Informationstext 02 "Ich bin denen nicht gewachsen"

Franz Josef Krafeld kocht sehr gewissenhaft Kaffee. Er schüttet vorsichtig das Pulver in seine Tasse, gießt behutsam heißes Wasser darüber und legt zwei kleine Schalen Kaffeesahne auf den Tisch. Dann schlägt er die Beine übereinander, faltet die Hände und schaut in Richtung Wand. Dort hängt ein Bild mit vier jungen Gestalten, die sich Gummiglatzen über ihre Haarpracht gezogen haben. Darunter steht: "Lieber Skinhead sein als sonst nichts". Es ist ein Geschenk von Krafelds Mitarbeitern, und es soll witzig sein. Krafeld macht ein Gesicht, als sei es ihm ein bisschen peinlich. Er ist 52, hat lange weiße Haare, die er sich regelmäßig aus dem Gesicht streicht, und ist seit 1979 Hochschulprofessor für Sozialpädagogik in Bremen. Vor über zehn Jahren hat er etwas erfunden, das er "akzeptierende Jugendarbeit" nannte.

Damals, in den späten Achtzigern, war in seiner friedlichen Heimatstadt Bremen eine rechte Clique aufgetaucht. Niemand wusste so genau, was man mit ihr anfangen sollte. "Es war ja tabuisiert, dass man auf die zugeht", sagt Krafeld. Sein Ansatz der Jugendarbeit war der Tabubruch. "Man muss die Jugendlichen dort abholen, wo sie stehen." Ein Satz, der vorher in der Arbeit mit Drogensüchtigen verwendet wurde. Krafeld war der Erste, der meinte, dass Sozialpädagogen auch mit "anstößigen rechten Jugendlichen" arbeiten sollten. Wenn er über diese Anfangszeit spricht, dann beugt er seinen Oberkörper nach vorn, die Arme zerteilen die Luft in kleine Vierecke. Es war eine gute Zeit für Franz Josef Krafeld.

Er wusste noch nichts vom baldigen Mauerfall. Es gab noch kein Rostock, kein Hoyerswerda und kein Mölln. Die Welt war in Ordnung, und die Rechten waren eine Randgruppe. Die Jahre von 1991 an wurden weniger friedlich, sein Konzept der "akzeptierenden Jugendarbeit" immer häufiger angewendet und immer heftiger kritisiert. Krafeld spricht jetzt ruhig, überlegt jeden Satz sehr genau. Am meisten haben ihn diejenigen angegriffen, aus deren Mitte er stammt - die Linken. Verschiedene Antifa-Gruppen aus Norddeutschland gaben 1998 ein Heft zur Kritik an der akzeptierenden Jugendarbeit heraus. Darin heißt es: "Durch die akzeptierende Jugendarbeit erleben die Rechten, daß sie nicht trotz, sondern wegen ihrer Auffassungen ernstgenommen und gefördert werden. Man entwirft sogar eigene Konzepte für sie, die ausdrücklich ihre Auffassungen akzeptieren und würdigen, indem sie zum Anlass genommen werden, ihnen Räume, SozialarbeiterInnen, Gelder etc. zur Verfügung zu stellen".

Krafeld wurde als "Nationalsozialarbeiter" beschimpft und bekam sogar eine Morddrohung. Das muss ihn getroffen haben, ihn, der aus einer Widerstandsfamilie stammt.

Am meisten Irritation hat das Wort "Akzeptanz" ausgelöst. Bedeutet Akzeptanz etwa eine heimliche Einverständniserklärung? Und wo liegen die Grenzen der Akzeptanz? Krafeld überlegt lange. "Natürlich heißt das nicht, dass Sozialarbeiter ihre Ideologie, sondern sie als Menschen akzeptieren sollen." Sein Konzept zur Bestimmung der Grenzen hat er in den letzten Jahren immer wieder überarbeitet. Er zieht sie da, wo der Sozialarbeiter sich selbst bedroht fühlt oder zur Unterstützung von rechtswidrigen Aktivitäten benutzt wird. Er weiß selbst, dass das eine ungenaue Beschreibung ist. Es ist schwierig mit den Grenzen für einen Mann der Theorie wie ihn. Er betreut die Sozialarbeiter, nicht ihre Zielgruppe. "Ich selbst hätte viel zu viel Angst, mich persönlich mit den rechten Jugendlichen auseinander zu setzen", sagt er.
Deshalb werden sich Franz Josef Krafeld und Maik S. wahrscheinlich nie begegnen.

Maik S. wohnt in Delitzsch, einer Kleinstadt in Sachsen mit 27 000 Einwohnern, einer Schokoladen- und einer Zuckerfabrik, die um ihr Überleben kämpft. Die Fassaden sind neu gestrichen und blitzen hellrosa bis lindgrün. Nur die Häuser in der Straße von Maik S. wurden bei der Renovierung vergessen. Sie sehen aus, als sei der Krieg erst gestern vorübergegangen. In Maiks Kopf ist der Krieg sowieso noch nicht vorbei. Da hat er gerade erst angefangen. Maik S. ist zwei Meter groß, trägt fast Glatze und hat eine Jogginghose übergezogen. Angeschwollene Oberarme wölben sich bei jeder Bewegung unter seinem T-Shirt. Jahrelanges Krafttraining. Er lässt sich auf die Couch in seinem Wohnzimmer fallen und streckt die Beine aus. Vor ihm auf dem braunen Tisch mit aufgemalten Tannenbäumchen liegt eine Zeitung der Hilfsorganisation für Nationale Gefangene (HNG). Auf der ersten Seite wird Rudolf Heß als "Märtyrer des Friedens" gefeiert. Danach erscheinen Namenslisten der Inhaftierten, Maik S. schreibt ihnen Briefe in den Knast. Am Ende der Broschüre wird "Kameradinnen und Kameraden" gratuliert, die am 20. April, Hitlers Geburtstag, geheiratet haben.

Jedes Wochenende liefern sich Rechte und Linke Schlachten
Maik S. ist einer der rechten Anführer von Delitzsch und gehört damit theoretisch zur Zielgruppe von Krafeld. Er spricht von "Ausländerhorden" und "Zecken", die sein Deutschland in den Abgrund treiben. Jeden Tag ein kleines Stückchen mehr. Er ist jetzt 26, mit 15 hat er entschieden, nicht mehr dabei zuzusehen. Er presst seine Lippen aufeinander. "Solange die da sind, wird es keinen Frieden geben", sagt er.
In letzter Zeit gab es selten Frieden in Delitzsch. Seit Anfang des Jahres liefern sich Rechte und Linke jedes Wochenende eine kleine Schlacht. In einem Plattenbauviertel im Norden der Stadt liegen ihre Treffpunkte einander genau gegenüber: Die Rechten besuchen die Kneipe Kuhstall, eine ehemalige Mehrzweckgaststätte aus DDR-Zeiten, von deren Fassade eine Milchkuh blickt. Schräg gegenüber sind die Linken im Jugendhaus YOZ. Nur ein Parkplatz trennt die Weltanschauungen voneinander. Irgendwann muss es knallen. Das erste Mal passiert es im Januar. Die Rechten überfallen ein Konzert im YOZ, zerstören Papierkörbe und demolieren Jalousien. Die verängstigten Sozialarbeiter und Gäste schließen sich in dem Jugendhaus ein. Von da an ziehen beide Gruppen ihre Kräfte aus dem Umland zusammen. Das Innenministerium in Sachsen geht insgesamt nur von einer 40 Personen umfassenden rechtsextremistische Szene und fünf bis zehn Linksextremisten in Delitzsch aus.

Zu den schwersten Auseinandersetzungen kommt es in der Nacht vom 19. zum 20. Februar dieses Jahres. Im Jugendhaus spielt eine Ska-Band. Maik S. arbeitet an diesem Abend als Türsteher im Kuhstall. Er und die Polizei sind sich einig, die Linken hätten mit Baseballschlägern versucht, den Kuhstall zu überfallen. Die Linken sagen, die Rechten hätten sie angegriffen. Es gibt 16 vorläufige Festnahmen, alle aus dem linken Spektrum. Die Sozialarbeiter aus dem Jugendhaus möchten sich zu dem Ereignis nicht äußern, die Angst ist zu groß. Anzeigen aus dem umliegenden Neubaugebiet gibt es auch nicht. Jeder erzählt nur hinter seinem Vorhang, was wirklich passiert ist. In dieser Zeit fängt der zweite Bürgermeister von Delitzsch, Theo Arnold (SPD), an, sich Sorgen um den Ruf seiner Stadt zu machen. Die Bürger sind verunsichert, erste Artikel in der Lokalzeitung erscheinen. Er besucht die Rechten im Kuhstall und begleitet sie über die Straße zum Jugendhaus. Dort fordert er, dass sie hier auch Zutritt haben sollen. Der Auftritt verläuft nicht ganz so, wie der Bürgermeister es sich vorgestellt hat. Seine Jugendlichen stoßen wilde Drohungen aus und prophezeien einem stadtbekannten Linken, ihn "zwei Meter unter die Erde zu bringen". Der Bürgermeister schüttelt traurig den Kopf: "Nein die Jungs haben sich wirklich gar nicht gut benommen."

Im Mai geht der Kuhstall pleite. Nun möchten die Rechten einen eigenen Club. Es kommt zu mehreren informellen Treffen zwischen den rechten Jugendlichen, dem Bürgermeister und der Jugenddezernentin. Auch Maik S. ist dabei. Er kann sich nicht daran erinnern, dass jemand mal gefragt hätte, was er so denke. "Diskussionen über Grundsatzfragen gab es nicht", bestätigt auch Bürgermeister Arnold. Nur ruhig sollten sie sein, das war dem Bürgermeister wichtig. Außerdem gebe es in Delitzsch keine rechten Jugendlichen, nur "rechts orientierte". Einen ideologischen Hintergrund hätten sie nicht. Vertrauen aufbauen und erst einmal zuhören sind Grundsätze der akzeptierenden Jugendarbeit. Das Konzept setzt allerdings voraus, dass man weiß, mit wem man spricht. Maik S. sitzt noch immer auf seinem Sofa, er hat einen Fuß unter das linke Bein geklemmt. Um ihn herum liegt das Spielzeug seiner Tochter. Ein grüner Stoffaußerirdischer blickt ihn vom Fußboden an, die Wäsche der Familie hängt im Wohnzimmer. Die Unordnung ist ihm peinlich. "Die ganze Welt ist schon ein einziges Chaos", sagt er. Er beobachtet sie jeden Tag im Fernsehen. Da muss wenigstens zu Hause Ordnung sein.

Die Welt von Maik löst sich nach dem Mauerfall auf. Plötzlich herrscht überall grenzenlose Freiheit und keine Ordnung mehr, die alles zusammenhält. Jede Nachrichtensendung, jede Reportage ist nur noch eine weitere Bestätigung für ihn, dass in Deutschland viel zu viele Ausländer leben. Das eine Prozent Ausländeranteil in Delitzsch wächst in Maiks Kopf von Jahr zu Jahr. "Die Zahlen müssen falsch sein", sagt er und wirkt für einen Moment verunsichert. Aber nur kurz. Dann kreuzt er wieder die Arme vor seiner Brust und redet weiter.
Drei Jahre lang war Maik S. Ordner in der NPD, hat gelernt, wie man Durchbrüche der Gegenseite bei Demonstrationen verhindert und sich um die eigenen "Kameraden" kümmert. Wer in dreckigen Hosen oder ungeputzten Schuhen zur Demo fahren wollte, den schickte er gleich nach Hause. Es gab auch öfter Parteischulungen. Ältere Menschen, "die noch dieselbe Meinung haben wie damals", hielten Vorträge darüber, wie der Krieg wirklich war. "Wir wollen keine Schuld mehr haben", sagt Maik S. leise. Er lehnt sich zurück. Aus der Küche dringen Geräusche. Seine Freundin lernt für eine Prüfung. Sie denkt nicht wie er. "Aber sie ist ja auch noch jung, erst 20", sagt er. Es klingt, als spreche er über sein Kind. Mit einem Döner dürfte sie trotzdem nie die gemeinsame Wohnung betreten. Der Döner ist für Maik S. der Inbegriff allen Übels dieser Zeit. Er hat ihn einmal probiert, und er hat ihm sogar geschmeckt. "Aber Leute mit meiner Überzeugung zahlen nicht 3,50 Mark an einen Türken." Es reicht schon, dass er als Versandarbeiter bei Quelle jeden Tag mit einem Schwarzen zusammenarbeiten muss.

Anfang 1999 ist Maik S. aus der NPD ausgetreten. "Die haben auch immer nur gelabert und nichts gemacht." Im Internet hat er sich über die Juden informiert und dabei festgestellt, "dass es schon öfter Ärger gab mit diesem Volk". "Das muss doch einen Grund haben, dass die immer vertrieben wurden", sagt er und schaut sein Gegenüber erwartungsvoll an. In Auschwitz war er einmal, da hat er sich gefragt, ob das wirklich alles wahr sein kann.
Das ist einer der Jugendlichen, die der Bürgermeister, die Jugenddezernentin und der Polizeichef von Delitzsch als "orientierungslos" einschätzen. Als junge Leute, die noch nicht genau wüssten, was rechts und links bedeutet. Bei einem dieser Gespräche zwischen Maik S. und den Vertretern der Stadt muss der Punkt gekommen sein, wo Bürgermeister und Jugenddezernentin klar wird: Linke und Rechte werden niemals gemeinsam denselben Club besuchen. Im Mai stellt die Stadtverwaltung eine "Bedarfsanalyse" auf. Darin heißt es: "Trotz Trägervielfalt in der Jugendarbeit der Stadt Delitzsch mussten wir nach Prüfung feststellen, dass sich kein Angebot an rechtsorientierte Jugendliche richtet. Es erscheint nicht sinnvoll, diese sich neu entwickelnde rechte Gruppierung von Jugendlichen aus der Jugendarbeit der Stadt Delitzsch auszugrenzen." Und unter dem Punkt "Zielvorstellungen" steht: "Ziel dieses Projektes ist es, die soziale Integration im Besonderen von benachteiligten und anders denkenden Jugendlichen zu fördern sowie Gefährdungen von Gewalt abzubauen." Ein genaueres Konzept hat die Stadt noch nicht. Ob sie akzeptierende Jugendarbeit anwenden würde? Die Jugenddezernentin schaut etwas ratlos: "In der ersten Zeit schon, um Vertrauen zu gewinnen", sagt sie. Was nach der ersten Zeit sein soll, ist noch unklar. "Wir wissen auch nicht, ob diese Jugendlichen therapiefähig sind", sagt Bürgermeister Arnold nach eine längeren Pause.

Maik S. schaut auf den Fernsehbildschirm. Zwei Pitbulls sind gerade dabei, einander zu zerfleischen - Talkshow zum Thema Kampfhunde. Er verschränkt die Arme. Auf seiner Schrankwand stehen drei Schwarze aus Gips, einer spielt auf einer Bassgitarre, einer schlägt die Trommel und ein Dritter singt in ein Mikrofon. "Die haben noch nie irgend etwas Wichtiges erfunden", sagt Maik und deutet in die Richtung der Figuren. Die Kampfhunde auf dem Bildschirm haben sich zu einem beißenden Knäuel verkeilt. "Wir müssen versuchen, unsere Rasse reinzuhalten", sagt er in die Stille.

Das Gefühl, irgendwann den Anschluss verpasst zu haben
Hier in seinem Wohnzimmer überlegt er, was wäre, wenn seine Leute, die Nationalen, an die Macht kämen. Zunächst müsste die Wirtschaft zusammenbrechen. Bei der Einführung des Euro sieht er dafür gute Chancen. Nach der Machtübernahme würde Deutschland zuerst aus der Europäischen Union austreten. Danach würden die hier lebenden Ausländer langsam in ihre Heimatländer zurückgeführt, die Großindustrie würde enteignet und die Globalisierung beendet. Seine Forderungen klingen fast flehend. Irgendwann hat er den Überblick verloren, alles wird immer komplizierter, und er hat das Gefühl, den Anschluss verpasst zu haben. Und jetzt steht er vor einer Welt, die längst nicht mehr so klein und einfach ist, wie er sie sich vorstellt. Sein Universum besteht aus Delitzsch und Umgebung. Er war einmal in Spanien und öfter in Tschechien. "Böhmen ist ja nicht Ausland." Für kurze Zeit hat er auch mal in Westdeutschland gearbeitet.

Momentan fühlt er sich ganz gut in seiner Stadt. Es sei da was im Gange, sagt er und grinst. Er meint den Club: "Dann können wir unsere Leute auch mal ein bisschen lenken." Er hält die rechte Delitzscher Szene für noch "erziehungsbedürftig". Nach Plänen der Stadt soll der Club für die rechten Jugendlichen, ein Container, nahe der Stadtgrenze zum Nachbarort Döbernitz aufgebaut werden. 75000 Mark sind dafür veranschlagt, und ein Zaun soll die Rechten vor Angriffen von außen schützen. Maik S. sieht zufrieden aus. Die Stadt habe ihm sogar eine ABM-Stelle als Sozialarbeiter im neuen Club angeboten, erzählt er. Das habe er aber abgelehnt. "Die hätten mich vereinnahmen können." Franz Josef Krafeld sitzt in seinem Bremer Büro. Draußen scheint die Sonne, alles wirkt friedlich. "Ich halte das für unverantwortlich", sagt er über das Projekt in Delitzsch. Den Jugendlichen sofort die Selbstverwaltung zu übergeben, das gehe nicht. Erst nach einer Anlaufphase könne man beurteilen, ob das funktioniere. "Entweder ist das von der Stadtverwaltung sehr naiv oder eine direkte Förderung informeller rechtsradikaler Strukturen."

1992 sollte in Weimar ein Neonazi als Sozialarbeiter eingestellt werden. Diese Nachricht schaffte es bis in die Tagesthemen. Der Verantwortliche sagte live zur besten Sendezeit: "Das ist im Sinne der akzeptierenden Jugendarbeit." Dabei schreibt Krafeld in einem seiner Bücher: "Die Konfrontation mit dem Anderssein, die eigene Erfahrung, dass intensive Begegnungen mit Menschen, die, ganz anders sind', ungemein bereichern kann, wird hier zu einem wesentlichen pädagogischen Element." Wenn Sozialarbeiter und Jugendliche aus der gleichen Szene stammen, gilt das natürlich nicht. "Ich kann nicht verhindern, dass die akzeptierende Jugendarbeit immer wieder falsch benutzt wird", sagt Krafeld. Es klingt hilflos. Das zweite Problem sieht er darin, dass vor allem in Ostdeutschland "in geradezu skandalöser Weise versäumt worden ist, kontinuierlich qualifiziertes Personal einzusetzen." Mit unausgebildeten ABM-Kräften könne man auf Dauer keine effektive Jugendarbeit machen. Aber Fachkräfte sind teuer, und die wenigsten Kommunen im Osten haben Geld.

Gabriele Nehring kann sich noch gut an ihren ersten Tag in einem rechten Delitzscher Jugendclub erinnern. Sie ist 37, zierlich und hat ihre blonden langen Haare zu einem Zopf zusammengebunden. Nehring ist gelernte Kauffrau für Nachrichtentechnik und hat sich 1997 auf eine freie ABM-Stelle in einem Jugendclub beworben. Schon am nächsten Tag stand sie vor den Jugendlichen - ohne Ausbildung oder Einführung. Als mobile Sozialarbeiterin betreute sie von da an den Ostclub in Delitzsch und den Jugendtreff in Laue, einem Vorort von Delitzsch - beides rechte Treffpunkte.

Am Anfang sei sie das notwendige Übel gewesen, erzählt sie. Dann hat sie ein Dorffest in Laue mitorganisiert. Danach wurde sie akzeptiert. In ihrem Club ging der Kreisvorsitzende der Delitzscher NPD ein und aus. Wie hat sie mit den Jugendlichen gearbeitet? "Ich habe versucht, die zu akzeptieren", sagt sie. Es klingt ratlos. "Ich musste immer aus dem Bauch heraus entscheiden." Wenn die Rechten feiern wollten, ging sie einen Kompromiss ein. Zwei bis drei Lieder ihrer Musik durften sie spielen. Es hat ihr nicht gefallen. Sie lässt die Schultern fallen. Was sollte sie machen? Nehring konnte mit ihnen Bier trinken, Skat spielen und übers Wetter diskutieren. Politische Debatten hat sie vermieden. Sie fühlte sich überfordert. "Die kennen sich richtig gut in Geschichte aus", sagt sie und fügt leise hinzu: "Ich bin denen nicht gewachsen." Wenn ihre Jugendlichen sich am Tisch laut über die Reparationszahlungen aufregten, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg leisten musste, konnte Gabriele Nehring nur zuhören und schweigen. Vielleicht hat sie deshalb aufgehört, Rechte zu betreuen - sie arbeitet inzwischen in dem Jugendhaus, wo bis zur Pleite des Kuhstalls die Kämpfe zwischen Linken und Rechten tobten. "Wer mit Rechten arbeitet, muss mit beiden Beinen im Leben stehen und sich gut in Geschichte auskennen", sagt sie zum Schluss.

Franz Josef Krafeld wäre begeistert, wenn er diesen Satz hören könnte. Auch wenn er weniger davon begeistert wäre, dass Gabriele Nehring offensichtlich an diesen Anforderungen gescheitert ist. Er selbst weist in seinem Konzept an vielen Stellen auf die große Bedeutung des Sozialarbeiters hin. Der müsse die politische Diskussion mit den Jugendlichen geradezu suchen und selbst einen anderen, sehr festen Standpunkt vertreten, wiederholt er immer wieder. Das sei schon der Fehler des AgAG-Programms (Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt), sagt er. Das war das Programm, dass die damalige Bundesfamilienministerin Angela Merkel 1992 nach den ausländerfeindlichen Anschlägen von Rostock und Hoyerswerda ins Leben gerufen hatte. Durch die Aktion sollten rechts orientierte Jugendliche in Ostdeutschland wieder in die Gesellschaft integriert werden. Jährlich gab es 20 Millionen Mark für 123 Projekte.
Krafeld wirft dem Programm vor, von Anfang an konzeptionslos gewesen zu sein und politische Diskussionen bewusst vermieden zu haben. Dabei beriefen sich die meisten neuen Projekte auf seinen Ansatz. Es war auch der einzige, der existierte.

Kritiker des Aktionsprogramms wandten schon bald ein, jetzt würden den Rechten erst Räume zur richtigen Entfaltung gegeben. "Glatzenpflege auf Staatskosten" titelte die ZEIT. 1996 lief das Programm aus, und viele der Projekte gingen wieder ein. Die Theorie der akzeptierenden Jugendarbeit aber lebte in den Köpfen der Sozialarbeiter weiter. Bis heute arbeiten die meisten im Osten nach diesem Konzept - so, wie sie es verstehen.
Ist nach zehn Jahren der Ansatz der akzeptierenden Jugendarbeit gescheitert? Franz Josef Krafeld überlegt lange. "Nein", sagt er "so möchte ich das nicht sagen." Vieles sei falsch verstanden worden, aber an den Grundlagen seines Konzepts halte er fest. Nur sei es eben nicht in jedem Umfeld geeignet. In einem Beitrag für die Zeitschrift Deutsche Jugend schreibt Krafeld resigniert: "In Orten, in denen rechtsextremistische Orientierungsmuster längst dominierender Bestandteil des als unpolitisch empfundenen Alltagsdenkens in der Mitte der (Erwachsenen-)Gesellschaft geworden sind, ist mit pädagogischen Einmischungen kaum noch etwas zu bewegen."

Doch es gibt sie, die wenigen Beispiele, bei denen "akzeptierende Jugendarbeit" mit Rechten funktioniert. Filippo Smaldino sitzt in seinem kleinen Büro in Milmersdorf, Brandenburg. Er trägt eine schwarze Lederhose, seine Füße schwingen im Takt seiner Sätze, und er redet so schnell, als lebe er in ständiger Angst, überhört zu werden. Smaldino ist Halbitaliener, 37 und seit drei Jahren Leiter des Jugendzentrums Bruchbude im Ort. Auf seinem Schreibtisch deuten Papierhaufen auf jahrelange Schlachten mit der Bürokratie. Vor dem Fenster graue Häuser, in der Ferne Plattenbauten. Sie stammen aus der Zeit, als das Betonwerk noch 650 und nicht 130 Angestellte und Milmersdorf noch 2500 statt 1900 Einwohner hatte.

Bald bekam der Sozialarbeiter ein Messer an den Hals gesetzt
Als Smaldino vor drei Jahren aus Berlin nach Milmersdorf kam, waren die Besucher der Bruchbude kahl rasiert, trugen Springerstiefel und lieferten sich regelmäßig Schlägereien mit Aussiedlern und Jugendlichen aus den Nachbarorten. "Das hat mich nicht abgeschreckt", sagt er und grinst. Smaldino hatte vorher fünf Jahre im Strafvollzug gearbeitet - mit Pädophilen.

In seiner ersten Zeit in Milmersdorf testeten die Jugendlichen Smaldinos Grenzen. Wenn sie eine Hitlerbüste mitbrachten oder Gürtel mit Hakenkreuzen trugen, kam Smaldino ihnen mit der Verfassung. Wenn einer seiner Jugendlichen bei einer Veranstaltung zur doppelten Staatsbürgerschaft aufstand und rief: "Nur ein vergaster Türke ist ein guter Türke", hat er ihn angezeigt. Er setzt die Grenzen der Akzeptanz sehr eng. Natürlich hat das nicht allen gefallen. In der ersten Zeit wurde Smaldino ständig bedroht. Ein Steckbrief bot 1500 Mark für seinen Kopf, und eines Tages hielt ihm ein Skinhead in seinem Jugendclub ein Messer an den Hals. Er solle verschwinden. Smaldino blieb. Er fuhr mit 21 Jugendlichen nach Indien, baute dort eine Brücke und reiste mit den Rechten nach Elba. "Die haben da vergessen, ihre Haare abzurasieren." Wenn einer seiner Jugendlichen mal wieder ausrastet und jemanden verprügelt, bittet er ihn allein zu einem Gespräch in sein Zimmer. Er provoziert sie, konfrontiert sie ständig mit seiner anderen Meinung, und am Ende legt er beim Haftrichter ein gutes Wort für sie ein.

Nach drei Jahren ist die Mehrheit seiner Jugendlichen zur Technoszene übergelaufen. Die Jungs in der Bruchbude tragen Perlenketten um den Hals, und ihre Haare haben sie zu etwas geformt, dass sie "Vogelnester" nennen. Dabei stehen die Haare seitlich vom Kopf ab, während in der Mitte eine Kuhle zurückbleibt.

Bisweilen schauen Herren in Nadelstreifenanzügen bei Smaldino vorbei und bieten ihm finanzielle Unterstützung an, wenn er ihnen einige Räume zu Hitlers Geburtstag überlasse. Smaldino schüttelt dann den Kopf und begleitet sie höflich zur Tür. Einen Club nur für rechte Jugendliche wie in Delitzsch, würde er nie zulassen. "Das wäre ja direkte Unterstützung für die Rechten."

Das Polizeipräsidium im benachbarten Eberswalde schrieb über die Arbeit von Smaldino: "Die Lage hat sich dank seiner Arbeit beruhigt. Sollte die Bruchbude schließen, würde das immer noch vorhandene Potential rechter Jugendlicher erneut die Oberhand gewinnen." Trotz seines Erfolges muss Filippo Smaldino jedes Jahr um Geld für die Bruchbude kämpfen. Die Gemeinde ist arm, und die Milmersdorfer möchten lieber die Straßen neu asphaltieren und den Weg zum Friedhof pflastern. "Der Karnevalsverein will auch unterstützt werden", sagt der Bürgermeister. Von seinem Bürofenster blickt er genau auf die nächste Hauswand. Auf ihr steht in roter Schrift: "20. 4. 2000". Zwei 14-Jährige lassen vor seiner Tür gerade Sprengkörper in leeren Bierflaschen explodieren. Der Bürgermeister kann das Glas splittern hören. Er weiß, wie wichtig Smaldino und die "Bruchbude" für die Gemeinde sind, es ist nur nicht immer einfach, das allen Milmersdorfern zu erklären.
In Delitzsch hat sich der Stadtrat im Juli mit 14 gegen 13 Stimmen für einen Club für "rechtsorientierte Jugendliche" entschieden - die Abstimmung war geheim, aus Angst vor den Rechten. Eine Woche später zerschlugen acht Glatzen die Balkontür von Jana Kardass im Erdgeschoss eines Plattenbaus in Delitzsch West. Es war vier Uhr morgens. Die 18-Jährige kam gerade von einem Konzert. Die Rechten wollten die Adresse ihrer Freundin haben, die zuvor bei der Polizei gegen "Kameraden" ausgesagt hatte. Der Anführer bedrohte Jana Kardass mit einer Pistole. Am Morgen danach erstattete sie Anzeige. Sie glaubt, den Anführer der Rechten erkannt zu haben: Maik S. Jetzt will der Stadtrat noch einmal neu entscheiden. Derweil treffen sich die die Rechten von Delitsch wieder jedes Wochenende im Jugendhaus YOZ. Die Sozialarbeiter und die anderen Jugendlichen haben Angst.

(aus: Jana Simon, "Ich bin denen nicht gewachsen". Dreiste Nazis, überforderte Sozialarbeiter, verängstigte Lokalpolitiker - eine Fallstudie aus Sachsen, in: DIE ZEIT 2000 Nr. 33, URL vom 31.08.2000: http://www.zeit.de/2000/33/Politik/200033_jugendarbeit.html)