M 02.03 Die alte neue braune Gefahr

Nach dem Bombenanschlag in Düsseldorf ist die deutsche Politik alarmiert. Sechs der neun ausländischen Opfer sind Juden; man fürchtet verheerende Reaktionen vor allem aus den USA. Auch wenn die Hintergründe des Verbrechens noch nicht bekannt sind: Die Warnungen des Verfassungsschutzpräsidenten vor einem Rechtsterrorismus in Deutschland haben neues Gewicht erhalten. Waffen- und Sprengstoff-Funde der letzten Zeit zeigen es deutlich: Die Neonazis rüsten auf. Längst ist die rechtsextreme Gewalt in die Offensive gegangen. Aber solange ihr Aufmarsch- und Demonstrationsgebiet vor allem der deutsche Osten war, blieben die Reaktionen der Politik widersprüchlich - Entsetzen, Sorge, Verharmlosung, Ungläubigkeit.

Seit Jahren müsste im Osten Dauerarlam herrschen
Das ist jetzt nach dem Düsseldorfer Anschlag anders. Seit Jahren müsste es im Osten Daueralarm geben. Ausländer sind totgetrampelt, Obdachlose erschlagen worden. Tragische Einzelfälle, haben die Landespolitiker gesagt. Sie seien aber kein Beleg für rechtsextreme Strukturen. Wirklich nicht? Im Osten hat sich, gefördert von Neonazi-Gruppen aus dem Westen, ein völkisches Bewusstsein etabliert. Der rechtsradikale Mainstream der Jugendkultur vergiftet das öffentliche Leben. Rechtsextremismus flaniert. Eine Schule in Wurzen, Sachsen: Die Lehrerin kommt in die Klasse, auf der Tafel steht, groß und provozierend: "Juden vergasen!" Der Schulleiter, bei dem die Lehrerin Rat sucht, wimmelt sie ab: "Warum kommen Sie zu mir? Für Tafelabwisch ist der Hausmeister zuständig!" Für den Tafelabwisch also ist der Hausmeister zuständig, für die Rechtsextremisten der Verfassungsschutz, für ihre Opfer das Krankenhaus.

Niemand ist zuständig
Wenn die Schüler ihre Lehrer mit "Heil Hitler" begrüßen, ist gar niemand zuständig - weil, so sagen Lehrer, "wir gar nicht mehr zum Unterrichten kämen, wenn wir uns auch noch damit auseinandersetzen müssten". Für die kahlgeschorenen Kameraden ist die ABM-Mutti zuständig, die ihnen den Schlüssel für das Jugendzentrum überreicht; das nennt sich akzeptierende Jugendarbeit, ins Ostdeutsche übersetzt: Glatzenpflege auf Staatskosten. Der Bundestagspräsident ist einer der wenigen Politiker, die durch die Städte und Gemeinden im Osten reisen, um sich über den handgreiflichen Ausländerhass zu informieren. Dabei passiert es gelegentlich, dass der Orts-Bürgermeister nicht kommt - "weil wir uns von ihm nicht in die Ecke stellen lassen". Diese Ecken sind aber überall.

Ausländerhass fährt im Omnibus
Der Rechtsextremismus flaniert in Bomberjacken auf den Hauptstraßen; dort, wo er die Oberhand hat, nennt er sein Terrain "national befreite Zone". Der Ausländerhass fährt mit im Omnibus, der Rassismus ist Fahrgast in den Zügen der Deutschen Bahn. Manchmal hat er sich die Insignien der germanischen Kulte umgehängt, das Keltenkreuz oder das Sonnenrad. Manchmal trägt er das T-Shirt einer neuen heidnischen Religion mit dem Schriftzug "Wotan statt Christus". Manchmal wirft er einen Brandsatz in eine Synagoge oder Steine durchs Fenster einer Moschee. Manchmal schmiert er seine Runen auf die Mauern christlicher Gotteshäuser; die Pfarrer halten das dann nicht für rechtsextrem, sondern für antikirchlich. Solche Anschläge haben aber eine gemeinsame Zielrichtung: Sie richten sich gegen eine Religion, für die der einzelne Mensch zählt, nicht aber seine Rasse. Manchmal wird ein Mensch erschlagen. Dann steht es in der Zeitung. Viel öfter wird einer verprügelt, zusammengeschlagen, der Hund auf ihn gehetzt. Dann steht es nicht in der Zeitung oder nur ganz klein.

Gedenkstein erregt Ärger der Passanten
Es ist nicht gut, wenn man im deutschen Osten eine dunkle Hautfarbe hat. Dann muss man sich nämlich sehr genau überlegen, ob, wo und wann man sich auf die Straße traut. Das gilt nicht nur für Asylbewerber, das gilt auch für Geschäftsleute, Sportler, Wissenschaftler; das gilt für Familienväter, die seit zwölf Jahren hier wohnen, wie Alberto Adriano aus Mosambik einer war, Vater von drei Kindern, dem am Pfingstsonntag in Dessau der Schädel eingeschlagen wurde. Der kleine Gedenkstein für ihn erregt den Ärger der Passanten: für einen Deutschen, so sagen sie, wäre kein Stein aufgestellt worden. Die alte neue braune Gefahr ist gefährlicher als die RAF, weil sie eine geistige Basis in der Bevölkerung hat, wie sie die RAF nie hatte. Damals, gegen die RAF, war Deutschland im Ausnahmezustand. Damals waren die Innenminister rund um die Uhr alarmiert. Heute ist ihnen das Verbot der Kampfhunde wichtiger. Zu lange hat die Politik die Gewaltstrukturen verniedlicht, zu lange hat die Polizei geglaubt, sie habe es nur mit irregeleiteten Blödianen zu tun. Und ziemlich lange hat auch die Justiz gebraucht, bis sie Mord und Totschlag Totschlag genannt hat. Das hat sich geändert, der Generalbundesanwalt zieht viele Fälle an sich.

Widerwillen im Westen
Aber es muss sich noch einiges ändern, bis sich die neue Haltung auswirkt: Solange jugendliche Schläger den Eindruck haben können, eine Gerichtsverhandlung sei eine Kasperlveranstaltung, bei der man die applaudierenden Kameraden im Zuschauerraum postiert, werden die Justiz und ihre Strafen präventive Wirkung nicht entfalten. Auch aus Widerwillen hat man im Westen nicht zur Kenntnis genommen, was im Osten geschieht. Erst, so etwa ist das Grundgefühl im Westen, waren "die dort im Osten" undankbar - und jetzt sind sie auch noch braun. Im Westen will man mit dem Bild vom bösen Deutschen, wie es sich im Osten präsentiert, nichts zu tun haben. Man will auch keine Neuauflage westdeutscher Nachkriegsgeschichte erleben, man will nicht noch einmal, nunmehr im Osten, an das Trauma deutscher Geschichte herangehen, man glaubt, die Vergangenheit sei ausreichend bewältigt. Sie ist es nicht.

Gute Bedingungen für die Rechten im Osten
Die DDR, deren Faschismusideologie die Machtübernahme der Nazis auf die Interessen des Monopolkapitals zurückführte, hat mit der Abschaffung des Kapitalismus die Wurzel allen Übels für ausgerottet erklärt. Vergangenheitsbewältigung sah sie deshalb nicht mehr als ihr Problem. Umso größer ist es heute Aufstand des Anstands. Der Rechtsextremismus im Osten findet gute Bedingungen vor.
Erstens: Antisemitismus und Rassismus haben in Ostdeutschland seit dem Zweiten Weltkrieg überwintert und sind nach der Wende wieder virulent geworden. Zweitens: Weil sich die alte Homogenität der DDR-Gesellschaft aufgelöst hat, wird ihr Andenken durch Abwehr alles Fremden verteidigt. Drittens: Die DDR war ein Ort autoritärer Sozialisation, es fehlt demokratische Tradition. Viertens: Politik und Gesellschaft treten den Menschenrechtsverletzungen nicht klar genug entgegen. Fünftens: Soziale Spannungen prägen das gesellschaftliche Klima. All diese Faktoren wirken zusammen.

Welle des Anstands muss folgen
Es muss etwas geschehen. Und das, was geschehen muss, kann sich nicht in einer Aktion, einer Initiative, ein paar Appellen und ein paar scharfen Urteilen erschöpfen. Der Welle der Gewalt muss eine Welle des Anstands entgegenrollen. Die Zivilgesellschaft, von der man heute so gern redet, muss zeigen, wo sie steht. Damals, vor der Einheit, hieß der Ruf: Wir sind ein Volk. Jetzt muss er ergänzt und neu gelernt werden: Wir sind ein Volk, das Hass und Gewalt gegen Ausländer nicht duldet.

(aus: Heribert Prantl, Die alte neue braune Gefahr, in: Süddeutsche Zeitung vom 29.07.2000: