M 01.10 "Rechtsextremismus breitet sich in der Jugendszene aus"

Der Präsident des Verfassungsschutzes, Heinz Fromm, über rechte Gewalttäter und ein Verbot der NPD Ansätze für einen rechten Terrorismus sieht Heinz Fromm, seit Juni Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Mit ihm sprachen die Berliner FR-Korrespondenten Pitt von Bebenburg, Vera Gaserow und Helmut Lölhöffel.

FR: Herr Fromm, was hat sich aus der Sicht des Verfassungsschutzes am Problem Rechtsextremismus so verändert, dass das Thema jetzt diese öffentliche Aufmerksamkeit bekommen hat?

Heinz Fromm: Wir stellen fest, dass in der letzten Zeit die Zahl vor allem der jungen Leute aus dem gewaltbereiten rechten Spektrum gewachsen ist. Wir mussten darüber hinaus Straftaten registrieren, die schwerere Folgen hatten als im letzten Jahr. Als dritte Entwicklung kommt hinzu, dass bei neonazistischen Gruppierungen in der letzten Zeit Waffen und Sprengstoff gefunden worden sind. Es gab zwar auch in der Vergangenheit immer mal Waffenfunde bei einzelnen Rechtsextremisten. Aber das Neue ist jetzt, dass Waffen bei Leuten gefunden worden sind, die fest in Neonazi-Gruppierungen integriert sind. Und es ist festzustellen, dass in einzelnen dieser Gruppierungen auch verstärkt der Einsatz dieser Waffen in Erwägung gezogen wird.

Wird es im nächsten Verfassungsschutzbericht erstmals ein Unterkapitel Rechtsterrorismus geben müssen?

Der Begriff Terrorismus im Sinne der Anwendung einer politisch motivierten Gewaltstrategie ist so eingegrenzt, dass wir diese Qualität bisher nicht erreicht sehen. Wir sehen aber Ansätze davon. Bisher ist es uns gelungen, solche Entwicklungen frühzeitig zu entdecken und zu unterbinden. Aber das ist keine Garantie für die Zukunft.

Welche Entwicklung alarmiert Sie am meisten?

Mir bereitet am meisten Sorge, dass sich der Rechtsradikalismus in der Jugendszene ausbreitet. Für viele junge Leute ist es offenbar attraktiv, sich rechts zu gerieren. Deshalb müssen wir die Umstände, die die Attraktivität des Rechtsextremismus ausmachen, verstärkt im Auge behalten, insbesondere die Musikszene. Am Ende können hieraus Gewaltdelikte resultieren, die allerdings im Einzelfall nur schwer vorauszuberechnen sind. Dies stellt ein erhebliches Problem dar, weil wir es nicht mit festen Strukturen zu tun haben. Außerdem geht es um teilweise sehr junge Leute, mit denen sich das Bundesamt für Verfassungsschutz erst befassen darf, wenn sie 16 Jahre alt sind. Aber dann ist manchmal schon viel gelaufen.

Wie sehen Sie die Verbindung zum Beispiel zwischen Jugendgruppen wie im brandenburgischen Mahlow und der NPD? Wo verlaufen da die Verbindungslinien?

Es ist vielfach festzustellen, dass es eine Nähe der NPD zum Teil zu Neonazis, zum Teil aber auch zu Skinheads gibt. Das heißt: Es ist ein Konglomerat, in dem Grenzen bestehen, die von manchen nicht überschritten werden. Bei weitem nicht alle Skinheads beteiligen sich an Kameradschaften, und nicht alle, die in Kameradschaften sind, gehen zur NPD. Aber es gibt beachtliche Schnittmengen.

Und die werden größer?

Ja, wenn Sie die letzten fünf Jahre betrachten: 1996 hatte die NPD 3500 Mitglieder, und jetzt sind es 6000.

Aber die Schnittmengen lassen sich nicht nur an Mitgliederzahlen festmachen.

Natürlich nicht. Klar ist, dass die NPD nicht nur für Neonazis attraktiv geworden ist, sondern auch für einen Teil der rechten Jugendszene, weil die NPD sich bemüht hat, deren Befindlichkeit aufzugreifen und soziale Themen anzusprechen.

Was würde sich durch ein Verbot der NPD in der rechtsextremen Szene ändern?

 Das ist schwer zu sagen. Die Erfahrungen mit Verboten zeigen, dass sich überzeugte Neonazis in irgendeiner anderen Form zusammengefunden haben. Das wäre auch hier denkbar. Es könnte im Übrigen dazu kommen, dass eine Aufteilung der Mitgliedschaft stattfindet. Einige könnten zu anderen Parteien gehen, andere könnten Parteien dann uninteressant finden und neue Formen der Kooperation suchen. Aber ich mache mir keine Sorgen, dass wir das dann nicht mehr erkennen.

Sehen sie Anzeichen, dass sich die NDP bereits auf ein Verbot einstellt?

In der NPD wird selbstverständlich über diese Dinge nachgedacht. Aber mit einem Verbot wäre nicht sehr schnell zu rechnen. Wir sind ja in einem Stadium, wo zunächst geprüft wird, ob überhaupt ein Antrag gestellt werden kann. Allerdings wird ein Verbotsantrag allein schon Wirkung haben - indem der Staat deutlich macht: Das geht zu weit, jetzt ist Schluss. Natürlich wird auch die NPD überlegen, wie sie die Chancen eines solchen Verbots in der Phase der Anhängigkeit des Antrags bei Gericht minimiert. Die NDP-Führung hat ja immer sehr genau darauf geachtet, dass ihr selbst keine Straftaten zugeordnet werden können. Und das wird sie gerade in dieser Phase tun.

Was hat sich an der NPD verändert, dass wir jetzt über ein Verbot diskutieren und vor einem Jahr noch nicht?

Die NPD ist seit einiger Zeit, seit Herr Voigt an der Spitze steht, auf einem anderen Weg. Ihre neue Strategie ist jetzt auch ausgerichtet auf außerparlamentarische Funktionen. Der Kampf um die Straße, der Kampf um die Köpfe, der Kampf um die Parlamente, das sind die drei strategischen Säulen der NPD. Für einige ist sie als Partei attraktiv, auch weil sie seit einiger Zeit in ihren Führungsgremien Leute aus verbotenen Organisationen sitzen hat. Auch da zeigt sich die andere Richtung.

Wie leicht ist es für Sie, in die Neonazi-Szene hineinzukommen?

Der Umstand, dass wir einiges haben verhindern können im Neonazi-Bereich, zeigt, dass wir uns mit Erfolg bemühten. Einige Ihrer Kollegen sagen ja: Wir brauchen mehr Agenten. Wir haben seit Anfang der 90er Jahre die Bekämpfung des Rechtsextremismus fortlaufend verstärkt. Wenn behauptet wird, wir würden mehr tun gegen links als gegen rechts, dann ist das schlicht falsch.

Sie hätten jetzt die Chance zu sagen: Wir brauchen mehr Personal, wir müssen mehr Leute reinschicken, wir können auch mehr Personal reinschicken.

Diese Gelegenheit lasse ich heute ungenutzt verstreichen.

Sie brauchen nicht mehr?

Der Verfassungsschutz lebt personell nicht so sehr von Masse, sondern vor allen Dingen von Klasse. Ziel unserer Arbeit ist, dass wir richtige Analysen und richtige Bewertungen der Politik, aber auch der Öffentlichkeit präsentieren können.

Wie sieht das Problem nach Ihrer Annahme in einem Jahr aus?

Das wäre zu gewagt, weil es von so vielem abhängt, das ich noch nicht weiß, etwa von der Frage: Gibt es einen Verbotsantrag gegen die NPD? Gibt es kurzfristig eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber - was ich nicht erwarte. Wie verläuft die öffentliche Diskussion? Ich weiß nicht, wie die Diskussion im politischen Raum in den nächsten Wochen geführt wird, welche Maßnahmen von staatlicher Seite oder innerhalb der Gesellschaft greifen und welche nicht. Deshalb ist eine seriöse Prognose nicht möglich.

(aus: "Rechtsextremismus breitet sich in der Jugendszene aus". Interview mit Heinz Fromm, in: Frankfurter Rundschau vom 25.08.2000)

 

Arbeitshinweis

  1. Auf welche Entwicklungen macht der Präsident des Verfassungsschutzes Fromm aufmerksam?
  2. Informiere dich aus den Materialien M 1.11 und M 1.12 über Ereignisse und halte weitere Entwicklungen fest. Lässt sich eine Tendenz beobachten?