Informationstext 01 Cliquenorientierte Jugendarbeit

[...] Zur Bedeutung und Funktion von Cliquen
Cliquen sind kein Phänomen, das sich nur in selbstgestalteten Freizeitbereichen fin­det. Cliquen finden wir auf der Straße ge­nauso wie in der Schule, in der Arbeits­welt oder in der Jugendarbeit. Sie stellen innerhalb wie außerhalb solch etablierter Strukturen immer wieder neue Versuche Jugendlicher dar,

Die Wege freilich, die sie dazu beschreiten, und die Mittel und Handlungsmuster, die sie dazu einsetzen, haben sie weithin der bestehenden Erwachsenengesellschaft - wo sie sie aus ihrer Perspektive erleben und erleiden - abgeguckt. Wir finden dort weithin die gleichen Muster von Mißtrauen, Konkurrenz, Imponiergehabe, Machtausübung, Unterdrückung und Gewalt. Meist sind lediglich die Stile, Rituale und Symbole, mit denen sie all das zum Ausdruck bringen und ausleben, jugendkulturell ausgeformt. Um so wichtiger ist es, hinter den Erscheinungsformen von Cliquen nicht deren grundlegende Antriebe und Bedürfnisse zu übersehen. Selbst wo sich sehr problematische, ja teils gar erschreckende und Empörung auslösende Umgehens - und Verhaltensweisen zeigen, sind diese doch letztlich in aller Regel getragen von dem subjektiven Bemühen, das “eigene Leben mit anderen gemeinsam in den Griff zu kriegen" und “aus dem eigenen Leben was zu machen". Entsprechend werden die Jugendlichen auch keine Vorwürfe und keine Sanktionen davon abbringen können, sich so zu verhalten, sondern allenfalls zum “Entdecken" und “Ausprobieren" von anderen Wegen und Möglichkeiten führen, die sich als erfolg­versprechender und als weniger riskant erweisen. [...]

Grundlagen cliquenorientierter Jugendarbeit
Cliquenorientierte Jugendarbeit begreift -zusammengefaßt - Jugendszenen und Jugendkulturen als den Versuch Jugendlicher, sich - in einer Welt, in der sie sich immer wieder ohnmächtig und vereinzelt fühlen, in der es ihnen immer schwerer fällt, überhaupt beachtet zu werden oder gar etwas zu bewirken - selbst soziale Zusammenhänge zu organisieren, selbstbestimmt aus ihrem Alltag etwas machen und dort irgendwie etwas bewirken zu wollen - selbst wenn die Art und Weise, wie es manche tun, noch so sehr erschrecken mag. Cliquenorientierte Jugendarbeit versteht solche Prozesse als Suchprozesse Jugendlicher, mehr aus ihrem Alltag und ihrem Leben zu machen, als ihre Lebenswelt sonst zu bieten scheint. Entsprechend sucht sie solche Prozesse nicht zu bekämpfen, sondern zu begleiten und zu unterstützen. Sie nimmt entsprechend auch die aktuellen Selbstverständnisse, Selbststilisierungen und Abgrenzungsbedürfnisse von Cliquen ernst. Die Bedeutung von Cliquen für Jugendliche anzuerkennen und zu akzeptieren heißt zunächst einmal, Abschied zu nehmen von einigen scheinbaren “Selbstverständlichkeiten" von Jugendarbeit:

Solche Abschiede fallen vielen in der Jugendarbeit häufig schwer. Und sie werden zudem häufig vom Träger oder von der lokalen Öffentlichkeit mit deren Erwartungen schwergemacht. Aber: Wo alle pädagogische Überzeugung nicht dazu sieht, sich von solchen und ähnlichen Vorstellungen zu verabschieden, da drängen dann vielleicht schließlich immer wiederkehrende (Mißerfolgs-)Erfahrungen zu solchen Schritten. Denn praktische Erfahrungen beweisen immer wieder, daß Jugendarbeit in der Regel sehr schnell zum Scheitern verurteilt ist, wenn sie Cliquen in ihrer Bedeutung nicht ernst nimmt. Denn im Zweifelsfall erweist sich das subjektive Gewicht von Cliquenzusammenhängen fast immer als viel zu stark, als daß pädagogische Interventionen dagegen ankämen. Ziel von Jugendarbeit im Umgang mit Cliquen - ob in offenen Jugendeinrichtungen, in der Arbeit von Jugendverbänden oder in aufsuchender Jugendarbeit - kann und darf demnach nicht sein, Jugendliche aus ihnen herausholen, die Cliquen schwächen, deren Wirken eindämmen und deren Zusammenhalt am besten ganz zerschlagen zu wollen. Denn die Ziele, die hinter der Bildung von Cliquen stehen, sind - wie oben aufgezeigt - letztlich ganz zentrale Ziele von Jugendarbeit. Daran ändert auch nichts, daß diese Ziele von manchen Cliquen in nicht akzeptabler oder gar in erschreckender Weise umgesetzt werden. Zentrales Ziel muß vielmehr sein, Cliquen zu begleiten, zu beraten und zu unterstützen in ihren selbstgestalteten Prozessen der Alltagsgestaltung und Lebensbewältigung. Das setzt voraus,

  1. sich für die Clique überhaupt zu interessieren, für das, was sie ausmacht und welche Menschen zu ihr gehören -und nicht nur zu blicken auf das, was einen vielleicht stört,
  2. sich anzubieten, um die Clique in ihrer Alltagsgestaltung und Alltagsbewältigung zu begleiten und darin zu erleben,
  3. anzuerkennen, daß es letztlich die Clique ist. die die Definitions- und die Entscheidungsmacht darüber besitzt, was passiert und was nicht (es ist also nicht eine Jugendarbeit gefragt, die Programme, Aktivitäten, Beschäftigung anbietet, sonder eine, die sich einläßt!),
  4. anzuerkennen, daß es letztlich die Clique ist, die darüber entscheidet, was in ihr gegenwärtig “angesagt ist", welche Verhaltensweisen, Symbole und Rituale “einfach dazugehören" usw.,
  5. sich einzusetzen dafür, daß die Clique überhaupt sozialen Raum findet, um sich zu entfalten.

Cliquenorientierte Jugendarbeit hat es immer wieder zu tun mit Cliquen, an denen die erwachsene Umgebung massiv Anstoß nimmt. Das liegt zum einen daran, daß Jugendarbeit seit jeher dazu gedrängt wird, sich vor allem um diejenigen zu kümmern, die “auffallen und stören", und zweitens daran, daß im Umgang mit solchen Jugendlichen cliquenorientierte Ansätze bislang am weitesten entwickelt worden sind. Denn in der Praxis von Jugendarbeit zeigt sich bis heute immer wieder, daß erst dann ein cliquenorientierter Ansatz erwogen wird, wenn man mit allen konventionellen Mustern von Jugendarbeit nicht “an die Jugendlichen rankommt", gleichzeitig dieses Ziel aber auch nicht aufgeben will.
Die extremste dieser Richtungen machen seit einigen Jahren Jugendcliquen mit ausgeprägten rechten Orientierungen und entsprechender Gewaltbereitschaft aus. Lange galt es geradezu als Nachweis demokratischer und antifaschistischer Grundhaltungen in der Jugendarbeit, solche Jugendlichen aus Jugendarbeit auszugrenzen. Erst seit Ende der 80er Jahre wurde in einzelnen Orten begonnen, auch solchen Cliquen Jugendarbeit anzubieten. Diese Anfange wurden begleitet von massiven Angriffen und Vorwürfen in der Öffentlichkeit und der Fachöffentlichkeit. Das Ziel war, gegen alle Anfeindungen darauf zu bestehen, daß Jugendarbeit auch diese Jugendlichen mit Problemen, die sie haben, ernst nehmen müsse und nicht nur die Probleme sehen dürfe, die sie machen. Denn auch für diese Jugendlichen gelte der allgemeine Grundsatz, “sie dort abzuholen, wo sie stehen" (vgl. Krafeld/Möller/Müller 1993).
Diese hier kurz skizzierte Zielsetzung wurde herausgestrichen durch die bewußt pointiert und auch provokant wirkende Bezeichnung “akzeptierende Jugendarbeit". Und die Kontroverse um den Begriff entwickelte sich in den Folgejahren zu einem zentralen Kristallisationspunkt der Debatte, ob Jugendarbeit bestimmte Gruppierungen Jugendlicher von ihren Angeboten ausschließen dürfe (vgl. Krafeld 1994). In jüngster Zeit findet sich der Begriff “akzeptierende Jugendarbeit" gelegentlich auch in einem erweiterten Sinne, nämlich bezogen auch auf andere jugendliche Extremgruppierungen, vor allem allgemeiner auf Extremgruppierungen mit einem ausgeprägten Gewaltverhalten.

Handlungsprinzipien cliquenorientierter Jugendarbeit
Die Entwicklung von Handlungsprinzipien im Umgang mit Cliquen hat davon auszugehen, daß Cliquen einerseits ganz zentrale von Jugendlichen selbst geschaffene Muster sind, sich gesellschaftliche Realität handelnd anzueignen, und andererseits - wie schon aufgezeigt - die Entwicklung solcher Muster in jeder Gesellschaft selbstverständlich vorrangig diejenigen Orientierungs- und Handlungsmuster aufgreift und umsetzt, die in dieser Gesellschaft dominant sind. In einer Gesellschaft demnach, in der gewaltförmige Verhaltensweisen, in der patriarchale Herrschaftsmuster, in der Konkurenzverhaltensweisen eine zentrale Rolle spielen, ist schlechterdings kaum zu erwarten, daß die Masse der Jugendlichen auf der Suche nach Selbstverwirklichung ganz andere Muster als solche gesellschaftlich primär angebotenen aufgreift. In den Cliquen schlägt sich demnach wie in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen eine wachsende Schere zwischen denjenigen Werten und Orientierungen durch, die von den Sozialisationsinstanzen propagiert werden, und denjenigen, die in dieser Gesellschaft am ehesten Erfolg versprechen, nämlich “Erziehung zum sozialen Verhalten" auf der einen Seite und “Erziehung zu Egoismus und Konkurrenz" auf der anderen Seite.
Cliquenorientierte Jugendarbeit hat sich also in derartige Prozesse kritisch begleitend einzumischen, innerhalb wie außerhalb von Jugendeinrichtungen. Falsch und gefährlich wäre es jedoch, aus dieser Schere die Schlußfolgerung zu ziehen, Jugendliche aus Cliquen (zumal aus problematischen Cliquen) herausholen zu wollen, auffällige Cliquen am besten zerschlagen zu sollen. Solche Art beschützender Pädagogik hat immer wieder - bestenfalls! - eine äußerst geringe Reichweite. Weit sinnvoller und wichtiger ist hingegen. Jugendliche darin zu bestärken und befähigen, produktiver und vielfältiger die Chancen und Möglichkeiten zu entfalten, die die von ihnen geschaffenen Cliquen bieten. Nicht zuletzt bedeutet das, sie zu befähigen, mit Widersprüchen zwischen eigenen Bedürfnissen nach Selbstentfaltung und den aktuellen Cliquenrealitäten offener umzugehen. Und der Maßstab für einen geeigneteren Umgang ist letztlich immer das subjektive Empfinden, besser, erfolgreicher und zufriedener mit Aufgabenstellungen, Problemen und Interessen im Kontext eigener Lebensbewältigung zurechtzukommen. Nur wo z.B. die Sinnhaftigkeit von positivem Sozialverhalten in solchem Kontext praktisch erlebt und erfahren wird, da kann sich entsprechendes pädagogisch angezieltes Verhalten auch tatsächlich durchsetzen.

Jungen oder Mädchen dagegen aus Cliquen herausholen zu wollen macht allerdings nur da Sinn, wo diese das selbst wollen oder wo eine konkrete massive Gefährdung ein direktes entsprechendes Einschreiten unabdingbar macht. Weit sinnvoller als derartige Versuche ist dagegen in aller Regel, Jugendliche dabei zu unterstützen, sich nicht auf eine einzige Clique zu konzentrieren und zu fixieren, sondern sich möglichst unterschiedliche Cliquenzusammenhänge zu schaffen und sich in ihnen zu entfalten. Denn je vielfäl­tiger die Zusammenhänge sind, in denen sich Jugendliche bewegen, um so weniger sind sie auch abhängig von dem, was in konkreten Cliquen passiert. Aus Untersuchungen zum Devianzverhalten Jugendlicher wissen wir, daß der Anpassungsdruck an deviante Verhaltensweisen in Cliquen um so größer ist, je mehr sich Jugendliche genau auf diese eine Clique angewiesen fühlen. Und auf der anderen Seite werden Fähigkeiten und Kompetenzen zum Ausprobieren veränderter Umgehens- und Verhaltensweisen dadurch gefördert, daß vielfältige Handlungs- und soziale Erprobungsräume zur Verfügung stehen. Das gilt allerdings nicht nur für Zugehörigkeiten zu solchen Cliquen und Freundeskreisen, die mehr oder weniger unverbunden nebeneinander stehen. Sondern das gilt ebenso für diejenigen, die sich überlappen oder die gar Teilgruppierungen innerhalb größerer Gruppierungen darstellen. Zu denken wäre da etwa an das Vorhandensein reiner Mädchensubsysteme innerhalb von heterogenen Cliquen, in denen die gleichen Mädchen - als dritte Ebene - teilweise in Paarbeziehungen leben. Oder eine andere Ebene stellen Vernetzungen von Cliquen innerhalb größerer jugendkultureller Szenen dar oder innerhalb eines lokalen Zusammenhanges, wo aufgrund der sozialräumlichen Nähe über jugendkulturelle Unterschiede oder Grenzen hinweg nach wie vor soziale Kontakte gepflegt werden und genutzt werden können (vgl. dazu insgesamt: Kühnel/Matuschek 1995).
Cliquenorientierte Jugendarbeit ist letztlich - jenseits aller konventionellen Handlungsprinzipien von Jugendarbeit - erst mal und vor allem

Sozialräumlich ist cliquenorientierte Jugendarbeit anzulegen, da Cliquen sich jeweils ihre Orte suchen müssen, an denen sie unter sich sein können, und damit immer leichter mit der Umwelt in Konflikt geraten. Das fängt an bei konkurrenzhaften Konflikten um vorhandene Jugendeinrichtungen und deren Räumlichkeiten, ist aber vor allem ein immer gravierenderes Problem in den Alltagswelten von Jugendlichen. Denn wir haben in den letzten Jahren in einem ganz rapiden Tempo eine Funktionalisierung von Umwelt in dem Sinne erlebt, das Multifunktionalität zugunsten von Monofunktionalität breitflächig verschwand - selbst auf dem Lande. Vor ein, zwei Generationen war es noch üblich, daß sich Kinder und Jugendliche, auch in größerer Zahl, an vielen Orten treffen konnten, auf der Straße, auf Gewerbegrundstücken, auf Privatgrundstücken, auf zeitweise ungenutzten Flächen. Erwachsene schritten erst dann ein. Ärger gab es meist erst dann, wenn sie dort etwas anstellten. Heute reicht ganz oft schon allein die Tatsache, daß mehr als vier, fünf Kinder oder Jugendliche irgendwo zusammen sind, dafür aus, daß irgendwelche Erwachsene sich genötigt sehen, da zu intervenieren. Denn sie gehören nicht auf die Straße, nicht vors Einkaufszentrum, nicht auf das Abstandsgrün zwischen den Wohnblocks und erst recht nicht in die ökologische Schutzzone. Nun gibt es zwar viele Kinder und Jugendliche, die sich nicht gleich überall vertreiben lassen oder die gar immense Fähigkeiten entwickelt haben, sich solchen Versuchen zu widersetzen. Solche Fähigkeiten machen ja geradezu zum immer größeren Teil Auffälligkeiten von Jugendlichen aus und fördern diese. Aber auch für diejenigen Jugendlichen, die einfach nicht wegzukriegen sind von ihren Treffpunkten, ist dieses Raum-Verteidigen immer wieder eine höchst stressige und aufreibende Angelegenheit. Entsprechend wird das Anbieten von Räumen oder auch nur das Bemühen, informelle Treffpunkte besser zu schützen und abzusichern, von Cliquen durchweg als immens attraktives Angebot empfunden. Das Bedürfnis nach Raum erweist sich in der Praxis immer wieder als das erste zentrale Problem, über das sich Kontakt zu Cliquen herstellen und aufbauen läßt, “an die Jugendarbeit bislang nicht rankam" (vgl. dazu Krafeld/Möller/Müller 1993, S. 49-62).
Andererseits werden Jugendeinrichtungen sehr häufig geplant, “um Jugendliche von der Straße zu holen", nicht, um ihnen etwas zu bieten. Jugendeinrichtungen sollen den durchfunktionalisierten Erwachsenenwelten die störenden Kinder und Jugendlichen wegholen, mit einer Staubsauger-Pädagogik in Restzonen bringen, in die einzig verbliebenen Orte im Stadtteil, an denen sie sich dann noch legitimerweise aufhalten dürfen - und die sie dann freilich teilen sollen mit allen möglichen Gleichaltrigen, mit denen sie vielleicht gar nicht Zusammensein wollen. Solche Ghettoisierungsabsichten stehen dem - von Erwachsenen umgekehrt ja durchweg ebenfalls selbstverständlich in Anspruch genommenen - Bedürfnis entgegen, nicht auch noch in der Freizeit mit solchen Leuten Zusammensein zu wollen, die “man eigentlich überhaupt nicht abkann", “auf die man eigentlich überhaupt keinen Bock hat" oder “vor denen man endlich mal seine Ruhe haben will". Cliquen in Jugendeinrichtungen sind dann häufig solche,

Gerade gegenüber den letztgenannten Gruppierungen erscheint die weitverbreitete Praxis in der Jugendarbeit geradezu als absurd, die Betreuung von Cliquen nur bis an die Türe der Einrichtung reichen zu lassen. Gerade solche Jugendlichen brauchen es, daß sie auch an und mit ihren neu angeeigneten Orten angenommen und ernst genommen werden - ohne daß dabei gleichzeitig ein Versuch erfolgt, solche neuen Orte (sei es im Park, an einem Bunker, in einem Einkaufszentrum oder unter einer Brücke) gleich wieder pädagogisch kolonisieren zu wollen. Hinausreichende Arbeit ist ein für solche Ansätze in Mode gekommener Begriff, die die Arbeit in Jugendeinrichtungen mit aufsuchenden Anteilen für Cliquen zu verbinden suchen, sei es für Cliquen, die sich schrittweise vom Haus lösen, die sich vom Haus gelöst haben, sei es für solche, die die bestehende Einrichtung niemals aufsuchen würden, für jugendarbeiterische Betreuung an ihren Orten aber durchaus zugänglich sind. Nimmt man die Ursachen des Bedeutungszuwachses von Cliquen ernst, so ist cliquenorientierte Jugendarbeit letztlich primär als Beziehungsarbeit gefordert, in der sich Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeiter nicht nur in ihrer Rolle und Funktion, sondern authentisch als Personen zeigen und einbringen, die Interesse für diese Jugendlichen aufbringen. Die Bedeutung dieses personalen Angebots wird immer wieder immens unterschätzt. Für auffällige Kinder- und Jugendcliquen reduzieren sich Außenkontakte mit Erwachsenen nicht selten weitestgehend auf interventions- und konfliktgeleitete Kontakte. Und die, die brav und unauffällig sind, laufen vielleicht gar Gefahr, überhaupt nicht wahrgenommen und beachtet zu werden. Was etwa in der Arbeit mit rechten Jugendcliquen gängige Erfahrung ist, daß nämlich die Jugendlichen fast durchgängig sagen “Für uns hat sich noch nie jemand interessiert" oder “Mir hat noch nie jemand zugehört", scheint auch für immer mehr “normale", weniger oder unauffällige Jugendliche zu gelten. Entsprechend große Bedeutung messen Cliquenjugendliche immer wieder der Tatsache bei, wenn Erwachsene sich für sie interessieren und sich um sie kümmern - nicht nur bezogen auf das, was sie an den Jugendlichen stört. Was Jugendliche dann allerdings von solchen Erwachsenen erwarten, ist nicht, daß diese - nach pädagogischen Konzepten - das Cliquenleben in die Hand nehmen, es leiten und bestimmen und auf “sinnvolle" Pfade führen, sondern daß sie das von den Jugendlichen selbstinszenierte Cliquenleben ein Stück weit begleiten, die Jugendlichen unterstützen bei ihren oft schwierigen und gewundenen Wegen der Alltags- und Lebensbewältigung. Dieses Begleiten schließt Austausch und Beratung ein, auch Kritik und Empörung, aber nicht die Übernahme von Leitung und Verantwortung! In der Arbeit mit extrem auffälligen Jugendcliquen wird diese personale Beziehungsarbeit immer häufiger ausdrücklich thematisiert und wichtig genommen, weil sonst oft überhaupt keine Arbeitsebene mit den entsprechenden Jugendlichen herzustellen ist. Der dort formulierte Anspruch “Zuhören ist anfangs das wichtigste" - nicht selbst reden zu wollen, sondern “dasein, einfach dasein", nicht das Geschehen selbst in die Hand nehmen zu wollen - gilt aber letztlich auch für die Arbeit mit unauffälligen Cliquen. Nur lassen solche es eher geschehen, daß sich personale Angebote über Aktivitätenangebote vermitteln - oder auch darauf weitgehend reduzieren oder dahinter fast verbergen. Cliquenorientierte Jugendarbeit hat es mit Jugendlichen zu tun, die aktiv handelnd auf ihre erfahrenen Lebenslagen reagieren - wie auch immer. Ihre Zusammenschlüsse sind sehr direkt und unmittelbar lebensweltbezogen entstanden und lebendig. Entsprechend wichtig ist eine lebensweltorientiert angelegte Jugendarbeit. Das beginnt meist mit Konflikten um informelle Treffpunkte - und seien es informelle Treffpunkte in einer Jugendeinrichtung, am Kicker, auf der Empore im Cafe, als privilegierte Disco-Gruppe im Technikraum der Disco oder z.B. im Eingangsbereich des Hauses. Hier sind oft Konfliktbegleitung und Konfliktberatung gefragt. Das ist allerdings etwas sehr viel anderes als Konfliktbewältigung und Kon­fliktlösung, die sozialer Arbeit oft als Auf­gabe zugeschoben werden (besonders, wenn es um Konflikte zwischen Jugendlichen und Erwachsenen geht), die aber letztlich immer Angelegenheit der Beteiligten sind und bleiben müssen. Die zum Beispiel von Nachbarn, von Trägern und von den Gemeinden so häufig angezielten Krisensitzungen unter weitgehendem oder völligem Ausschluß der einen Konfliktpartei, der Jugendlichen, versuchen dagegen immer wieder. Sozialarbeit stellvertretend verantwortlich zu machen. Läßt sich Sozialarbeit stellvertretend in solche .Angeklagtenrollen" treiben - und sie läßt sich allzuoft! -, so macht sie sich letztlich handlungsunfähig. Denn dann läßt sie sich auf Ebenen unter Handlungszwang setzen, auf denen sie tatsächlich das Handeln nicht in der Hand hat. [...]

Zielgruppen cliquenorientierter Jugendarbeit
Zielgruppen cliquenorientierter Jugendarbeit können letztlich alle Jugendlichen sein, die sich in Cliquen organisieren. Immens verkürzt jedenfalls wäre es, dabei nur solche Jugendcliquen im Blick zu haben, die

Gerade bei Jugendlichen, die von konventionellen Angeboten von Jugendarbeit erreicht werden, wird häufig übersehen, wie sehr für diese ihre cliquenmäßigen Einbindungen und Orientierungen eine Rolle spielen und gestaltend wirken. Entsprechend werden damit viele Chancen vertan, bestehende Formen von Jugendarbeit weiterzuentwickeln und zu effektivieren. Wohl deutlichstes Beispiel dafür ist die Situation ehrenamtlicher Mitarbeit von Jugendlichen in der Jugendarbeit: Seit langem gilt als ein zentrales Problem, besonders in der Jugendverbandsarbeit, daß es viel zu wenige ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gibt und die vorhandenden oft nach kurzer Zeit wieder aufhören. Betrachtet man, welche Jugendlichen länger durchhalten, so zeigt sich, daß das vornehmlich zwei Gruppierungen sind: Zum einen sind das Jugendliche. die ihre zentralen Kontakte und Beziehungen im Feld ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit haben. Für sie macht die ehrenamtliche Tätigkeit einen wesentlichen Teil eines Cliquenlebens aus, das sich informell in diesen Strukturen entwickelt hat. Und die zweite Gruppe besteht aus Leuten, die eher vereinzelt sind, Schwierigkeiten mit sozialen Kontakten und der eigenen Alltags- und Lebensbewältigung haben und in der ehrenamtlichen Tätigkeit die Anerkennung und den Halt suchen, die sie sonst nicht finden. Für den Träger, die Einrichtung, den Verband haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dieser zweiten Gruppierung allerdings meist eine weniger große Bedeutung. Daraus ergibt sich, daß zum “Anwerben" und längerfristigen “Einbinden" Jugendlicher als ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Wahrnehmung von Cliquen ungemein wichtig ist, eine cliquenorientierte Arbeit einen sehr hohen Stellenwert hat. [...]

(aus: Franz Josef Krafeld, Cliquenorientiertes/ akzeptierendes Muster. Problemstellung und Analyse, in: Deinet, Ulrich/ Sturzenhecker, Benedikt (Hrsg.), Handbuch offene Jugendarbeit, 2. Aufl., Münster 1998, S. 180-188.)