M 02.06 Von Angst zu Hass ist es nur ein kurzer Weg

Das Bedrückende ist das Gefühl, dass ja alles schon mal - schon mehrmals - gesagt zu sein scheint. Nach Hoyerswerda, nach Solingen, nach Mölln. Unsere durchaus ehrliche Empörung droht zum Betroffenheitsritual zu verkommen, oder jedenfalls in der Öffentlichkeit so wahrgenommen zu werden. Das hilft niemandem.

Genauso wenig wie schneller Aktionismus oder eine Inflation von gut gemeinten "Zeichen" oder Appellen, zu mehr Wachsamkeit oder mehr Zivilcourage. Das ist ja alles wichtig, aber ich fürchte, damit signalisieren wir der Öffentlichkeit vor allem eins: Ratlosigkeit. Und das in regelmäßig wiederkehrenden Wellen, zwischen denen wir zur Tagesordnung zurückkehren. Betroffenheit kann man schließlich nicht als Dauerzustand konservieren oder gar anordnen. Ich denke, wir müssen tiefer, radikaler und ehrlicher nach den Ursachen forschen.

Die Schweitzer-Formel

Müssen wir nicht fragen, warum unsere Zivilgesellschaft aus dem Ruder zu laufen droht? Von der Leistungsgesellschaft - die wir alle bejahen - über die Ellenbogengesellschaft - die wir genauso einstimmig beklagen - hin zu einem Zustand, wo für einen Teil der Mitbürger der Baseball-Schläger an die Stelle der Ellenbogen getreten ist. Wann haben wir auf diesem Weg vergessen, dass die Grundlage unseres Gemeinwesens die schlichte "Ehrfurcht vor dem Leben" ist, wie Albert Schweitzer es formuliert hat? Vor allem Leben, auch vor dem schwachen, auch vor dem fremden.

Müssen wir nicht fragen, welche Wurzeln die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen in unseren Familien hat? Wir werden nicht müde, über gesellschaftliche Ursachen zu reden, über Arbeitslosigkeit und mangelnde Perspektiven. Ich will das gar nicht in Abrede stellen. Aber wann stellen wir uns ehrlich der Frage, ob zu diesen gesellschaftlichen Bedingungen nicht genauso auch überforderte Mütter und Väter gehören? Beziehungsarmut, Mangel an Grenzen und Mangel an Anerkennung in der Erziehung, die besonderen Probleme alleinerziehender Menschen: kann das alles wirklich durch den Kindergarten, die Schule und eine engagierte Jugendarbeit ausgeglichen werden?

Solche Fragen werden gern tabuisiert, allzu leicht wird man eines überholten Gesellschaftsbildes geziehen. Aber hier geht es ja nicht um individuelle Vorwürfe an das Unvermögen einzelner. Es geht um mögliche Hilfe. Wenn Familienpolitik oder kirchliche Bekenntnisse zur Familie ernst gemeint sind, sollten wir zusammen nach Wegen suchen, wie Väter und Mütter, gemeinsam oder einzeln, erziehen lernen können. Damit mehr Kinder die Chance bekommen, gefestigt und stark heranzuwachsen und nicht als schwache den erstbesten Rattenfänger-Parolen hinterherlaufen. Ich habe da kein Rezept. Aber das Thema "Familienbildung" steht auf der Tagesordnung.

Schließlich: Müssen wir nicht fragen, wie es dazu kommen kann, dass 17-Jährige, die einen Vietnamesen brutal durch die Straßen hetzen, meinen können, damit nur das zu tun, was die Mehrheit am liebsten auch täte - sich aber bloß nicht traut? Hass gegen Fremde schüren die Neonazis, die jetzt hoffentlich mit aller Schärfe - und damit meine ich alle angemessenen Mittel des Rechtsstaates - in den Blick genommen werden. Aber Angst vor Fremden, eine Vorstufe zum Hass, die haben auch andere geschürt. Aus Gedankenlosigkeit oder aus populistischem Kalkül.

Asylrecht erhalten

Als Kirche sagen wir ohne Wenn und Aber: Die Frage, wie zivilisiert unsere Gesellschaft bleibt, hängt nicht zuletzt davon ab, wie zivilisiert wir mit Fremden in unserem Land umgehen. Und das nicht nur mit ausländischen Managern und Fachkräften, die die Wirtschaft händeringend sucht. Sicher kann nicht jeder hier bleiben, der bei uns Zuflucht sucht. Aber das individuelle Asylrecht muss in Deutschland im Kern erhalten bleiben. Alle, auch die Politiker, müssen mithelfen, vorhandene Ängste abzubauen. Das hat nichts mit Sozialromantik zu tun, niemand in Europa kann sich abschotten. Deshalb muss man allen Politikern die Rote Karte zeigen, die meinen, sich in der Debatte um die richtigen Lösungen in der Ausländerpolitik mit leichtfertigen Unterscheidungen zwischen "erwünschten" und "unerwünschten" Ausländern profilieren zu müssen. Der Schritt vom "unerwünschten" zum verfolgten Ausländer ist zu klein. Da darf niemand mit dem Feuer spielen.

(Manfred Sorg ist Präses der evangelischen Kirche von Westfalen)

(aus: Manfred Sorg, Von Angst zu Hass ist es nur ein kurzer Weg, in: Münstersche Zeitung vom 09.08.2000)

 

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