M 01.16 Die alltägliche Gefahr

Im Rathaus von Dessau war es, in Sachsen-Anhalt. Vor zwei Jahren schon, als Dessau noch eine unschuldige Stadt war, ohne ermordeten Ausländer, ohne Generalbundesanwalt, der dort ermittelt. Vor zwei Jahren stand da eine Klasse von Berufsschülern im Rathaus und hörte dem Vortrag eines freundlichen Rheinländers zu, der von der Arbeit des Deutschen Bundestags erzählte, vom Wert der Demokratie und der Qualität ihrer Abgeordneten. In der Gruppe stand ein junger Mann, der eine auffallende Lederjacke trug. Eine Lederjacke mit einem aufgestickten Hakenkreuz. Mitten im Rathaus, mitten in einer Lehrstunde über Demokratie. Niemand hielt das der Rede wert. Erst als ein Lehrer gefragt wurde, warum er das zulasse, sagte der pikiert: "Ich kann doch nicht sagen: ,Zieh die Jacke aus!'."

Stadträte, die taten, als sähen sie nichts

"Doch, genau das hätte dieser Lehrer sagen müssen. Und nicht nur er. Sondern auch der Vertreter des Bundestags, der schon glücklich darüber war, dass die Jugendlichen ihm überhaupt zuhörten. Und auch die Stadträte, die an der Gruppe vorbeigingen und so taten, als sähen sie nichts. Einer aus dieser Gruppe, ein 18-jähriger Lehrling, reagierte völlig erstaunt auf die Frage, ob ihn sein Meister schon mal aufgefordert habe, seine Bomberjacke und die Springerstiefel zu Hause zu lassen. Das würde er doch glatt tun, gab der Junge zu. Seine Lehrstelle würde er nicht aufs Spiel setzen für seine Gesinnung. Aber der Lehrherr habe das eben noch nie verlangt.

Hauptsache, sie schlagen keinen nieder

Auch in den Jugendclubs will keiner etwas von den jungen Leuten: Sie können kommen und gehen, Hauptsache, sie schlagen drinnen keinen nieder. Rechtsradikale Musik - nun ja, die müsse man dulden, sagen die Betreuer. Rechtsradikale Zeichen oder Sprüche, die seien doch normal. Sicher, sie sind normal, solange man das alles als normal durchgehen lässt. Am Ende ist es dann auch ganz normal, dass sich manche Menschen in Deutschland nicht mehr aus dem Haus trauen, weil sie schwarz sind. Oder dass sie erschlagen werden, weil sie obdachlos sind. Oder weil sie es wagen, sich gegen rassistische Sprüche zu verwahren. Wenn alles normal ist, wird die Messlatte für Ungehöriges, für Unakzeptables immer höher gelegt. So fand ein bayerischer Richter den Satz "Die Drecksnigger gehören alle erschlagen" nicht eindeutig genug. Diesen Satz hatte der Rechtsradikale Roman Glaß ausgestoßen, bevor er im bayerischen Kolbermoor einen Schwarzen zu Tode prügelte. Er wurde nicht etwa wegen Mordes, sondern nur wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt. Aus dem Satz leitete der Richter keinen Tötungsvorsatz ab. "Die gehören alle erschlagen" - was lässt das an Eindeutigkeit vermissen?

Seit Jahren werden Menschen von Neonazis getötet

Es sind diese vielfältigen Formen der Verharmlosung, des Sich-nicht-Einmischens, die die rechtsradikale Gewalt haben wachsen lassen. Der Aufschrei, der derzeit durch Deutschland geht, als wäre die Gefahr eben erst entdeckt worden, ist angesichts all dieser längst bekannten Beispiele nicht nachvollziehbar. Seit Jahren werden Menschen von Rechtsextremisten getötet. Seit Jahren werden Ausländer gehetzt, beleidigt, geschlagen. Doch die Meldungen darüber liest man meist nicht auf Seite 1, sondern weiter hinten im Blatt, unter ferner liefen. Wer kümmerte sich um die Polin, der niederbayerische Skinheads an Silvester das Gesicht mit Glasscherben zerschnitten haben? Wen bewegten wirklich die immer dringlicheren Warnungen der Verfassungsschützer, dass die Rechten gewalttätiger werden und sogar Waffendepots anlegen? Unerotisch, das Thema.

Ritual der Sommerpause

Was jetzt passiert, ist ein Ritual, das in der Mediengesellschaft abläuft wie einstudiert. Es ist politische Sommerpause, die Zitatengeber aus der ersten Reihe sind im Urlaub. Da kommt ein bislang vernachlässigtes Thema gerade recht. Die Grünen fordern eine Sonderkonferenz der Innenminister. Experten sagen, was vor ihnen schon andere gesagt haben - nur mit anderen Worten. Plötzlich wollen Politiker noch mehr fordern und verlangen und kritisieren und betonen. So kommt es, dass die Forderung nach einem Demonstrationsverbot für Rechtsextremisten zur Schlagzeile wird, ein Verlangen, das vor knapp vier Wochen als kleine Meldung noch unterging. Bayerns Innenminister Beckstein ist tagelang in den Medien, weil er vorschlägt, die NPD vom Verfassungsgericht verbieten zu lassen - irritierenderweise vermittelt schon die Überlegung vielen Menschen das Gefühl, damit wäre das Phänomen Rechtsextremismus bereits zur Hälfte gelöst. Dabei reduzierte ein Verbot der NPD den alltäglichen Ausländerhass in den Köpfen nicht um ein Quäntchen. Nach diesem "Wir-tun-etwas"-Strickmuster wird gleichzeitig der Ruf nach härteren Gesetzen laut, oder es wird erwogen - was längst möglich ist -, bekennenden Neonazis den Arbeitsplatz zu kündigen, wieder andere wollen den "bösen" Menschen im Osten die West-Gelder sperren. Wenn dann alle alles gesagt haben, wenn die Leute mit Informationen so überschüttet sind, dass sie abschalten, dann wird die Berichterstattung ganz plötzlich versiegen. Dann ist auch die Sommerpause zu Ende und es geht wieder um Steuern und Rente. Die Rechten werden weiter Menschen überfallen. Es wird vermutlich nur keiner mehr groß über sie berichten - bis zum nächsten Toten, bis zum nächsten Aufschrei. Weil wir die vielen kleinen Anzeichen für Gefahr eben alle für "ganz normal" halten.

(aus:Annette Ramelsberger, Die alltägliche Gefahr, in: Süddeutsche Zeitung online, 08.09.2000

 

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