M 02.04 Unfreiwillige Helfer

Eine Episode aus dem Jahre 1991: In Bayreuth findet eine Großdemonstration von Neonazis zum "Heß-Gedenktag" statt; Hunderte schwarz gekleidete Glatzen marschieren durch die Straßen. Aufregung und Angst herrschen in der kleinen fränkischen Stadt, die Bürger haben ihre Autos in Seitenstraßen und Garagen in Sicherheit gebracht, besorgte Geschäftsleute bangen um ihre Schaufenster. Am Rande der Demo kann ein älterer Mann nicht mehr an sich halten. Voller Empörung ringt er nach Worten. Schließlich ruft er in die Trommelschläge der Neo-Nazis hinein den Satz: "Bei Hitler hätte es das nicht gegeben."

Da war sie hörbar und sichtbar geworden: die Grenze, die Nazis und Nazis trennt. Die Ordentlichen von den Chaotischen, die Bürgerlichen von den Gewaltbereiten, die Wohlerzogenen von den Missratenen, die Alten von den Jungen, die Versteckten von den offen Bekennenden. Diese absurde Szene am Bayreuther Straßenrand zeigte schon damals, was auch heute noch gilt: dass es keine einheitliche rechte Bewegung gibt, sondern nur Kreise, die sich partiell berühren, aber ansonsten nicht miteinander verbunden sind, außer durch einige gemeinsame Ängste und Überzeugungen. Rechtsradikalismus-Forscher schätzen das in diesem bunten Sammelsurium aus Schlägern, Spießern, Wortführern und Mitläufern schlummernde Wähler-Potenzial auf 13 bis 18 Prozent.

Gemeinsam ist ihnen die Angst vor "Überfremdung", die Angst im Sog der ökonomischen Globalisierung unterzugehen, die Überzeugung, dass das "Dritte Reich" auch seine guten Seiten hatte, die ausgesprochene oder unausgesprochene Meinung, dass "das mit den Juden" in der Geschichtsschreibung zumindest verzerrt dargestellt wird, und ein unterschwelliges Minderwertigkeitsgefühl, das durch starke Sprüche am Küchen- oder Stammtisch und die den Skinheads eigene Männlichkeitsrituale überkompensiert wird.

Obwohl nur ein Bruchteil der Menschen aus diesem hoch brisanten Stimmungs-Biotop wirklich gewaltbereit sind, sorgen die Hetzjagden und Morde an Ausländern und Obdachlosen dafür, dass der Fokus hauptsächlich auf das Lumpenproletariat der "nationalen Revolution" gerichtet ist (das im Übrigen sofort beseitigt würde, wenn wirklich einmal die Rechte an die Macht käme, so wie Hitler und die SS einst die ursprüngliche SA liquidierten). Die Folge dieser Fokussierung ist, dass die breite Basis der "ordentlichen" Sessel- und Couch-Nazis noch weniger als bisher wahrgenommen wird und dass Straftaten unterhalb der Gewaltstufe aus dem Blickfeld geraten, weil man sich irgendwie daran gewöhnt hat (am vergangenen Wochenende etwa zeigten Fans von Borussia Dortmund mit dem Hitlergruß, wie sehr sie sich über den Bundesliga-Auftakt freuen). Die Fokussierung des Nazi-Problems auf die Glatzen hat außerdem zur Folge, dass die dringend notwendige Debatte darüber nicht stattfindet, inwieweit die offiziöse Politik, die sich vor Abscheu und Empörung derzeit kaum einkriegen kann, möglicherweise Mitschuld hat an den von ihr beklagten Zuständen.

Schon die Art und Weise, wie die Politik derzeit auf die Bedrohung reagiert, spielt den Radikalen in die Hände. So kommt der Ruf nach einem starken Staat mit Schnellgerichten, nach Video-Überwachung auf allen öffentlichen Plätzen und Parteiverboten (um nur ein paar Asservate aus dem Arsenal der Hilflosigkeit zu nennen) genau den Vorstellungen jener entgegen, die heimlich vom totalen Staat träumen, in dem dann nur andere Parteien verboten und mit anderen Menschen kurze Prozesse gemacht würden. Schon in der Vergangenheit lernten die Rechtsextremisten, dass man nur heftig genug zuschlagen muss, um die offiziöse Politik zu Reaktionen zu bewegen, die letztendlich als eigene Erfolge verbucht werden können: Erst fackelte man Asylheime ab, dann "wachte die Politik auf" und fackelte das Asylrecht ab, dessen Reste nun zur Disposition gestellt werden sollen. Auch entbehrt es nicht eine gewissen Heuchelei, wenn Vertreter von Union und SPD heute Einstellungen beklagen, die sie gefördert oder nie hart genug bekämpft haben, weil diese Parteien genau wussten, dass unter einem nicht geringen Teil ihrer Wähler Meinungen vorherrschen, die durchaus denen der Rechtsradikalen entsprechen.

Die Union-Aktion gegen den Doppel-Pass ("Wo kann ich hier gegen Ausländer unterschreiben?") hatte viele heimliche Sympathisanten auch unter SPD-Mitgliedern und -Wählern. Welches Potenzial wollte Gerhard Schröder wohl ansprechen, als er 1998 im Wahlkampf fordert: "Kriminelle Ausländer raus, und zwar sofort"? Und was will uns heute Edmund Stoiber sagen, wenn er ausgerechnet in Zeiten der Ausländer-Hatz eine "nationale Bevölkerungspolitik" propagiert, also den Eindruck erweckt, hier zu Lande sei nur ein deutsches Baby ein gutes Baby? Auf wen zielt der bayerische Innenminister Günther Beckstein ab, wenn er die Einwanderungs-Diskussion mit dem Satz bereichert, wir brauchen "mehr Ausländer, die uns nutzen, und weniger, die uns ausnutzen?" Und weiß der hessische Ministerpräsident Roland Koch, dass er sich exakt der Argumentationsmuster rechtsradikaler Anti-Europa-Demonstranten bedient, wenn er sagt, der Abbau des "Nationalstaates" durch den Aufbau der Europäischen Union führe zu einem Verlust an "Identität und Geborgenheit" und damit zu Fremdenfeindlichkeit? All diese Äußerungen beschreiben die Methode, mit der die Union seit Adenauers Zeiten versucht potenziell oder wirklich radikale Wähler einzufangen, zu binden und so rechts von der CDU/CSU keine Konkurrenz hochkommen zu lassen: Man bedient sich der Ressentiments, die man angeblich bekämpfen will, mit der Begründung: "Immer noch besser, die Wähler landen bei uns als bei einer rechtsradikalen Partei." Höhepunkt dieses Verfahrens - man hat es beinahe schon wieder vergessen - war der erst nach heftigen parteiinternen Kämpfen gescheiterte Versuch Helmut Kohls, einen sächsischen Minister zum Bundespräsidenten zu küren, der viel von "unkontrollierter Asylantenschwemme" und "Überfremdung" schwadronierte und davon dass die Gaskammern der Nazis historisch zwar "einmalig" waren, es aber "viele einmalige historische Vorgänge" gebe. Zudem hielt es Steffen Heitmann für selbstverständlich, dass Homosexuelle als "Minderheit" eben gesellschaftliche Nachteile "tragen müssen". Minderheiten ausgrenzen, Vorurteile bedienen statt Aufklärung betreiben: Der Preis für die Einbindung des rechten Potenzials war und ist hoch. Vor allem, weil auf diese Weise rechte Parolen salonfähig gemacht wurden und an Stammtischen im Bewusstsein geäußert werden konnten, zu "den Mehreren" zu gehören - unbedingte Voraussetzung für Meinungsäußerungen opportunistischer, im Grunde ängstlicher Menschen, wie sie im rechten Milieu nun mal gehäuft vorkommen.

Weil das so ist, weil Opportunisten naturgemäß vermeiden wollen, in eine Außenseiter-Rolle zu geraten, müssten auch von den Eliten außerhalb der politischen Klasse andere Signale kommen, als sie in letzter Zeit zu vernehmen waren. Dass die deutsche Wirtschaft den Rechtsradikalismus hauptsächlich unter Standortgesichtspunkten diskutiert, ist genauso ein Armutszeugnis wie die Tatsache, dass der mühsam ausgehandelte Fonds zur Entschädigung der Zwangsarbeiter immer noch nicht gefüllt ist. In dieses traurige Bild passen auch die Standingovations, die Martin Walser hervorrief, als er von der "Moralkeule" und der "Drohgebärde" Ausschwitz redete und unterschwellig eine Schlussstrich-Debatte auslöste, die Ignatz Bubis in die Verzweiflung trieb - allein gelassen von Intellektuellen wie Klaus von Dohnanyi, der damals mit der zynischen Frage Öl ins Feuer schüttete, ob die Juden sich sehr viel tapferer als die Deutschen gegen den Nationalsozialismus gezeigt hätten, wenn dieser ihr Leib und Leben verschont hätte.

Die bewussten und unbewussten Signale werden von den Rechtsradikalen aufgenommen und als klammheimliche Unterstützung interpretiert. Oder als Beleg für die Verlogenheit einer Gesellschaft, die - anderes Beispiel - auf der einen Seite die Euthanasie-Programme des Nationalsozialismus geißelt, auf der anderen Seite den Philosophen Peter Sloterdijk in hohen Ehren hält, der vor Jahresfrist zumindest höchst missverständlich, wenn nicht mit eindeutiger Absicht mit Begriffen wie "Menschenzucht", "pränatale Selektion" oder "optionale Geburt" hantierte. Eugenik ist kein Tabu mehr, das nationalsozialistische Ideal des "reinen", "gesunden" Menschen mit den "richtigen" Genen schleicht sich in die wissenschaftliche Diskussion. Versicherungen, Industrie und Militärs spitzen die Ohren.

Auch das macht die Bekämpfung der rechten Seuche so schwierig: die Möglichkeit eines jeden fremdenfeindlich oder nationalsozialistisch daherschwafelnden Knallkopfs, auf die Ansicht so manchen ehrenwerten Mitgliedes der Gesellschaft zu verweisen. Dass es in Fragen des Antisemitismus und anderen Bereichen, die den Ideologie-Kreis der Nazis berühren, keine rein akademische Diskussion gibt, muss auch der Jude Norman G. Finkelstein derzeit erleben. Seit der Veröffentlichung seiner provokanten Thesen in dem Buch "The Holocaust-Industry" (Die Woche vom 28. Juli 2000) wurde er - wie er sagt "wider Willen" - so etwas wie ein Kronzeuge all jener, die Wiedergutmachung schon immer als Folge einer "Erpressung" darstellten und sich vom Judenmord dadurch reinwaschen wollten, dass sie ihn einreihten in die Verbrechen anderer Völker (etwa der Amerikaner an den Indianern). Das alles bringt Argumentationsnöte für Nazi-Gegner mit sich und die Gefahr, die Definitionskriterien dafür, was nun eigentlich rechtsradikal und was "noch im Rahmen" sei, immer höher anzusetzen. So weit darf es eben nicht kommen: dass nur noch Springerstiefel, Baseballschläger und Bomberjacke den Rechtsradikalen erkennbar machen, der ganze Gesinnungswust aber als "irgendwie normal" angesehen wird.

P.S.: Das Ordnungsamt der Festspielstadt Bayreuth überlegt derzeit, wie man den für diesen August angesagten Heß-Gedenkmarsch verhindern kann. Zur gleichen Zeit stolziert Wolf Rüdiger Heß, unbelehrbarer Sohn des Führer-Stellvertreters, auf dem Grünen Hügel herum - wie er sagt, von der befreundeten Festspielleitung mit Karten beacht.

(aus: Tyll Schönemann, Unfreiwillige Helfer, in: Die Woche vom 18.08.2000)