Informationstext 04 Aggression ist ansteckend wie Cholera

Die Bekämpfung rechtsextremistischer Gewalt muss auf drei Ebenen ansetzen Grundgesetzänderung beim Demonstrationsrecht, NPD-Verbot und umfassende Videoüberwachung - die hastige Suche nach schnellen Lösungen täuscht über die Langfristigkeit des Problems hinweg. Konzepte, die die sozialen und psychologischen Motive rechter Gewalt berücksichtigen, werden sich aber auf langfristig angelegte und differenzierte Ansätze konzentrieren müssen.

Ein wesentlicher Fehler der kontrovers geführten Debatte liegt in der Verwechslung von Einstellungsmustern und Verhaltensbereitschaften. Entweder wird auf die Veränderung rechten Gedankenguts abgezielt, wie dies etwa die sogenannte akzeptierende Sozialarbeit versucht. Oder massive Maßnahmen von Polizei und Justiz sollen Abschreckung erzielen. Die erste Annahme setzt voraus, dass rechte Straftäter in ihren Einstellungen entscheidend beeinflussbar seien, und dass aus solchen Meinungsänderungen in der Folge auch die Gewaltbereitschaft abnehmen soll. Diese Theorie - Meinungsänderung gleich Verhaltensänderung - ist aber seit Jahrzehnten von der Sozialpsychologie widerlegt.

Die andere Herangehensweise unterstellt, dass der heranwachsende Gewalttäter urplötzlich in Erscheinung tritt und nur durch repressive Maßnahmen bekämpft werden kann. Dieser Ansatz vernachlässigt die Entstehungsbedingungen von Ressentiments und den Nährboden der Gewalt. Tatsächlich kündigen sich massive Gewalthandlungen eines späteren Straftäters bereits durch zahlreiche Symptome während Kindheit und Jugend an, auf die frühzeitig durchaus noch erfolgversprechend Einfluss genommen werden kann.

Rechte Straftaten gegen Minderheiten, schwache und unterlegene Personen sind in erster Linie Ausdruck eines Gewaltproblems. Über ein entwickeltes und geschlossenes rechtes Weltbild aber verfügen die meist jugendlichen Täter keineswegs. Vielmehr dienen rechte ideologische Versatzstücke als Rechtfertigung, um die ohnehin bereits vorhandene Gewaltbereitschaft in konkrete Übergriffe münden zu lassen. Die Dürftigkeit der Begründungen und das häufig dumpfe Schweigen der Täter bei Verhören und Verhandlungen lassen keinen Zweifel an der bloß stützenden Funktion rechter Gedanken. Hasstiraden haben somit eine Korsettfunktion für das Selbst. Sie sollen sich und anderen die eigene Destruktivität erklären, um nicht vor ihr zu erschrecken. Wäre es anders, müssten sich rechte Gewalttäter - ähnlich wie Hooligans vor ihren Taten - nicht in Stimmung trinken und durch Hetzparolen vorab stimulieren, um ihre Aggressionshemmung zu senken.

Akzeptierende Sozialarbeit hat daher aus zwei Gründen einen grundsätzlich falschen Ansatz. Jede psychosoziale Intervention müsste sich der latenten Gewaltbereitschaft rechter Gewalttäter annehmen. Versucht man jedoch lediglich, rechte Gedanken zu beeinflussen, wird damit die grundlegende Destruktivität nicht erreicht. Aus diesem Grund sind rechte Jugendliche in ihren Orientierungen tatsächlich nur wenig beeinflussbar. Denn selbst wenn ihre rechten Überzeugungen nachließen, würden sich die Jugendlichen wegen der fortbestehenden Gewaltneigung, die ja durch Einstellungsänderungen unbeeinflusst bleibt, lediglich neue Feindbilder suchen müssen. Aus den genannten Gründen sind besonders Jugendliche, die bereits Gewalterfahrungen haben oder latente Bereitschaft zur Ausübung von Gewalt besitzen, für rechte Ideologien besonders anfällig: Rechtes Gedankengut bietet zahlreiche Feindbilder, die dem Hass Möglichkeiten der scheinbar gerechtfertigten Abfuhr bieten. Ein Verbot rechter Parteien wie der NPD würde zwar die Legitimation und Beheimatung in einer Partei entziehen, die grundsätzliche Gewaltbereitschaft rechter Täter aber nicht schmälern.

Auch die Annahme, Ventile für aggressives Verhalten zu schaffen, senke die Gewaltneigung, ist irrig. Aggression ist ansteckend wie Cholera, stellte der Wiener Konfliktforscher Friedrich Hacker fest. Für gewaltbereite Jugendliche bedeutet dies, dass die Hemmschwelle immer weiter sinkt, je mehr Gewalt ohne Konsequenzen ausgeübt werden kann. Wenn innere Strukturen zur Regulation von Affekten und Impulsen fehlen, werden äußere Grenzen benötigt. Da solche Ich-Funktionen häufig nur noch bedingt oder gar nicht nachreifen, sind dauerhafte äußere Eingrenzungen zur Gewalteindämmung not-

Staatliche Interventionen geraten mithin in ein Dilemma: Treten Polizei und Justiz konsequent auf, erleben sich rechte Gewalttäter als Opfer einer ungerecht verfolgenden Staatsmacht, was als Rechtfertigung für Straftaten dient. Mangelt es jedoch an konsequenter Verfolgung, wird dies als lächerliche und letztlich auch enttäuschende Schwäche der Autorität empfunden, was ebenfalls Hass auf den Plan ruft.

wendig. Wenn aber äußere Strukturen fehlen, suchen sich Jugendliche eigene Vorbilder und finden sie häufig genug in den überschaubaren Thesen rechtsextremistischer Ideologien. Der Mangel an äußeren Grenzen und Strukturen gründet auch in der Enttäuschung über Vor- und Leitbilder und die durchgängig als verlogen erlebten politischen Repräsentanten. Wenn "die da oben" ohnehin alle gleich zu sein scheinen, entsteht das Gefühl hilflosen Ausgeliefertseins, das sich in politischen Ressentiments äußert.

Besonders in Ostdeutschland kommt die Enttäuschung über persönliche Vorbilder und Autoritäten hinzu. Aus einem vermeintlich behüteten, jedenfalls aber vorgezeichneten Lebensweg wurden junge Menschen in die Leere entlassen und mit ihren Fragen und Nöten allein gelassen. Die verzweifelte Suche nach glaubhaften Autoritäten kann in autoritärem Denken und Hass gegen das politische System münden, das am empfindlichsten durch Gewalt gegen Minderheiten getroffen werden kann. Demzufolge vermittelt akzeptierende Jugendarbeit allzu leicht, dass staatliche Autorität zu schwach ist, um der eigenen Destruktivität Grenzen zu setzen.

Staatliche Interventionen geraten mithin in ein Dilemma: Treten Polizei und Justiz konsequent auf, erleben sich rechte Gewalttäter als Opfer einer ungerecht verfolgenden Staatsmacht, was als Rechtfertigung für Straftaten dient. Mangelt es jedoch an konsequenter Verfolgung, wird dies als lächerliche und letztlich auch enttäuschende Schwäche der Autorität empfunden, was ebenfalls Hass auf den Plan ruft. Dennoch ist engagierte Sozialarbeit keineswegs sinnlos, wenn sie rechtzeitig ansetzt. Denn Gewalttäter fallen fast immer bereits im Vorfeld in Kindergärten, Schulen und im Wohnumfeld auf. Wenn allerdings Jugendämtern nur wenig Mittel für sozialpädagogische Familienhilfen zur Verfügung stehen, werden notwendige präventive oder therapeutische Maßnahmen unterlassen, wo sie noch erfolgversprechend sein könnten. Tatsächlich können eingrenzende, Halt und Struktur gebende regelmäßige Besuche mit Hilfsangeboten für Haushalt und Alltag durchaus aggressions- und gewaltreduzierend in den Familien wirken.

Die Vorgeschichte gewalttätiger Gefängnisinsassen oder Patienten forensischer Einrichtungen ist mit großer Regelmäßigkeit von Gewalt und Verwahrlosung im familiären und Wohnumfeld geprägt. Polytraumatisierte Kindheiten schaffen Straftäter, die ihre Traumata an andere weiterreichen. Eingegriffen wird meist erst, wenn es eigentlich schon zu spät ist. Es nutzt nichts, jetzt schnelle Lösungen zu fordern, wenn der Nährboden für rechte Gewalt in Jahrzehnte langer Gleichgültigkeit und Konzeptionslosigkeit der politischen Entscheidungsträger zu suchen ist.

Somit hat die Bekämpfung rechtsextremistischer Gewalt auf drei Ebenen anzusetzen: Der Prävention hinsichtlich der Entstehungsbedingungen für Gewalt - ob sie sich rechtsextrem oder anders äußert. Dies hat durch engagierte und umfassende Familien-, Wohn- und Bildungspolitik zu geschehen. Eine solche Politik ist anders als die gegenwärtigen raschen Aufrufe nicht zum Nulltarif zu haben. Streichorgien bei Jugend- und Freizeitarbeit hatten und haben fatale Konsequenzen - ebenso wie die Ausdünnung psychosozialer Netzwerke. Intensive Betreuungsarbeit darf dabei keinesfalls stigmatisieren. Denn das Gefühl, ausgegrenzt zu sein oder zu "denen da unten" zu gehören, schafft Widerstände, die sich wiederum in gewalttätigem Handeln äußern können.

Zweitens muss den bereits vorhandenen Gewalttätern konsequent begegnet werden. Diese polizeiliche und strafrechtliche Verfolgung basiert auf der Notwendigkeit, den fehlenden inneren Regulationsmechanismen der Straftäter äußere entgegenzusetzen, ohne welche Affekt- und Impulskontrolle der eigenen Destruktivität nicht mehr möglich ist. Schließlich ist dem akzeptierenden und unterstützenden Umfeld zu begegnen, das rechte Gedanken bis hin zur Gewalt duldet oder gutheißt. Andernfalls werden sich Gewalttäter als verlängerter Arm eines schweigenden Bürgertums oder einer zu Taten zu schwachen Politik phantasieren. Auch dies ist nicht zum Nulltarif möglich. Denn eine breit angelegte und dauerhafte Kampagne müsste vor allem gesellschaftlich zentrale Bereiche erfassen: Polizei, Lehrer und Erzieher, Ämter und Bundeswehr.

Ein konzeptionsloses Hin- und Hertaumeln jedoch vermittelt enttäuschende Schwäche. Die Politik wird sich daran messen lassen müssen, inwieweit sie bereit ist, die verbale Sorge um einen Rechtsruck in klare Konzepte zu gießen und sie auch umzusetzen.

(Andrea Schneider ist Journalistin in Aachen, Micha Hilgers ist Psychoanalytiker in Aachen)

(aus: Andrea Schneider und Micha Hilgers, Aggression ist ansteckend wie Cholera, in: Frankfurter Rundschau vom 12.08.2000)