M 08.02 Erziehung gegen Gewalt ist machbar
Berlin/Hamburg - Rechtsextremistische Gewalt ist keineswegs ein Sommerlochthema, sondern es ist seit vielen Jahren ein allgegenwärtiges Problem unserer Gesellschaft, das jetzt endlich einmal mit dem erforderlichen Aufwand parteienübergreifend angegangen wird. Wie immer beginnt die Diskussion an der Oberfläche mit einem empörten Aufschrei, mit Überlegungen zum Verbot der NPD und anderer neonazigruppen und mit Auseinandersetzungen über das Untersagen von Aufmärschen und Demonstrationen. Aber zunehmend greift zum Glück auch die Einsicht, dass das Abdrängen von fremdenfeindlichen Gruppierungen in den schwer zu kontrollierenden Untergrund nicht ausreicht und dass Aktionen gegen schlimme Heranwachsende und Erwachsene nicht weit genug tragen, wenn man nicht bei Kindern beginnt. Dazu gehört, dass täglich aus Anlass von konkreten kleinen Mobbingvorfällen in der Schule oder auf dem Schulweg Gewalt verpönt wird, und zwar vor allem aus dem Mund von Gleichaltrigen, denn das überzeugt wesentlich mehr, als wenn Erwachsene das tun, weil junge Menschen unbewusst spüren, dass sie ihre Zukunft eher mit den Menschen ihrer Altersgruppe als mit der vor ihnen lebenden Generation teilen werden. Lehrer können derartige Strategien erlernen, und damit muss es nicht mehr zu solchen nach hinten losgehenden Schüssen kommen, wie sie von einem wohlmeinenden Hauptschullehrer aus Rostock-Lichtenhagen berichtet werden: Er wollte - bei 15-Jährigen viel zu spät - mit Filmen der Reden von Hitler und Goebbels, über KZs und NSDAP-Aufmärsche in Nürnberg abschrecken, hat aber durch Ungeschick erreicht, dass seine Schüler vor allem von dem vermeintlich Kraftstrotzenden des Dritten Reiches fasziniert und angesteckt wurden. (Professor Dr. Peter Struck ist Erziehungswissenschaftler an der Universität Hamburg. In der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt, ist sein Buch "Zuschlagen, Zerstören, Selbstzerstören" erschienen.) (aus: Peter Struck, Erziehung gegen Gewalt ist machbar. Vor allem kleine Kinder entwickeln leicht Sinn für Demokratie, in: DIE WELT online, URL vom 08.09.2000:)
Rechtsextreme Gesinnungen haben nicht nur etwas mit Dummheit und mit den so oft als Ursache angeführten Verliererschicksalen, sondern auch etwas mit Demokratiedefiziten, also im Kern etwas mit Erziehung und mit Schulen zu tun. Werteplurale Gesellschaften wie die in Deutschland, Frankreich oder Italien haben immer ein breiteres Spektrum an politischen Auffassungen, und sie fleddern an den Rändern dieses Spektrums immer weiter aus als in totalitären Systemen. Das ist einerseits der Preis für Liberalität und Demokratie, macht aber andererseits auch Erziehung aufwendiger.
Der Schule kommt in der Demokratie eine schwierigere erzieherische Verantwortung zu als in einer Diktatur, und in unserer aktuellen Gesellschaft ist die Schule mittlerweile die einzige Lebenswelt, die mit den Elementen Schulpflicht und politische Bildung noch alle jungen Menschen bewusst erzieherisch zu erreichen vermag, weil es die Familie oft nicht mehr kann oder will und weil die Lebenswelten Medien und Jugendkultszenerie sich im Wesentlichen ohne einen Erziehungsauftrag bloß ereignen.
Erziehung zur Demokratie muss schon im Vor- und Grundschulalter beginnen, indem wir Kindern vorleben und über Rollenspiele, Geschichten, Hörspiele und Filme mit anschließenden bewertenden Gesprächen aufzeigen, wie man sich im Falle eines Problems angemessen entscheiden, wehren, behaupten und durchsetzen kann, so dass man nicht aus Mangel an Verhaltensalternativen auf Gewalt, Sucht und Krankheit ausweichen muss.
Untersuchungen haben ergeben, dass Kindergartenkinder keine Probleme damit haben, mit Kindern anderer Nationen und Religionen zu spielen, und dass Grundschüler einen sensibleren Gerechtigkeitssinn haben als Jugendliche und Erwachsene. Erziehung zur Demokratie trifft also bei kleinen Kindern auf den denkbar fruchtbarsten Boden, und das müssen wir so nutzen, wie das seit vielen Jahren mit großem Erfolg die Lehrerinnen der Lübecker Domschule tun: Jeder kleine Gewaltvorfall wird noch einmal veranschaulicht, und dann wird differenziert nach Tätern, Opfern und Zuschauern gefragt "Was hätte man stattdessen tun können?" Die von den Schülern am höchsten bewerteten Verhaltensalternativen werden daraufhin über Rollenspiele so eintrainiert, dass sie für spätere kritische oder lähmende Situationen als taugliche Handlungsmuster auch wirklich zur Verfügung stehen.
Gewalt und Fremdenfeindlichkeit haben seitdem dort wie auch mit dem Antiaggressivitätstraining an der Schule für Erziehungsschwierige im niedersächsischen Bad Bentheim um mehr als 50 Prozent abgenommen, und ganz schlimme Gewalttaten kommen überhaupt nicht mehr vor.