Informationstext 06 Wilhelm Heitmeyer: Integrations- und Desintegrationsprobleme der Gesellschaft

[...] Es wäre viel gewonnen, wenn es uns gelänge, eine unbequeme Debatte zu führen. Denn in den letzten 14 Tagen schien es so, als überwiege in der Diskussion die finanzielle Standortgefährdung gegenüber der Gefährdung von Menschenwürde, als sei das Problem des Rechtsextremismus neu und als ob man das Phänomen quasi ruckzuck jetzt lösen könne. Damit würde, wenn sich eine solche Linie durchsetzen sollte, ein neuer Selbsttäuschungsversuch über den Zustand dieser republikanischen Gesellschaft eingeläutet.

Dabei ist eindringlich zu fragen, ob sich die Verbotsdebatte zur NPD nicht in eine Entlastungsfalle hineinmanövriert.

Kommt die Vorprüfung zu einem negativen Ergebnis, also dass kein Verbotsantrag gestellt wird, dann erscheint diese Partei verfassungsgemäß, d.h. dies hat positive Auswirkungen auf die Mitläufer. Kommt nach einem Antrag das Verfassungsgericht zum negativen Urteil, dann hat dies positive Auswirkungen auf die Parteiorganisation. Und selbst, wenn das Verbot erfolgreich wäre, gibt es positive Auswirkungen auf Gewalttäter, die sich als politische Märtyrer stilisieren können, um den sogenannten "nationalen Widerstand" eskalierend weiterzuführen.

Auch gibt es die Wirkungsfalle, denn aufgrund der Verbote in den 90er Jahren dürften wir die heutigen Probleme angesichts unterstellter Wirksamkeit gar nicht haben. Noch prekärer ist die Repressionsfalle mit schärferen Gesetzen, höherer Kontrolldichte, eingeschränkterem Demonstrationsrecht etc. Das soziale Misstrauen würde wachsen, die liberale Demokratie bliebe auf der Strecke, letztlich genau das, was die Rechtsextremen wollen.

Es ist also Vorsicht angebracht, damit nicht allmählich eine Politik sozialer Sicherung zu einer Politik öffentlicher Sicherheit wird. Zahlreiche Widersprüche zwischen politischer Rhetorik und faktischem Handeln sind derzeit erkennbar.

Letztendlich ist die aktuelle Debatte ein defensives, nur reaktives Vorgehen, man hechelt gewissermaßen hinter den rechtsextremen Gruppen hinterher.

Dies liegt an zwei Gründen. Erstens setzt man am Ende der Entwicklungsprozesse von menschenfeindlichen Einstellungen wie Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Verachtung von Anderssein und Etabliertenvorrechten an, die ja unzweifelhaft in die Wählerschaften der demokratischen Parteien hineinragen und auf die man bei knappen Wahlentscheidungen angewiesen ist. Diese Einstellungen verdichten sich dann zum Rechtsextremismus, wenn Gewaltakzeptanz und Gewalttätigkeit hinzukommen und sich organisatorisch über emotionalisierte Gruppenzugehörigkeit verbinden.

Wenn man am Ende des Politisierungsprozesses ansetzt, dann geht die Aufmerksamkeit und das Interesse daran verloren, in welchen Stadien menschenfeindliche Einstellungen und Gewalt entstehen und eskalieren.

Der zweite Grund hängt damit zusammen und ist besonders gravierend. Es wird vielerorts so getan, als hätten diese rechtsextremen Gruppen mit den aktuellen ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen in dieser Gesellschaft nichts zu tun, so als seien es Sonderfälle abseits einer ansonsten intakten Gesellschaft.

Die Durchsetzung einer solchen problematischen Deutung wird seit langer Zeit von einer Vielzahl relevanter gesellschaftlicher Gruppen betrieben. Das sind moralische Entlastungsstrategien ebenso wie Abschirmungsinteressen, die dringend auf den unbequemen Prüfstand gehören. Kurz: es geht entscheidend darum, den Blick auf die Mitte der Gesellschaft zu lenken, weil dort Probleme entstehen, deren politische Auswirkungen sich dann in menschenverachtender Gewalt am rechtsextremen Rand zeigen.

Die dominierenden und erfolgreichen Umdeutungsaktivitäten, nämlich die Probleme zu personalisieren ("Das sind eben Neonazis"), zu pathologisieren ("Das sind eben Verrückte"), zu biologisieren ("Das sind eben Gewalttäter"), laufen Gefahr zur moralischen Selbststilisierung zu geraten und als politische Selbstentlastung herhalten zu müssen. Damit wird aber dem Phänomen des Rechtsextremismus in gar keiner Weise Rechnung getragen.

Rechtsextremismus setzt sich nach meiner Auffassung aus einer Ideologie der Ungleichwertigkeit von Menschen und Gewalt zusammen. Diese Ideologien der Ungleichwertigkeit werden auch von Teilen der Eliten dieser Gesellschaft produziert und gewinnen umso größere Legitimation für das gewalttätige Handeln jener Gruppen, je höher die soziale Position derer ist, die diese Ideologien äußern.

Das beginnt schleichend und auch schon mit Unaufmerksamkeiten. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass Wissenschaftler die Auschwitzlüge propagieren und aktuell im Historikerverband nicht bemerkt wird, dass sein Verbandstag, der demnächst in Aachen stattfindet, von dem rechtsextremen Verlag gesponsert wird, der eben diese Bücher zur Auschwitzlüge publiziert. Dazu gehört das Wort eines Konzernvorstandes, der vor nicht allzu langer Zeit von "Wohlstandsmüll" sprach und damit bestimmte Gruppen von Menschen meinte. Und dazu gehört ein ehemaliger Innenminister eines Bundeslandes, der sagte, dass er eine durchrasste Gesellschaft nicht zulassen wolle. Ebenso gefährlich ist derjenige Amtskollege, der zwischen uns nützlichen und ausnützenden Ausländern unterscheidet. Er liefert das Einstiegsmaterial. Mit dieser Unterscheidung nach Nützlichen und Unnützen beginnt die Ideologie der Ungleichwertigkeit. Die Rechtsextremen radikalisieren diese Position in gewalttätiger, zum Teil tödlicher Weise.

Auf der anderen Seite muss auch die Entstehung von Gewalt erklärt werden, um zu erkennen, wo ebenfalls anzusetzen ist. Die Probleme beginnen sehr früh und zwar dort, wo es um Anerkennung von Gleichwertigkeit und Unversehrtheit geht. Wir wissen doch schon lange, dass die meiste Gewalt nicht durch Jugendliche auf der Straße ausgeübt, sondern in Familien erfahren wird. Damit wird das Recht auf Unversehrtheit tief verletzt, Respekt geht verloren und Gewalt wird als effektives Handeln erlernt. Die zunächst unabhängig entstehenden Elemente verbinden sich dann, wenn für die Person selbst die prekäre Gefährdung ihrer eigenen sozialen Integration entsteht, d.h. vor allem, wenn eines auf dem Spiel steht: Anerkennung.

Dies ist m.E. ein zentraler, vielleicht sogar der Kernbegriff: wer einem Anerkennungszerfall ausgesetzt ist, erkennt auch andere Personen und soziale Normen nicht mehr an. Die Gewaltschwelle sinkt und wenn dann noch Legitimationsmuster in Form der Ideologie der Ungleichwertigkeit vorhanden sind sowie Gruppen, die über Stärkedemonstration noch Anerkennung versprechen, dann ist der Prozess vollendet, der viel früher begonnen hat.

Vor diesem Hintergrund geht es nicht um abruptes Auftauchen aus dem Nichts, sondern um komplizierte Abläufe. Am Anfang stehen mit Ausnahme der mit Machtkalkül ausgestatteten Kader zumeist Ängste um die für selbstverständlich gehaltenen Zugänge zum Arbeitsmarkt, adäquatem Wohnraum, Teilnahmemöglichkeiten und Zugehörigkeiten. Die Verunsicherung bildet den Nährboden. Sie ist in großen Teilen der Bevölkerung, vor allem in Ostdeutschland vorhanden. Am Ende stehen dann jene scheinbare Sicherheiten, die über Deutschsein und im Extremfall durch menschenfeindliches Verhalten sowie insbesondere auch Gewalt hergestellt werden. Die Wirksamkeit solchen Verhaltens ist verbunden mit einem Ausmaß an Gleichgültigkeit, das inzwischen extrem hoch ist. Genau dies ist nicht verwunderlich, wenn vielerorts die eigene Durchsetzung, also hinter vorgehaltener Hand das Recht des Stärkeren gepredigt wird. In radikalisierter Form findet man dies auch bei den Rechtsextremen. Diesmal allerdings nicht als individuelle Durchsetzung, sondern als kollektive gegenüber den Fremden oder Schwächeren. Rechtsextreme Parteien und Organisationen sind die Nutznießer sozialer Desintegrationsängste oder -erfahrungen.

Erst wenn man sich diesen Prozessstadien stellt, die mehr mit dem Agieren von Wissenschaftlern, Politikern, Wirtschaftseliten, Medien etc. zu tun haben als uns lieb ist, kann man auch jene entscheidenden Stellen im Prozessverlauf erkennen, wo es um die Bedrohung oder Zerstörung von Anerkennung geht. Und man wird auch die Punkte erkennen, wo eine erfolgreiche positive Anerkennung nicht mehr greift, weil eine negative Anerkennung in rechtsextremen Parteien, Kameradschaften etc. viel wichtiger geworden ist. Dann bleibt tatsächlich nur noch massive Repression, um Leben zu schützen.

Insgesamt gehören die Integrations- und Desintegrationsprobleme in dieser Gesellschaft auf die Tagesordnung. Dabei geht es um eine doppelte Integrationsperspektive, also von Zugewanderten und von Teilen der Mehrheitsgesellschaft. Deshalb haben auch die Wirtschafts- und Finanzressorts - heute aus vermutlich guten Gründen - hier nicht vertreten, mehr mit unserer Thematik zu tun als gemeinhin gedacht wird.

Nirgends wird die Brisanz deutlicher als im Alltag von Städten und Stadtteilen, wo Menschen unterschiedlicher sozialer Lagen und ethnisch-kultureller Herkunft zusammenleben können, aber auch zusammenleben müssen. Wir haben kürzlich mit Hilfe der Förderung des Wissenschafts- sowie des Arbeits- und Sozialministeriums eine größere Studie in nordrhein-westfälischen Städten abgeschlossen. Das Ziel war wieder, früh Probleme zu erkennen, also am Anfang anzusetzen. Neben ermutigenden Zeichen lassen sich auch äußerst fragile Verhältnisse aufzeigen. Je größer die Desintegrationsängste, desto stärker war die Ethnisierung sozialer Probleme, also die Schuldzuschreibung an andere Gruppen. Dieser Mechanismus findet sich sowohl bei Mehrheitsangehörigen als auch bei Teilen der Minderheit. Zugleich tut sich in manchen Stadtteilen ein politisches Repräsentationsvakuum auf, und die Rückzugstendenzen von Migranten sind unübersehbar. Übereinstimmend, um nur eine Zahl zu nennen, sagten jeweils ein Viertel der befragten deutschen und türkischen Bewohnerschaft, dass das Zusammenleben in den letzten Jahren im Stadtteil schlechter geworden sei.

Deshalb ist es m.E. notwendig, dass sich die Stadtgesellschaften mehr und intensiver denn je um den Integrationszustand ihres Gemeinwesens kümmern. Das bedeutet auch, dass sich die tatsächlich einflussreichen lokalen Eliten sichtbar, hörbar und kontinuierlich zu Wort melden müssen. Dies passiert nicht. Die Delegation entweder an "die" Politik oder an "die" Sozialarbeit bzw. an "die" Eltern ist zu wenig. Also, wo sind die lokalen Eliten? Auch unsere Ergebnisse zeigen, dass die Bewohner sog. besserer Gegenden mit unserem Thema wenig zu tun haben wollen, gleichzeitig aber auch große Distanz zu Fremden an den Tag legen. Der Lack von angeblich liberaler Toleranz blättert schnell ab, wenn z.B. Symbole einer fremden Religion in ihrem Wohngebiet auftauchen.

Im übrigen halte ich den Begriff der Toleranz, obwohl viel gerühmt, für eher problematisch. Die Kritik am Begriff der Toleranz ist lange bekannt. Umso erstaunlicher ist es, dass dies nicht in den öffentlichen Diskurs eingegangen ist. Der Begriff ist nicht nur problematisch, weil er oft nichts anderes als Duldung meint, was immer auch eine Art versteckter Abwertung beinhaltet, aber gerne übersehen wird. Er ist vor allem einseitig. Toleranz betont das Konfliktlose, ja negiert gar Konflikte, die in multiethnischen und in schnellen, oft sehr ambivalenten Modernisierungen befindlichen Gesellschaften den Normalfall darstellen. Der angemessene Begriff dagegen wäre Anerkennung, den ich als wechselseitig ansehe und der auf ein konflikthaftes Ringen um gemeinsam geteilte Prinzipien angelegt ist, das wechselseitige Anerkennen von Unversehrtheit und Gleichwertigkeit.

Die zentrale Frage ist also, wie kommen wir zu einer neuen Kultur der Anerkennung?
Sowohl für die Integration der Stadtgesellschaft als auch für eine Kultur der Anerkennung verwenden wir zu wenig Anstrengung - vielleicht ist es auch zu anstrengend und es geht zu sehr an die eigenen Interessen.
Vor diesem Hintergrund lässt es sich leider nicht vermeiden, einige der schnellen Ideen und immer wiederkehrenden Gewissheiten zu erschüttern.

Wenn also diese Debatte eine Chance darstellen soll, dann nur dann, wenn wir mit unseren eigenen Mythen aufräumen.

Dagegen will ich drei Punkte noch einmal betonen: Wie werden die Vorformen dieser Ideologien der Ungleichwertigkeit bekämpft? Wie können wir früh die Erfahrung und das Lernen von Gewalt verhindern. Wie organisieren wir früh Anerkennung?

Angebracht ist dann auch die Frage, wie Bündnisse dabei helfen können. Nur, was sind eigentlich Bündnisse? Wir können es uns nicht mehr leisten bloß irgendwas zu machen und nur ein Etikett erfinden.

Das "Bündnis für Demokratie" in Berlin ist symptomatisch. Es ist leer. Wir sollten dies nicht wiederholen. Dabei müssen wichtige Fragen geklärt werden: Wer macht eigentlich was? Gibt es eine Zielrichtung? Wer bildet den Motor? Wer schiebt immer wieder an?

Es ist also Vorsicht geboten. Ich sage dies bewusst selbstkritisch, weil wir z.B. 1993 auf einer Tagung in Bielefeld durch Unterstützung und engagierte Mitwirkung des damaligen Innenministers Schnoor diese Punkte so gut wie alle schon einmal diskutiert haben. Aber was ist eigentlich schiefgelaufen?

Gerade vor diesem Hintergrund verdienen jene kleinen Initiativen, die es ja zum Glück auch gibt, die langfristig, stetig und offensiv an den Problemen arbeiten, sehr viel mehr Beachtung, gerade wenn sie störrisch und unduldsam sind. Sie haben Grund dazu.

(W.Heitmeyer ist Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, Universität Bielefeld)

(aus: Wilhelm Heitmeyer, Debatte zum Rechtsextremismus, beim Stadttorgespräch in Düsseldorf am 16.8.2000, Presseamt der Landesregierung)