Informationstext 02 Fragen an Michel Friedman
Frankfurter Rundschau: In der aktuellen Debatte entsteht gelegentlich der Eindruck, als erschütterten Rechtsextreme die Republik. Gibt es einen Hang zur Hysterie ? Michel Friedman: Dass wir endlich, sehr spät zwar, unsere Augen, unsere Ohren öffnen, um zu sehen, zu hören, wahrzunehmen, was seit Jahren Alltag in Deutschland ist, sollte nicht als Hysterie diffamiert werden. Es ist vielmehr die kleine Hoffnung, dass wir begreifen, dass es in Deutschland eine Krankheit gibt, nämlich Rassismus, die droht chronisch zu werden. Wir haben uns seit Jahren viel zu sehr daran gewöhnt, dass Rechtsradikale verbal wie auch mit körperlicher Gewalt gegen Menschen vorgehen. Mich überrascht, dass so viele überrascht tun. Wo waren die Politiker und Verantwortlichen in den vergangenen zehn Jahren. Haben sie nicht gesehen, dass in Teilen Deutschlands Jugendliche immer gewalttätiger werden, dass das Internet zum Kommunikationsmittelpunkt der rechtsradikalen Szene geworden ist. Dass es Orte gibt, die stolz erklären, sie seien ausländerfrei. Sehen Sie eine spezifische neue Qualität des Rechtsextremismus in jüngster Zeit? Es gibt weitaus mehr Gewalt, quantitativ wie qualitativ. Und es gibt einen geistigen Bodensatz, ein Umfeld, das vielleicht die brutale Gewalt verurteilt, aber für die Motive zuviel Verständnis ausdrückt, und dies offen und mitten aus unserer Gesellschaft heraus formuliert. Das Programm Ihrer Initiative zielt auf Bürgerengagement und Zivilcourage, nicht primär auf den Staat? Es geht hier nicht um ein "entweder oder", sondern um ein "sowohl als auch". Die Polizei muss mit allen Mitteln gegen diese Kriminellen vorgehen, was sie bisher so nicht getan hat. Aber neben der körperlichen Gewalt ist das dringendste Problem, dass es einen geistigen Bodensatz gibt, dass es geistige Brandstifter gibt, die nicht nur mit Springerstiefeln, sondern auch im Anzug mitten unter uns sind. Die Ächtung der Sympathisanten ist Teil der Aufgaben, die aus so einer Bürgerinitiative erwachsen müssen. Erwarten Sie ein Verbot der NPD? Ich erwarte, dass wir etwa für das Internet eine internationale Gesetzeslage schaffen, mit der sich das Internet nicht mehr als Kommunikationsmedium für Hass und Gewalt missbrauchen lässt. Gruppierungen, die unter dem Deckmantel der Partei demokratiefeindlich sind, sollten auch verboten werden, wenn dafür die Voraussetzungen gegeben sind. Ich warte, und bin dabei sehr ungeduldig, dass wir endlich von den verantwortlichen Stellen die Informationen erhalten, ob die Voraussetzungen gegeben sind. Was erhoffen Sie sich von einem Verbot? Das Problem sind doch nicht Parteifunktionäre alleine, sondern auch ihre Anhänger. Ein Verbot der NPD oder anderer rechtsextremer Parteien ist der letzte Schritt, nicht der erste. Denn deutlich sein muss: Das Verbot von Parteien entlastet nicht die Gesellschaft davon, sich mit den Anhängern der Partei auseinander zu setzen. Für mich ist der Rechtsradikalismus das politische Grundsatzthema Nummer eins. Fürchten Sie, dass jüdische Mitbürger wieder daran denken, die Koffer zu packen? Der feige Anschlag in Bamberg lässt die Ereignisse von Düsseldorf unter einem anderen Licht erscheinen. Deutlich wird, das es ein akutes Bedrohungspotenzial auch für Juden in Deutschland gibt. Ich weiß von Juden, dass sie zum ersten Mal mit einer tiefen Verunsicherung und Besorgnis beobachten, was passiert. Wenn ich feststellen muss, wie viele Menschen für den Schutz der Tiere auf die Straßen gehen und wie wenige Menschen für den Schutz von Menschen, spüre ich, dass die Anfänge längst hinter uns sind. (Mit dem Vize-Vorsitzenden des Zentralrats der Juden sprachen in Frankfurt am Main die FR-Redakteure Matthias Arning und Jochen Siemens.) (aus: "Endlich die Augen öffnen", Interview mit Michel Friedmann, in: Frankfurter Rundschau vom 08.08.2000)