M 08.04 "Offensichtlich machen wir etwas falsch"

Eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in den Schulen verlangt der Präsident der Kultusministerkonferenz (KMK), Willi Lemke (SPD), angesichts des erstarkenden Rechtsextremismus in Deutschland. Bremens Bildungssenator zweifelt daran, dass die Beschäftigung mit der deutschen Geschichte in allen Schulen in der wünschenswerten Form geschieht. Von den Lehrern fordert er mehr Courage - nicht nur gegenüber Rechtsradikalen. Mit Lemke sprach FR-Redakteur Wolfgang Wagner.

Frankfurter Rundschau: In der Debatte über den erstarkenden Rechtsextremismus in Deutschland wird immer mehr auch Kritik an den Schulen laut. Dokumentiert die rechte Gewalt gegen Ausländer, Obdachlose und Behinderte, dass Schule in der Vergangenheit in diesem Punkt versagt hat?

Willi Lemke: Von einem Versagen der Schule kann man nicht sprechen. Das Ausmaß der Situation würde so nicht scharf genug gezeichnet. Es gibt vielfältige Faktoren und dazu gehört die Schule. Auch Defizite in der Schule tragen dazu bei, dass sich der Rechtsextremismus in Deutschland entwickelt. Aber man darf das nicht auf die Schule reduzieren, es ist ein Problem, für das die gesamte Gesellschaft Verantwortung trägt.

Wo gibt es Ihrer Ansicht nach Versäumnisse in der Schule?

Ich meine, dass die kritische Auseinandersetzung mit unserer Geschichte, mit dem Nationalsozialismus und dem Rechtsextremismus, in der Schule nicht immer und überall so stattfindet, wie es wünschenswert wäre. Es ist ein wichtiger Punkt, den jungen Menschen vor Augen zu halten, was in unserem Land an Leid entstanden ist durch die Machtübernahme von Rechtsradikalen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass, wenn man sich in allen Schulen ernsthaft und mit den richtigen Methoden mit den Fragen des Nationalsozialismus beschäftigt, die Rechtsradikalen einen solchen Zulauf haben, wie wir es derzeit erleben.

Nach Aussage von Lehrerverbänden ist jeder Schüler in seiner Laufbahn mindestens zehn Mal im Unterricht mit dem Nationalsozialismus konfrontiert worden.

Ich würde mich freuen, wenn es der Fall ist. Das möchte ich aber gern in der Praxis bestätigt sehen. In meinem Verantwortungsbereich werde ich das in den nächsten Wochen und Monaten sehr genau überprüfen. Ich werde dem Lehrerbildungsinstitut den Auftrag geben, zum Schuljahresbeginn zu analysieren: Findet an den Schulen die Auseinandersetzung mit dem Rechtsradikalismus in unserer eigenen Vergangenheit - mit Nationalsozialismus, mit Judenverfolgung - statt, hat das stattgefunden in den vergangenen Jahren. Schule für Schule wird abgefragt und auf den Prüfstand gestellt. Überprüft werden muss auch, ob das Thema in inhaltlich angemessener Form dargestellt wird und nicht etwa zum Schuljahresende unter den Tisch fällt.

Glauben Sie, dass die Lehrer für die Auseinandersetzungen mit Rechten, die in den Schulen stattfinden, ausreichend vorbereitet sind?

Theoretisch ja. Die Ausbildung der Lehrer in Deutschland ist aus meiner Sicht sehr gut. Aber im praktischen Umgang in den Schulen gibt es sicher Defizite. Wir haben es auch nicht nur mit einem Schulproblem zu tun. Es wäre völlig verkürzt, wenn wir sagten, dafür ist ausgerechnet die Kultusministerkonferenz zuständig. Hier kommen gesellschaftliche Entwicklungen in allen Bereichen zum Tragen. Die Erziehung zum Demokraten fängt im Elternhaus an und muss in der Schule fortgesetzt werden. Es kommen verschiedene Punkte zusammen. Alle müssen sich die Frage stellen: Machen wir etwas richtig, oder machen wir etwas falsch? Und ganz offensichtlich machen wir etwas falsch.

Derzeit werden zahlreiche Offensiven in allen gesellschaftlichen Bereichen angekündigt. Welche Initiative ist von der Kultusministerkonferenz zu erwarten?

Das Problem kann nicht zentral, sondern nur vor Ort gelöst werden. An jeder Schule. Wir dürfen jetzt nicht in der Kultusministerkonferenz eine neue Arbeitsgruppe einrichten, sondern müssen - jedes Bundesland für sich - erkennen, wie wichtig es ist, dass an den Schulen entsprechende Weichen gestellt werden. Wir müssen an die Basis gehen und mit den Schulleitern reden, inwieweit solche Tendenzen an den Schulen verbreitet sind. Wir müssen uns fragen, wie sieht die Auseinandersetzung an den Schulen mit dem Rechtsradikalismus aus; reicht es aus oder müssen wir nachlegen?

Was müssen die einzelnen Schulen tun?

Schule muss sich stärker ihrer Ausgangssituation bewusst werden. Die Kollegien müssen sich zusammensetzen, um gemeinsam zu analysieren: Betrifft es uns, in welcher Form betrifft es uns, haben wir dem entsprechend entgegengearbeitet? Was müssen wir verändern? Wir müssen auch überprüfen, warum wir bei den Schülern vermehrt so eine Ist-doch-egal-Mentalität - ob bei schulischen Leistungen oder Berufsaussichten - feststellen. Auch diese Haltung führt zur Perspektivlosigkeit. Und dann kommt auf einmal so eine Kameradschaft, in der halten alle zusammen wie Pech und Schwefel und rasieren sich die Köpfe. Dass die Schüler an so etwas Gefallen finden, zeigt ja, dass irgendetwas fehlgelaufen ist.

Und was erwarten Sie von den Lehrern?

Ein noch stärkeres Engagement, noch mehr Courage. Ich erlebe - nicht nur bei den Lehrern - eine Mentalität des Wegschauens und des Sich-nicht-Einmischens. Auch Lehrer sagen sich: "Ich bin doch nicht blöd und hole mir ein blaues Auge. Vielleicht wird mein Haus beschmiert, oder ich bekomme auf dem Schulweg einen über die Rübe." Da wünsche ich mir - allerdings nicht nur im Bereich des Rechtsradikalismus, sondern auch bei Drogenmissbrauch oder Vandalismus - mehr Engagement und mehr Bürgersinn. Wenn die Schüler das nicht von ihren Lehrern erleben, die ja Vorbilder sein sollen, wie sollen wir es dann von den Schülern erwarten.

Einzelne Schulen schreiben sich den Kampf gegen den Rechtsextremismus in die Schulordnung und verbieten darin das Tragen von Springerstiefeln.

Solche Initiativen finde ich auf jeden Fall begrüßenswert.

(aus: Willi Lemke, "Offensichtlich machen wir etwas falsch", in: Frankfurter Rundschau online, URL vom 08.09.2000:)

 

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