M 03.18 Ein Verbot der NPD wäre falsch
Ich finde es nur schwer erträglich, wenn in diesem Land die Besitzer von Kampfhunden auf die Straße gehen und für den freien Auslauf ihrer Lieblinge demonstrieren, aber keine öffentliche Empörung festzustellen ist, wenn in Deutschland Ausländer beschimpft, bespuckt, geschlagen und getreten werden. In jedem der zurückliegenden fünf Jahre gab es in Deutschland mehr als 700 rechtsextremistische Gewalttaten. Den Medien waren diese Übergriffe, bei denen Ausländer verletzt oder getötet wurden, meist nur eine Kurzmeldung von wenigen Zeilen wert. Politiker verwiesen im besten Fall auf die Zuständigkeit von Polizei und Justiz. In Mecklenburg-Vorpommern versuchte das Innenministerium, die hohe Zahl der dortigen Gewalttaten sogar dadurch schönzureden, dass es als Urlaubsland von vielen Touristen besucht würde, unter denen sich selbstverständlich auch viele Rechtsextremisten befänden, auf deren Konto ein beachtlicher Teil der Taten gehe. Letztlich kann es aber gleichgültig sein, warum das Problem fremdenfeindlicher Gewalt und rechtsextremistischer Umtriebe in unserem Land gerade jetzt zu einem öffentlichen Thema geworden ist: Wichtig ist nur, dass endlich die politische und gesellschaftliche Debatte geführt wird. Es ist nur zu hoffen, dass diese Debatte und das sie begleitende Medienecho nicht nur dazu dient, das übliche "Sommerloch" zu füllen. So wichtig wie die gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung ist, so fragwürdig sind jedoch die bislang angebotenen Lösungsansätze. Wenig hilfreich ist es beispielsweise, das Problem rechtsextremistischer Gewalt mit dem Verbot der NPD lösen zu wollen. Erstaunlicherweise wird diese Forderung jetzt gerade von solchen Politikern aufgestellt, die bisher in ihren Bierzeltreden vielfach den Nährboden für Intoleranz und Hass bereitet haben. Der bayerische Innenminister Beckstein übersieht, dass solche Gewalttaten in den allerseltensten Fällen von Mitgliedern rechtsextremistischer Parteien begangen werden. Im Gegenteil: Rechtsextremistische Parteien scheuen jegliche Form von Gewalt, um den Behörden keine Gründe für ein Verbot zu liefern. Überdies bestätigt die Erfahrung aus dem Verbot der rechtsextremistischen FAP im Jahre 1995, dass mit solchen Maßnahmen nicht viel erreicht wird: Zwar hört die Organisation rechtlich auf zu bestehen, sie setzt ihre rechtsextremistische Tätigkeit nunmehr im Untergrund fort und ist für die Sicherheitsbehörden nur noch schwerer zu beobachten. Im Übrigen, eine Gesellschaft lebt nicht von Verboten, sondern ihrer Kultur. Die Bekämpfung des Rechtsextremismus ist eine kulturelle Aufgabe. Auch der wie üblich in solchen Situationen geforderte Einsatz von mehr Polizei wird fremdenfeindliche Gewalt allenfalls in sehr geringem Umfang verhindern können. Ursächlich dafür ist, dass sehr häufig die Personen, die aus fremdenfeindlichen Motiven heraus Ausländer angreifen und misshandeln oder einen Brandsatz in eine Asylbewerberunterkunft werfen, den Verfassungsschutzbehörden erst durch diese Tat bekannt werden. Obwohl sie Hass gegen Ausländer empfinden oder antisemitisch eingestellt sind, waren sie nie Mitglied in rechtsextremistischen Organisationen oder sind offen für deren Ziele eingetreten. Dies belegt: Fremdenfeindliche Gewalt kommt - und dies gilt nicht nur für die neuen Bundesländer - aus der Mitte der Gesellschaft. Ist aber der potenzielle Täterkreis nicht abgrenzbar und sind die Taten nicht vorhersehbar, ist allein mit dem verstärkten Polizeieinsatz wenig bis nichts zu erreichen. Wie immer in solchen Fällen, in denen man nicht weiter weiß, ertönt der Ruf nach neuen und schärferen Strafgesetzen. Auch dies ist ein Irrweg. Die Aufklärungsquote bei fremdenfeindlichen Gewalttaten ist hoch; die Justiz verurteilt die Täter wegen Mord, Totschlag oder Körperverletzung und schöpft dabei den vorhandenen Strafrahmen aus. Wichtig ist allerdings, dass die Sanktionen des Staates bei den überwiegend jugendlichen Straftätern schnell und konsequent erfolgen, damit sie erzieherisch wirken. Verfahrensbeschleunigungen sind notwendig. Wenn wir das Problem der fremdenfeindlichen Gewalt wirklich wirksam bekämpfen wollen, müssen wir mit unseren Maßnahmen wesentlich früher ansetzen. Was wir wirklich dringend brauchen, ist eine neue "Kultur des Zusammenlebens". Ohne einen neuen Konsens in der Bevölkerung wird die an sich richtige Aufforderung, bei fremdenfeindlicher Gewalt nicht wegzusehen, sich einzumischen oder Hilfe zu rufen, ungehört verhallen. Den potenziellen Tätern muss klargemacht werden, dass sie nicht den vermeintlichen Willen einer schweigenden Mehrheit in unserem Land vollziehen. Wer Menschen angreift und verletzt, ist ein Straftäter. Wer Minderheiten verfolgt und verachtet, ist ein Extremist, und Extremisten zerstören unsere Gesellschaft. Wir brauchen wieder ein Signal der Toleranz, wie es die "Lichterdemonstrationen" Anfang der neunziger Jahre waren. Dieses Signal hat seinerzeit gewirkt: In seiner Folge haben sich die rechtsextremistischen Gewalttaten mehr als halbiert. Mich beunruhigt diese Gesellschaft. Deshalb starte ich im Saarland gemeinsam mit prominenten Künstlern und Sportlern, die für die Jugendlichen Vorbild sind, eine Kampagne gegen das Wegsehen, in der sich jeder zu mehr Zivilcourage bekennt. Machen Sie auch was, es gibt Wichtigeres als die Aktienkurse! (Heiko Maas ist Vorsitzender der SPD-Fraktion im saarländischen Landtag) (aus: Heiko Maas, Ein Verbot der NPD wäre falsch. In: Die Welt vom 05.08.2000, URL vom 08.09.2000: http://www.welt.de/daten/2000/08/05/0805fo183763.htx) Arbeitshinweise zu M 3.01 - M 3.18: Die in diesem Kapitel aufgeführten Materialien sind so ausgesucht, dass ihr die in der Gesellschaft einsetzende Kontroverse um ein Verbot der NPD nachzeichnen könnt. Überlegt, wie ihr die Kontroverse aufarbeiten wollt. Hier einige Anregungen zur weiteren Planung: