M 02.05 Die Verrohung des Gemüts

Am einfachsten ist die Beschreibung des Zustands: Die Brutalität hat gerade wieder Hochkonjunktur, weltweit. In Spanien wird ein Menschenleben immer weniger wert, sofern es nur einem Politiker gehört, in den USA treten Ordnungshüter im Namen der Ordnung wehrlose Menschen zuschanden, in Russland versteckt man Bomben in Unterführungen, damit möglichst viele Männer, Frauen und Kinder zerfetzt werden. Eine solche Bombe ist kürzlich auch in Düsseldorf explodiert, in jenem Land also, dessen Brutalität uns naturgemäß am meisten nahe geht: uns Zuschauern und noch viel mehr denen, die regelmäßig durch Fußgängerzonen gejagt, geprügelt und dort manchmal umgebracht werden. Was da zu besichtigen ist, hat der Bremer Ethnologe Hans Peter Duerr aus ähnlichen Anlässen vor Jahren als "Wärmetod der Zwischenmenschlichkeit" beschrieben. Und als Grund eine "drastische Enttabuisierung" ausgemacht, die beispiellos in der Kulturgeschichte sei.

Nun ist in Sachen Brutalität leider nichts beispiellos, außer vielleicht dem industriellen Massenmord an den europäischen Juden. Trotzdem ist Enttabuisierung das richtige Stichwort. Es stellt sich nämlich heraus, dass immer häufiger auch für Durchschnittsmenschen - nicht nur für Diktatoren und ihre Folterknechte, nicht nur für perverse Mörder - keine Scheußlichkeit mehr tabu ist; dass viele Menschen schlicht nicht mehr wissen - oder es ihnen egal ist -, worauf sich eine zivilisierte Gesellschaft geeinigt hat und warum. Hassverbrechen heißt in den USA jene neue Art der Kriminalität, bei der Weiße auf Schwarze, Asiaten auf Latinos, alle auf alle losgehen. Es muss wohl wirklich so etwas geben wie eine internationale Verrohung des Gemüts.

Ungezählte Erklärungen sind auf dem Markt für das Phänomen, und die meisten sind irgendwie plausibel. (Seltsamerweise kennen aber viele Experten die einzige Ursache und verteidigen ihre Erkenntnisse oft mit einer Aggressivität, die gut zum Gegenstand passt.) Nützlich sind gewiss die Hinweise auf den Zusammenhang zwischen Gewaltbereitschaft und der sozialen Lage mancher jugendlichen Gewalttäter, etwa in Deutschland. Andererseits geht es in vielen Teilen der Welt den Leuten viel schlechter als in Eberswalde oder Magdeburg, ohne dass sie - noch? - ihre Mitmenschen jagen, prügeln und totzutreten versuchen.

Noch nützlicher ist deshalb wohl der Hinweis darauf, dass gerade in den zivilisiertesten Ländern fast gleichzeitig viele Institutionen ausfallen oder bröckeln, die immer zuständig waren für die Erziehung der jungen Leute. Beispiel Deutschland: Wer seine Hoffnung auf die Schule setzt, hat nur noch nicht mit genug überforderten und ängstlichen Lehrern in (allzu vielen) Großstadt-Hauptschulen geredet; wer auf die pädagogische Leuchtkraft der Familie baut, müsste ignorieren, dass die sich, bei 38 Prozent Scheidungen, in einer - diesmal wirklich beispiellosen - Krise befindet.

Außerdem verliert die Religion dramatisch an Bindungswirkung. Wer sich wundert, warum gerade im Osten Deutschlands bei tausenden jungen Männern jeder Anflug von schlechtem Gewissen fehlt, wenn sie "Nigger klatschen" oder "Penner", der kommt kaum an der Tatsache vorbei, dass in den neuen Bundesländern siebzig Prozent der Bevölkerung keiner Religionsgemeinschaft angehören und die Jungen oft schlicht nicht mehr wissen, was das sein soll: christliche Werte. Wieder nur ein Stück zwangsimportierte Wessi-Moral? In die breite pädagogische Lücke springen vor allem die Medien, von denen ein nicht geringer Teil, zum Zwecke der Gewinnmaximierung, Verhaltensmuster, Sensationen, Idole anbietet , die nun wirklich von Kindern nicht eingeordnet werden können, die unbetreut vor dem Fernseher abgestellt werden.

Zu alledem muss aber hinzukommen eine spezifische Disposition zur Brutalität; deren Ursachen kommen Psychologen und Pädagogen langsam auf die Spur. Eine Reihe von Untersuchungen scheint zu belegen, dass hinter all der Aggression gegen das Fremde, das " Minderwertige" eine "tief depressive Grundstimmung" lauert, wie sie der Bochumer Psychotherapeut Ulrich Sollmann diagnostiziert hat. Eine Grundstimmung, die umso gefährlicher ist, als sie - das gehört zum Krankheitsbild - von den betroffenen Jugendlichen nicht zugegeben werden kann. Nichts ist brisanter, als wenn große Teile einer ganzen Generation ihr Selbstwertgefühl verlieren und es sich dann durch Aggression und Machtphantasien zurückholen wollen.

Fußtritte aus Angst. Irgendwann sieht so ein Glatzkopf die Welt nur noch durch seine neurotisch machende Brille: Auf der einen Seite die smarten jungen Altersgenossen, die in den Fernsehfilmen dabei zu beobachten sind, wie sie nach 16stündigem Arbeitstag auf dem Weg in die Nobeldisko schnell noch per Handy bei ihrem amerikanischen Broker ordern. Und auf der anderen Seite die Obdachlosen und Säufer, auf die zu treten schon deshalb gut tut, weil da endlich jemand ist, dem man sich überlegen fühlt. In Wahrheit tritt der Kerl in den Springerstiefeln auf etwas, wovor er schreckliche Angst hat: Dass er am Ende selbst da landen könnte, wo die sind, die er gerade tritt.

All diese Erkenntnisse führen vielleicht zu einer vernünftigen Diagnose, aber natürlich noch lange nicht zu einer Spontanheilung über Nacht. Auch insoweit blühen leider die Illusionen: Je größer die Ratlosigkeit, desto hektischer wird dieser Tage debattiert, ganz als müsse in diesem einzigen Sommer die Wärme der Zwischenmenschlichkeit wieder hergestellt werden durch eine sofort vollziehbare Anordnung der Innen-Staatssekretäre. Manches an der gegenwärtigen Erregung ist auch ziemlich grotesk, weil man ja kein sonderlich gutes Gedächtnis braucht, um sich an den Sommer 1993 zu erinnern, in dem schon einmal aus schlimmen Anlässen im ganzen Land eine scharfe Debatte über das Fehlen des Wertebewusstseins ausgebrochen war. Seinerzeit sollte es auf Beschluss der CDU-Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen umgehend wieder hergestellt werden, durch Wiedereinführung der "sittlichen Verantwortlichkeit" und Abschaffung der "Selbstverwirklichung."

Zu den wichtigsten Tugenden, die man nicht nur den Deutschen jetzt wünschen müsste, gehörte das Vermögen, zwischen den Dingen zu unterscheiden, die sofort getan werden können, und jenen, die man nicht deshalb lassen darf, weil sich die Erfolge nicht sofort messen lassen. Das wenigste von dem, was heute diskutiert wird schließt einander aus - und nichts ist ein Allheilmittel. Es wird, natürlich, schärfere Gegenwehr brauchen durch den Staat, wenn sich die Brutalität organisiert, strukturiert und vernetzt. Und gleichzeitig muss klar sein, dass das richtige Selbstwertgefühl junger Leute nicht am allerbesten dadurch produziert wird, dass die guten Deutschen - die aufgeklärten, gebildeten, weltmarktfähigen - auf die missratenen in immer noch einer Talkshow mit dem Finger deuten und sie so nur noch stolzer machen auf ihre Besonderheit. Im übrigen bleiben nur die alten Rezepte und Hoffnungen: Wenn die Brutalität floriert, brauchen Anstand und Mitleid ein Konjunkturprogramm.

(aus: Herbert Riehl-Heyse, Die Verrohung des Gemüts, in: Süddeutsche Zeitung vom 12.08.2000: