M 08.03 Können Lehrer und Erwachsene verhindern, dass Kinder rechtsextrem werden?

Wie erziehe ich zum Rechtsextremismus?
Ja, in der Tat - man könnte einen jungen Menschen zum Rechtsextremisten erziehen. Man müsste nur konsequent alles falsch machen: die Bedürfnisse eines Jugendlichen nach Geltung und Zugehörigkeit auf Dauer frustrieren. Oder die offensichtlichen Ungerechtigkeiten dieser Gesellschaft beharrlich leugnen. Unangenehmen Fragen nach der sozialen Verantwortung des Turbo-Kapitalismus moralisierend ausweichen, ebenso denen nach dem Sinn nationaler Solidargemeinschaften im Zeitalter der Globalisierung. Arbeitslosigkeit als persönliches, nicht als gesellschaftliches Problem darstellen. Von Schul- und Berufsversagern erwarten, dass sie begeistert für diesen Staat eintreten. Der so vorbereitete junge Mensch findet dann im Extremismus alles, was ihm fehlt: Geltung, Anerkennung, mediales Echo, Zugehörigkeit, Omnipotenz-Phantasien, starke Emotionen, Lebenssinn.
Eine besonders wirksame Erziehungsstrategie zur Erzeugung von Rechtsextremismus ist folgende: Mit den "hässlichen", den "dummen" Parolen der Neonazis setzen wir uns nicht wirklich und argumentativ auseinander, sondern wir machen sie schlecht, wir zeigen Bestürzung, Betroffenheit, "die gebotene Härte" und die "eindeutige Ablehnung". Kurz: Wir sondern normatives Gelaber ab. Aber keine überzeugenden Antworten aufprägen wie: "Warum bin ich als Deutscher arbeitslos und der ausländische Kollege hat eine Stelle?", "Ist es gerecht, dass jemand durch ein paar Telefonate Zehntausende verdient, und eine Altenpflegerin rackert sich dafür jahrelang ab?" oder "Warum soll ich für diesen Staat etwas tun, der nichts für mich tut?" Weichen wir solchen Fragen argumentativ aus, füllen das entstehende Vakuum andere, jene, die darauf eine Antwort wissen.
Im erzieherischen Alltag müssen genau jene Paradoxien realisiert werden, die wir in den Medien und in der Politik nicht dulden könnten: Wenn wir mit einem jungen Menschen diskutieren, müssen wir das in freundlicher, akzeptierender, geduldiger und wertschätzender Art und Weise tun. Auch wenn es um Themen, Parolen und Argumente geht, die politisch gefährlich oder anrüchig sein könnten.
Heranwachsende benötigen positive Beziehungen zu Bezugspersonen wie Eltern, Lehrkräften, Ausbildern, um das Frustrations-Potenzial jeder Gesellschaftsstruktur - geformt aus strukturell erzeugten Ungerechtigkeiten, Enttäuschungen, sinnlosen Anstrengungen und Verlusten - ertragen zu können. Wird das Frustrations-Potenzial politisch größer gemacht, übersteigt es die kompensatorischen Kräfte der Erziehung. Das Auftauchen extremistischer Orientierungen ist immer auch ein Indiz für einen tief greifenden Beziehungs- und Argumentationsverlust im erzieherischen Umfeld von Jugendlichen.

Wie mächtig ist Erziehung?
Einen jungen Menschen zum Rechtsextremisten erziehen - intuitiv kann sich jeder vorstellen, dass dies gelingen könnte. Die umgekehrte Frage, was Erziehung tun kann, um den Rechtsextremismus zu verhindern, muss hingegen mit einiger Skepsis beantwortet werden: Erziehung wirkt präventiv, aber nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, Ausnahmen sind auch bei bester Erziehung möglich. "Grenzen der Erziehung" - sie lassen jene jubilieren, die ohnehin meinen, dass "alles gesellschaftlich" oder institutioneil bestimmt sei. Haben sie Recht?
Mitnichten. Ein Beispiel: Wie eine meiner Untersuchungen an einer Stichprobe von 7800 Kindern und Jugendlichen zeigt, ist Fremdenfeindlichkeit und Gewaltneigung dort deutlich schwächer ausgebildet, wo die Lehrer und Lehrerinnen als "nett" wahrgenommen werden. Dieser Zusammenhang ist stärker als der des Belastungsgrades des Stadtviertels mit Fremdenfeindlichkeit. Zugleich kann in einer Schulklasse das Verhältnis zwischen Deutschen und Ausländern von Feindlichkeit geprägt sein und in der Parallelklasse nicht. Dieselbe Institution, dasselbe gesellschaftliche Umfeld - und dennoch krass unterschiedliche Fremdenfeindlichkeit. Also müssen die entscheidenden Ursachen im Kontakt von Mensch zu Mensch liegen, also auch in erzieherischen Kontakten. Befragt man die akademische Erziehungsforschung zur Genese des Rechtsextremismus, lautet die Antwort: "Alles ist multifaktoriell bedingt." Eltern, Gleichaltrige, die Medien, die Schule, die Lehrstelle, die Nachbarn - alle tragen ihr Scherflein dazu bei. Die vielen Faktoren (einige aus zig: Kontrollüberzeugungen, soziale Identität, elterlicher Erziehungsstil, schulischer Erfolg, Stellung in der Gleichaltrigengruppe) beeinflussen einander, heben sich auf, summieren sich - ein kompliziertes Geschäft, den Rechtsextremismus herauszurechnen. Und dennoch: Auch wenn Erziehung selbst mit all ihren Maßnahmen nur einen kleinen Teil im Verursachungsgefüge von Rechtsextremismus ausmacht, so ist sie dennoch vermutlich der zweitgrößte Einflussfaktor (der größte - wie immer: Persönlichkeitseigenheiten"). Ein größerer jedenfalls als all die Gremienergüsse, Konzeptpapiere, Erlass-Orgien und Strategiepapiere, mit denen Politik gemacht wird, zusammengenommen. Rechtsextremismus entsteht im Kontakt von Mensch zu Mensch - Erziehung ist ein Teil dieses Kontaktes und kann ihn deshalb entscheidend schwächen.

Neben jeden Neonazi einen Psychologen stellen?
Landet man bei der Erziehung als verantwortlicher Instanz, endet gemeinhin die politische Phantasie. "Wir können doch nicht alle auf die Couch der Psychologin legen" - so oder ähnlich wird das Achselzucken verbal begleitet. Sinnvoll und konsequent eingreifen kann man nur im Schulwesen - über Unterricht und Erziehung. Man erreicht jeden Jahrgang nahezu hundertprozentig. Und da sich eine nationale, politische und gesellschaftliche Identität erst ab der Pubertät bildet, werden alle auch in einer apolitisch sensiblen Phase "erwischt". Freilich müssen Lehrkräfte dies auch wollen: Achselzucken angesichts extremistischer Bekundungen ist ebenso unangebracht wie ein falsches Verständnis von parteipolitischer Neutralität - etwa: "Ich unterrichte nur Mathematik - eure politischen Ansichten interessieren mich nicht." Oder: "Er ist zwar Neonazi, aber im Unterricht habe ich keine Probleme mit ihm." Lehrkräfte sind - was immer sie unterrichten - Vertreter demokratischer Prinzipien. Lehrkräfte allerdings arbeiten mehr und härter als beispielsweise Büro-Berufler - auch wenn das Öffentlichkeit und Politik nicht wahrhaben wollen. Ihre Arbeit wird öffentlich nicht anerkannt. In vielen Fällen sind sie mit einer hoch problematischen Realität unseres Landes konfrontiert, die dem Normalbürger fremd ist. Sie ohne Entlastung mit neuen Aufgaben zu belasten wäre eine schreiende Ungerechtigkeit. Im Klartext: Lehrkräfte brauchen mehr Erholungspausen als Bürohengste und sie brauchen für Erziehung mehr Zeit. In rechtsextremistischen Krisengebieten müsste man jeden Tag 45 Minuten opfern, um im freien Gespräch, nach demokratischen Spielregeln, Themen von Schülern und Lehrern zu diskutieren: die Backstreet Boys, Sexualität, die Ungerechtigkeit in der Welt, den Rechtsextremismus und so weiter. Dafür müssen andere Fächer gekürzt werden. Ein weiteres Unterrichtsstündchen "Politische Bildung" mit dem Schwerpunkt "Neonazis" ist hier nicht gemeint - das macht Neonazis für jene interessant, die im Fach eine Fünf kriegen ... Was Lehrkräfte zur Verhinderung von Rechtsextremismus leisten könnten, zeigen unsere Studien im nördlichen Ruhrgebiet - aus Gebieten, die ähnlich mit Arbeitslosigkeit und wesentlich höheren Ausländeranteilen als im Osten "belastet" sind: kaum Neonazis und ein besonders verblüffender Abfall an Fremdenfeindlichkeit mit steigendem Ausländeranteil in der Klasse.

Wer wird kein Rechtsextremer?
Angenommen: Wir hätten Zeit und Geduld für die Erziehung. Wann würde der uns anvertraute junge Mensch kein Rechtsextremer? Wir würden ihm von klein auf eine verständnisvolle Bezugsperson sein, wir würden stets eine Bedrohung seines Selbstwertes vermeiden. Wäre er in der Schule ein Versager, zeigten wir ihm umso deutlicher seinen Wert für uns und die Gesellschaft. Wir stärkten seine personale Identität und wären skeptisch gegen Gruppenidentitäten. Wir sprächen ihn weder als "du als Junge" noch "du als Türke" oder "du als Deutscher" an. Wir hätten eine Antwort auf die Frage, wie man glücklich wird, obwohl man ein Versager ist. Wir machen ihm klar, was moderne Staaten heute sind: leider keine Verschworenen Solidar-, sondern lockere Interessengemeinschaften. Wir leben ihm überzeugend vor, wie man mit dem Frustrations-Potenzial der Gesellschaft umgehen kann. Dann hätten wir es richtig gemacht. Aber wir müssten uns anstrengen.

(Rainer Dollase (57) ist Professor für Psychologie sowie Mitglied des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld und bildet Lehrer aus. Veröffentlichungen u.a.: "Grenzen der Erziehung" (1984), "Politische Psychologie der Fremdenfeindlichkeit" (1999).)

(aus: Rainer Dollase, Besser antworten. Lehrer und Erwachsene können verhindern, dass Kinder rechtsextrem werden. Über die Erziehung zur Demokratie, in: Die Woche vom 11.08.2000)