zu sagen, mit einem Satz von Bertold Brecht, der zu meinen Lieblingssätzen gehört: "Mögen andere von ihrer Schande sprechen, ich spreche von der meinigen." Man kann das übersetzen: Mögen andere von ihren Problemen und Fehlern reden, ich rede von unseren.

(aus: Wolfgang Thierse: Politische Kultur in den neuen Ländern - Für eine wehrhafte Demokratie. Zehn Jahre nach den ersten freien Wahlen zur Volkskammer. Rede vom Bundestagspräsidenten am 18. März 2000 vor dem 8. Bundeskongress für politische Bildung in Potsdam, in: Das Parlament Nr. 14/15 vom 31.3./ 07.04.