Die Struktur des Urteils (nach oben)
Die Unterscheidung
von Kriterien (normative Ebene) und Sachverhaltsaussagen (empirische
Ebene) stellt zwei Arbeitsweisen (Perspektiven) der Vernunft dar, die
für den Gang des eigenen Urteilsbildungsprozesses von großer
Bedeutung sind. (Vgl. Beck 1974: 57-60)
Der theoretischen Vernunft kommt dabei
die Aufgabe zu, das empirische Wissen über die Wirklichkeit zu
vergrößern und auf Adäquanz - im Sinne empirischer
Verifikation / Falsifikation - zu prüfen. Diese Leistung der
Vernunft „sorgt für bloßen Ausschluss von
Irrtümern, kann aber nichts zu einer Sollens- und damit einer
Entscheidungsfrage beitragen.“ (Kant: 517)
Da „eine Bewertung der
Wirklichkeit unter praktischen Gesichtspunkten innerhalb der
Kausalperspektive […] nicht möglich“ (Sander 1984:
203) ist, muss das Erkenntnispotential der theoretischen Vernunft stets
durch die praktische Vernunft ergänzt werden. Während also
die theoretische Vernunft „Erkenntnis von Dingen, wie sie sind
(wenigstens wie sie erscheinen)“ (Beck 1974:) liefert, gibt sie
„im anderen Fall [i.e. im praktischen Gebrauch] den
Veränderungen, die wir in die natürliche Ordnung der Dinge
mittels willentlicher Handlungen einführen, die Richtung.“ (Kant: 517)
Innerhalb des Urteilsbildungsprozesses übernimmt die praktische Ausrichtung der Vernunft eine
Steuerungsfunktion gegenüber der Kausalperspektive (Primat der
praktischen Vernunft). Konkret heißt das: Die normativen
Kriterien bestimmen die Wirklichkeitsausschnitte, in denen die
theoretische Vernunft Sachverhaltsfeststellungen zu treffen hat.
Eine diesem Vernunftgebrauch gerecht
werdende Struktur lässt sich im Bereich des Rechts auffinden. So
ist die Trennung von Urteilskriterien (quaestio
iuris) und dem Abgleich dieser Kriterien an der Wirklichkeit (quaestio facti) der Kern der
Rechtsprechung. Auf eben diese Weise ist bereits „im
altrömischen Spruchformelverfahren […] für alle
folgende Rechtsentwicklung ein fundamentaler Durchbruch gelungen. Die
Formel enthält die Festlegung des Streitgegenstandes und die
Rechtsfrage. Erst wenn festgestellt ist, dass es sich um eine
zulässige Rechtsfrage handelt, wird ein Gericht über die
Tatsachen entscheiden. Die Rechtsfrage, also die quaestio iuris, von der
Tatsachenfrage, der quaestio facti,
scharf zu trennen, ist der Beginn einer professionellen
Jurisprudenz.“ (unimagazin 1998)
Die Gewinnung der Urteilskriterien, also
denjenigen normativen Grundlagen, die der quaestio iuris zugeordnet werden
können, lässt sich wie folgt beschreiben:
„Der Primat der praktischen
Perspektive vor der theoretischen kommt in der hier vorgeschlagenen
Verfahrensordnung dadurch zum Ausdruck, dass vor der Analyse der
Wirklichkeit zunächst die Frage nach den relevanten Normen
und gültigen Maßstäben beantwortet werden muss.
Ausgehend von den Ansprüchen der Konfliktparteien und den in der
Gesellschaft gültigen Normen kann eine Liste von Anforderungen
erstellt werden, die eine ideale Lösung des hier zu behandelnden
Problems skizziert.
Ziel dieses Arbeitsschrittes ist es,
einerseits allgemein gültige normative Grundsätze und
Kriterien zur Beurteilung des Streitfalles - die relevanten Normen - zu
finden und andererseits den normativen Obersätzen soweit als
möglich relevante Tatbestände zuzuordnen, die konkretisieren,
wann gegen diese normativen Grundsätze und Kriterien
verstoßen wird und wann nicht.
Die Quaestio iuris muss fallbezogen,
aber im Rechtsanspruch (in ihrer Allgemeingültigkeit)
unabhängig von der Wirklichkeit beantwortet werden. Wer die Normen
lediglich aus dem ableiten will, was wirklich ist, vollzieht nicht nur
einen naturalistischen Fehlschluss, sondern liefert das Recht an die
Macht aus.
Letzte Grundlage für die
Beurteilung der Gültigkeit von normativen Obersätzen ist die
Frage nach der präjudiziellen Bedeutung des jeweiligen Urteils
selbst: Kannst du wollen, dass die Regel, die du deinem Urteil zu
Grunde legst, zu einem allgemeinen Gesetz wird?
(Allgemeingültigkeitstest.)“ (Sander 1983: ?)
Literatur:
-
Beck, L. W.:
Kants Kritik der praktischen Vernunft. Ein Kommentar. München 1974.
-
Kant, I.: Kritik der reinen
Vernunft, B 823 III.
-
Sander, W.:
Effizienz und Emanzipation - Prinzipien verantwortlichen Urteilens und
Handelns. Eine Grundlegung zur Didaktik der politischen Bildung ,
Opladen 1984.
-
Sander, W.:
Mündige Bürger - Gerichtshöfe der Vernunft. Wie ist
politisch-moralische Urteilsbildung im Unterricht möglich? in:
Frankfurter Hefte FH Extra 5: Existenzwissen 1983, S. 175-193.
-
unimagazin
1998: Am Anfang war die Spruchformel,
http://www.unicom.unizh.ch/unimagazin/archiv/1-98/spruchformel.html.
|