Kriterien (a) - Didaktische Hinweise

2. Regel: Gewinnung von Berurteilungkriterien
Erläuterungen
Die Struktur des Urteils


2. Regel: Gewinnung von Beurteilungskriterien (nach oben)

2. Regel

Die Kriterien zur Beurteilung des konkreten Falles sind so zu wählen, dass sie auch für die Beurteilung ähnlicher Fälle Gültigkeit beanspruchen können. Hierfür ist die praktische Vernunft zuständig.

Ohne Kriterien ist keine praktische Entscheidung möglich; worauf schon Aristoteles in der nikomachischen Ethik hingewiesen hat. Sie können aus tradierten oder vorläufigen Urteilen und ihren Begründungen eruiert werden.

Angesichts neuer Entscheidungsprobleme, die sich z.B. infolge von technischem Fortschritt ergeben, sind innovative und besonders intensive Bemühungen um die Entwicklung neuer Beurteilungskriterien notwendig. Innerhalb der Kriterien gibt es durchaus unterschiedliche Gewichtungen.

Die normativen Kriterien sollten vor der Entscheidung im engeren Sinne erarbeitet sein. Der Verbindlichkeitsanspruch dieser Regeln stützt sich nicht auf empirische Belege (z.B. Meinungsumfragen), sondern auf das Interesse der Vernunft, sich an allgemeingültigen Sollensvorstellungen zu orientieren. Kein noch so exakter Verweis auf das, was ist, kann begründen, was sein soll (naturalistischer Fehlschluss).

(Vgl.: W. Sander: Gerichtshöfe der Vernunft. Wie ist politisch-moralische Urteilsbildung im Unterricht möglich?, in: Frankfurter Hefte Extra 5: Existenzwissen 1983, S. 175-193; W. Sander: Effizienz und Emanzipation. Prinzipien verantwortlichen Urteilens und Handelns. Eine Grundlegung zur Didaktik der politischen Bildung., Opladen 1984, S. 270.)

 

Erläuterungen (nach oben)

Anhand der vorliegenden Spontanurteile, besser jedoch anhand der erarbeiteten eigenen Spontanurteile, sollen die Schülerinnen und Schüler lernen, Beurteilungskriterien zu entwickeln, die sich zur Bearbeitung des jeweiligen Entscheidungsfalles anbieten (Entwicklung von normativen Kriterien).

Die Übersicht: Spontanurteile zum Beispiel Schuluniform greift den Entscheidungsfall „Sollen an unserer Schule Schuluniformen eingeführt werden?“ auf. Aus einigen bereits vorliegenden Spontanurteilen sollten die impliziten, normativen Kriterien herausgearbeitet werden.

Mit Hilfe der Übersicht: Spontanurteile zu weiteren Fällen sollen die Schüler ein Gespür für die Gewinnung von Beurteilungskriterien entwickeln (Der Einsatz ist nicht zwingend erforderlich!).

Arbeitsaufträge:

Zur Erarbeitung der in den Spontanurteilen bereits enthaltenen Kriterien können folgende Arbeitsaufträge formuliert werden:

  • Arbeite anhand der vorliegenden - nach Möglichkeit kontroversen - Spontanurteile mindestens drei Kriterien heraus, die sich zur Beurteilung des Streitfalls heranziehen lassen.
  • Welche (normativen) Gesichtspunkte sind in den Argumenten versteckt?
  • Welche normativen Gesichtspunkte stehen im Spannungsverhältnis (Widerspruch) zueinander?

Methoden:

  • Eine schon vorgefertigte Wandzeitung um die Aufgliederung in Kriterien ergänzen  (Leerstellen für Sachverhaltsaussagen lassen!),
  • Grundgesetz „zu Rate ziehen“.
Wichtig!

Geben Sie bei der Suche nach Beurteilungskriterien nicht vorschnell auf. In jedem Spontanurteil und seiner Begründung steckt mindestens ein normatives Kriterium! An dieser Stelle wird deutlich, dass bei der Begründung von Spontanurteilen möglichst viele Positionen (und Perspektiven) zum Tragen kommen sollten: So setzt die Vielfalt der Sichtweisen von Beginn an in den Prozess der Urteilsbildung ein.

Machen Sie deutlich, dass es sich um ein offenes Verfahren handelt; d. h. dass im Laufe des Urteilsprozesses ggf. Kriterien ergänzt werden müssen bzw. das Verfahren unter Umständen mehrfach durchlaufen wird. Letztlich ist die Zielsetzung: "Urteile beurteilen!".

 

Die Struktur des Urteils (nach oben)

Die Unterscheidung von Kriterien (normative Ebene) und Sachverhaltsaussagen (empirische Ebene) stellt zwei Arbeitsweisen (Perspektiven) der Vernunft dar, die für den Gang des eigenen Urteilsbildungsprozesses von großer Bedeutung sind. (Vgl. Beck 1974: 57-60)

Der theoretischen Vernunft kommt dabei die Aufgabe zu, das empirische Wissen über die Wirklichkeit zu vergrößern und auf Adäquanz - im Sinne empirischer Verifikation / Falsifikation - zu prüfen. Diese Leistung der Vernunft „sorgt für bloßen Ausschluss von Irrtümern, kann aber nichts zu einer Sollens- und damit einer Entscheidungsfrage beitragen.“ (Kant: 517)

Da „eine Bewertung der Wirklichkeit unter praktischen Gesichtspunkten innerhalb der Kausalperspektive […] nicht möglich“ (Sander 1984: 203) ist, muss das Erkenntnispotential der theoretischen Vernunft stets durch die praktische Vernunft ergänzt werden. Während also die theoretische Vernunft „Erkenntnis von Dingen, wie sie sind (wenigstens wie sie erscheinen)“ (Beck 1974:) liefert, gibt sie „im anderen Fall [i.e. im praktischen Gebrauch] den Veränderungen, die wir in die natürliche Ordnung der Dinge mittels willentlicher Handlungen einführen, die Richtung.“ (Kant: 517)

Innerhalb des Urteilsbildungsprozesses übernimmt die praktische Ausrichtung der Vernunft eine Steuerungsfunktion gegenüber der Kausalperspektive (Primat der praktischen Vernunft). Konkret heißt das: Die normativen Kriterien bestimmen die Wirklichkeitsausschnitte, in denen die theoretische Vernunft Sachverhaltsfeststellungen zu treffen hat.

Eine diesem Vernunftgebrauch gerecht werdende Struktur lässt sich im Bereich des Rechts auffinden. So ist die Trennung von Urteilskriterien (quaestio iuris) und dem Abgleich dieser Kriterien an der Wirklichkeit (quaestio facti) der Kern der Rechtsprechung. Auf eben diese Weise ist bereits „im altrömischen Spruchformelverfahren […] für alle folgende Rechtsentwicklung ein fundamentaler Durchbruch gelungen. Die Formel enthält die Festlegung des Streitgegenstandes und die Rechtsfrage. Erst wenn festgestellt ist, dass es sich um eine zulässige Rechtsfrage handelt, wird ein Gericht über die Tatsachen entscheiden. Die Rechtsfrage, also die quaestio iuris, von der Tatsachenfrage, der quaestio facti, scharf zu trennen, ist der Beginn einer professionellen Jurisprudenz.“ (unimagazin 1998)

Die Gewinnung der Urteilskriterien, also denjenigen normativen Grundlagen, die der quaestio iuris zugeordnet werden können, lässt sich wie folgt beschreiben:

„Der Primat der praktischen Perspektive vor der theoretischen kommt in der hier vorgeschlagenen Verfahrensordnung dadurch zum Ausdruck, dass vor der Analyse der Wirklichkeit zunächst die Frage nach den relevanten Normen und gültigen Maßstäben beantwortet werden muss. Ausgehend von den Ansprüchen der Konfliktparteien und den in der Gesellschaft gültigen Normen kann eine Liste von Anforderungen erstellt werden, die eine ideale Lösung des hier zu behandelnden Problems skizziert.

Ziel dieses Arbeitsschrittes ist es, einerseits allgemein gültige normative Grundsätze und Kriterien zur Beurteilung des Streitfalles - die relevanten Normen - zu finden und andererseits den normativen Obersätzen soweit als möglich relevante Tatbestände zuzuordnen, die konkretisieren, wann gegen diese normativen Grundsätze und Kriterien verstoßen wird und wann nicht.

Die Quaestio iuris muss fallbezogen, aber im Rechtsanspruch (in ihrer Allgemeingültigkeit) unabhängig von der Wirklichkeit beantwortet werden. Wer die Normen lediglich aus dem ableiten will, was wirklich ist, vollzieht nicht nur einen naturalistischen Fehlschluss, sondern liefert das Recht an die Macht aus.

Letzte Grundlage für die Beurteilung der Gültigkeit von normativen Obersätzen ist die Frage nach der präjudiziellen Bedeutung des jeweiligen Urteils selbst: Kannst du wollen, dass die Regel, die du deinem Urteil zu Grunde legst, zu einem allgemeinen Gesetz wird? (Allgemeingültigkeitstest.)“ (Sander 1983: ?)

Literatur:

  • Beck, L. W.: Kants Kritik der praktischen Vernunft. Ein Kommentar. München 1974.
  • Kant, I.: Kritik der reinen Vernunft, B 823 III.
  • Sander, W.: Effizienz und Emanzipation - Prinzipien verantwortlichen Urteilens und Handelns. Eine Grundlegung zur Didaktik der politischen Bildung , Opladen 1984.
  • Sander, W.: Mündige Bürger - Gerichtshöfe der Vernunft. Wie ist politisch-moralische Urteilsbildung im Unterricht möglich? in: Frankfurter Hefte FH Extra 5: Existenzwissen 1983, S. 175-193.
  • unimagazin 1998: Am Anfang war die Spruchformel, http://www.unicom.unizh.ch/unimagazin/archiv/1-98/spruchformel.html.