M 04.02 "Ich bin denen nicht gewachsen"

[...] Gabriele Nehring kann sich noch gut an ihren ersten Tag in einem rechten Delitzscher Jugendclub erinnern. Sie ist 37, zierlich und hat ihre blonden langen Haare zu einem Zopf zusammengebunden. Nehring ist gelernte Kauffrau für Nachrichtentechnik und hat sich 1997 auf eine freie ABM-Stelle in einem Jugendclub beworben. Schon am nächsten Tag stand sie vor den Jugendlichen - ohne Ausbildung oder Einführung. Als mobile Sozialarbeiterin betreute sie von da an den Ostclub in Delitzsch und den Jugendtreff in Laue, einem Vorort von Delitzsch - beides rechte Treffpunkte.
Am Anfang sei sie das notwendige Übel gewesen, erzählt sie. Dann hat sie ein Dorffest in Laue mitorganisiert. Danach wurde sie akzeptiert. In ihrem Club ging der Kreisvorsitzende der Delitzscher NPD ein und aus. Wie hat sie mit den Jugendlichen gearbeitet? "Ich habe versucht, die zu akzeptieren", sagt sie. Es klingt ratlos. "Ich musste immer aus dem Bauch heraus entscheiden." Wenn die Rechten feiern wollten, ging sie einen Kompromiss ein. Zwei bis drei Lieder ihrer Musik durften sie spielen. Es hat ihr nicht gefallen. Sie lässt die Schultern fallen. Was sollte sie machen? Nehring konnte mit ihnen Bier trinken, Skat spielen und übers Wetter diskutieren. Politische Debatten hat sie vermieden. Sie fühlte sich überfordert. "Die kennen sich richtig gut in Geschichte aus", sagt sie und fügt leise hinzu: "Ich bin denen nicht gewachsen." Wenn ihre Jugendlichen sich am Tisch laut über die Reparationszahlungen aufregten, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg leisten musste, konnte Gabriele Nehring nur zuhören und schweigen. Vielleicht hat sie deshalb aufgehört, Rechte zu betreuen - sie arbeitet inzwischen in dem Jugendhaus, wo bis zur Pleite des Kuhstalls die Kämpfe zwischen Linken und Rechten tobten. "Wer mit Rechten arbeitet, muss mit beiden Beinen im Leben stehen und sich gut in Geschichte auskennen", sagt sie zum Schluss. [...]

Bald bekam der Sozialarbeiter ein Messer an den Hals gesetzt
Als Smaldino vor drei Jahren aus Berlin nach Milmersdorf kam, waren die Besucher der Bruchbude kahl rasiert, trugen Springerstiefel und lieferten sich regelmäßig Schlägereien mit Aussiedlern und Jugendlichen aus den Nachbarorten. "Das hat mich nicht abgeschreckt", sagt er und grinst. Smaldino hatte vorher fünf Jahre im Strafvollzug gearbeitet - mit Pädophilen.
In seiner ersten Zeit in Milmersdorf testeten die Jugendlichen Smaldinos Grenzen. Wenn sie eine Hitlerbüste mitbrachten oder Gürtel mit Hakenkreuzen trugen, kam Smaldino ihnen mit der Verfassung. Wenn einer seiner Jugendlichen bei einer Veranstaltung zur doppelten Staatsbürgerschaft aufstand und rief: "Nur ein vergaster Türke ist ein guter Türke", hat er ihn angezeigt. Er setzt die Grenzen der Akzeptanz sehr eng. Natürlich hat das nicht allen gefallen. In der ersten Zeit wurde Smaldino ständig bedroht. Ein Steckbrief bot 1500 Mark für seinen Kopf, und eines Tages hielt ihm ein Skinhead in seinem Jugendclub ein Messer an den Hals. Er solle verschwinden. Smaldino blieb. Er fuhr mit 21 Jugendlichen nach Indien, baute dort eine Brücke und reiste mit den Rechten nach Elba. "Die haben da vergessen, ihre Haare abzurasieren." Wenn einer seiner Jugendlichen mal wieder ausrastet und jemanden verprügelt, bittet er ihn allein zu einem Gespräch in sein Zimmer. Er provoziert sie, konfrontiert sie ständig mit seiner anderen Meinung, und am Ende legt er beim Haftrichter ein gutes Wort für sie ein.
Nach drei Jahren ist die Mehrheit seiner Jugendlichen zur Technoszene übergelaufen. Die Jungs in der Bruchbude tragen Perlenketten um den Hals, und ihre Haare haben sie zu etwas geformt, dass sie "Vogelnester" nennen. Dabei stehen die Haare seitlich vom Kopf ab, während in der Mitte eine Kuhle zurückbleibt.
Bisweilen schauen Herren in Nadelstreifenanzügen bei Smaldino vorbei und bieten ihm finanzielle Unterstützung an, wenn er ihnen einige Räume zu Hitlers Geburtstag überlasse. Smaldino schüttelt dann den Kopf und begleitet sie höflich zur Tür. Einen Club nur für rechte Jugendliche wie in Delitzsch, würde er nie zulassen. "Das wäre ja direkte Unterstützung für die Rechten."
Das Polizeipräsidium im benachbarten Eberswalde schrieb über die Arbeit von Smaldino: "Die Lage hat sich dank seiner Arbeit beruhigt. Sollte die Bruchbude schließen, würde das immer noch vorhandene Potential rechter Jugendlicher erneut die Oberhand gewinnen." Trotz seines Erfolges muss Filippo Smaldino jedes Jahr um Geld für die Bruchbude kämpfen. Die Gemeinde ist arm, und die Milmersdorfer möchten lieber die Straßen neu asphaltieren und den Weg zum Friedhof pflastern. "Der Karnevalsverein will auch unterstützt werden", sagt der Bürgermeister. Von seinem Bürofenster blickt er genau auf die nächste Hauswand. Auf ihr steht in roter Schrift: "20. 4. 2000". Zwei 14-Jährige lassen vor seiner Tür gerade Sprengkörper in leeren Bierflaschen explodieren. Der Bürgermeister kann das Glas splittern hören. Er weiß, wie wichtig Smaldino und die "Bruchbude" für die Gemeinde sind, es ist nur nicht immer einfach, das allen Milmersdorfern zu erklären.
In Delitzsch hat sich der Stadtrat im Juli mit 14 gegen 13 Stimmen für einen Club für "rechtsorientierte Jugendliche" entschieden - die Abstimmung war geheim, aus Angst vor den Rechten. Eine Woche später zerschlugen acht Glatzen die Balkontür von Jana Kardass im Erdgeschoss eines Plattenbaus in Delitzsch West. Es war vier Uhr morgens. Die 18-Jährige kam gerade von einem Konzert. Die Rechten wollten die Adresse ihrer Freundin haben, die zuvor bei der Polizei gegen "Kameraden" ausgesagt hatte. Der Anführer bedrohte Jana Kardass mit einer Pistole. Am Morgen danach erstattete sie Anzeige. Sie glaubt, den Anführer der Rechten erkannt zu haben: Maik S. Jetzt will der Stadtrat noch einmal neu entscheiden. Derweil treffen sich die die Rechten von Delitsch wieder jedes Wochenende im Jugendhaus YOZ. Die Sozialarbeiter und die anderen Jugendlichen haben Angst.

(aus: Jana Simon: "Ich bin denen nicht gewachsen". Dreiste Nazis, überforderte Sozialarbeiter, verängstigte Lokalpolitiker - eine Fallstudie aus Sachsen, in: DIE ZEIT, Nr. 33/2000, URL vom 31.08.2000; http://www.zeit.de/2000/33/Politik/200033_jugendarbeit.html)

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