Wenn Schüler in dieser Unterrichtsreihe verstärkt auf die empirische Sozialforschung
und auf die Interpretation empirischer Daten verwiesen werden, geschieht dies
nicht mit der Intention, eine möglichst exakte Verdopplung empirischer Befunde
durch sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zu erreichen. Eine solche Festschreibung
möglichst exakter empirischer Kenntnisse wäre eine Engführung des Unterrichts.
Dies lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen. Jeder Pädagoge weiß, dass man
durch eine empirisch noch so exakte Festschreibung des Mangels und der Defizite
eines Menschen nicht dazu beitragen wird, das Verhalten und die Einstellung
dieses Menschen zu verbessern. Es ist eher zu erwarten, dass deprimierende Reaktionen
und demotivierende Einstellungen die Folge sein werden. Ein schlechter Schüler
wird nicht dadurch besser, dass man ihn ständig mit exakten Zahlen über sein
Versagen und seine Unzulänglichkeit traktiert. Mut machen, an vorhandene Fähigkeiten
anknüpfen, ihm mit Phantasie Chancen eröffnen sich zu bewähren ist sicherlich
die bessere pädagogische Strategie. Die Freizeit-Thematik kann in einen inhaltlichen
Zusammenhang mit den Thesen, die Ulrich Beck in seinem Sammelband "Kinder der
Freiheit" (Frankfurt a.M. 1997) entwickelt hat, gestellt werden. Dieser Kontext
sei hier kurz verdeutlicht, um den sozialwissenschaftlichen Hintergrund herauszustellen,
in dem es um Freiheit, Institutionalisierung, Individualität und Sozietät geht.
Die allgemein gehaltene These "In der Überflussgesellschaft entscheidet sich
im Umgang mit der Freiheit in der Freizeit, wie die Freiheit zum Vorteil/Nachteil
der Menschen genutzt und wie die zukünftige Gesellschaft gestaltet sein wird"
gewinnt an Plausibilität. Die Freiheit in der Freizeitgesellschaft nimmt zu,
ja sie wird grenzenlos, aber zugleich steigt auch der Zwang, die Individualität
und Eigenständigkeit nun auch unter Beweis zu stellen sowie die Chancen der
Freiheit für sich zu nutzen.
"Je mehr Freiheit wir haben, desto mühsamer und bedrohlicher erscheint sie",
schreibt Z. Baumann. "Ich glaube, dass es den Menschen heute nicht zu sehr um
das Bedürfnis geht, zu einer Gemeinschaft zu gehören, sondern vielmehr um die
Befreiung vom Zwang, ständig wählen und entscheiden zu müssen" (Z. Baumann:
Wir sind wie Landstreicher, in: Süddeutsche Zeitung vom 16.11.1993.)
"Wo die Freiheit zum Käfig wird, suchen viele die Freiheit des Käfigs (neue
oder alte Religionsbewegungen, Fundamentalismus, Drogen, Gewalt)." (U. Beck:
Kinder der Freiheit: Wider das Lamento über den Werteverfall, in: U. Beck (Hrsg.):
Kinder der Freiheit, Frankfurt 1997, S. S. 9 - 33, hier S. 22)
Hinzu kommt eine Entwicklung, die die hier erkennbaren selbstzerstörerischen
Tendenzen in der Gesellschaft limitieren könnte: In der Überflussgesellschaft
ist ein Wertewandel in der Nutzung der Freiheit erkennbar. In ihr zerbricht
das alte Schema "mehr Karriere, mehr Einkommen, mehr Konsum, mehr Freiheit in
der Nutzung der Freizeit", denn ab einem bestimmten Konsumniveau entwertet sich
der Konsum selbst. Die Wertewandel-Forschung (H. Klages, I. Inglehardt u.a.),
weisen darauf hin, "dass die Verfügbarkeit über 'eigene Zeit' höher bewertet
wird, als mehr Einkommen und mehr Karriere, weil Zeit der Schlüssel ist, der
das Tor zu den Schätzen aufschließt, die das Zeitalter des eigenen Lebens verspricht:
Gespräch, Freundschaft, Für-sich-sein, Mitgefühl, Spaß usw." (U. Beck 1997,
S. 18). Der Wandel in der Wertorientierung führt zu einer Abwertung des materialistisch
orientierten Konsumverhaltens und zu einer Aufwertung immaterieller Gesichtspunkte
in der Lebensführung.
"Im Zeitalter des eigenen Lebens verändert sich die soziale Wahrnehmung dessen,
was als 'Reichtum' gilt und was als 'Armut', und zwar so radikal, dass unter
Umständen weniger Einkommen und Status, die einhergehen mit mehr
Selbstentfaltungs- und Selbstgestaltungsangeboten, nicht als Ab-, sondern als
Aufstieg erlebt, also gesucht werden." (U. Beck 1997, S. 18)
Dieser grundlegende Trend in der Werteorientierung unserer Überflussgesellschaft
führt daher zu einer Neubewertung eines konstruktiven, selbstverantworteten
Umgangs mit der Freiheit in der Freizeit. Und diese Neubewertung der Freizeit
kann zu einer Aufhebung der Gegensätze von Arm und Reich und den damit verbundenen
Konsum- und Selbstentfaltungszwängen führen. Jugendliche, die in der Regel nicht
über das Einkommen von Erwachsenen verfügen, können von daher besonders zu Trägern
dieser Veränderung werden, da sie als erstes einen schöpferischen und selbstverantwortet
kreativen Umgang mit der neu gewonnenen Freizeit entwickeln können: "Materielle
Einbußen sind dann verschmerzbar, wenn sie mit einem gesicherten Mehr an selbstentfalteter
Sozietät einhergehen. Vielleicht nicht eine Freizeit-, aber eine Freiheitsgesellschaft
könnte den Abschied von der Wachstums- und Arbeitsgesellschaft ermöglichen."
(U. Beck 1997, S. 19)
Durch diese Umorientierung in der Wertorientierung der handelnden Subjekte
könnte die große Gefahr der Konkurrenzgesellschaft (Auflösung der bindenden
Wirkungen innerhalb der Gesellschaft) wenn nicht gebannt, so doch gemildert
werden, wenn die Individuen gleichzeitig erkennen, dass Freiheit und Sozialität
keine Gegensätze sind, sondern sich ergänzen. Die Fixierung auf die selbstzerstörerischen
Kräfte der durch Flexibilisierung und Konkurrenzdenken gekennzeichneten Überflussgesellschaft
führt häufig dazu, dass der Blick auf die bindenden Kräfte und auf möglicherweise
entstehende neue soziale Integrationsmomente verloren geht.
Mit seinen Thesen zu den "Kindern der Freiheit" entwickelt U. Beck
eine nicht-resignative Perspektive, so dass zu den vielfach beklagten selbstzerstörerischen
Tendenzen der Konkurrenzgesellschaft durchaus Alternativen erkennbar werden.
Ob diese Alternativen sich allerdings auch durchsetzen werden, und von welchen
strukturellen Bedingungen ein solcher grundlegender Wandel in der Gesellschaft
abhängig ist - diese Frage bleibt offen. Vor diesem Hintergrund wird die
Relevanz meiner These deutlich, dass sich in einem konstruktiven, innovatorischen
und selbstverantworteten Freizeitverhalten von Jugendlichen geradezu prototypisch
die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft vorweggenommen und zugleich
auch entscheidend beeinflusst wird. Die große Frage ist, was seitens der Pädagogik
getan werden kann, damit sich Selbstentfaltung und Emanzipation mit Sozietät
und Moralität verbinden und nicht weiterhin - unter dem Einfluss globaler
industrieller Expansion (durch die Freizeit-, Medien und Konsumgüterindustrie
forciert) - weiter auseinander bewegen.
"Während im alten Wertesystem immer das Ich den (auch von einzelnen entworfenen)
Wir-Schablonen untergeordnet werden musste, entsteht im Kontext der neuen Orientierung
u.a. so etwas wie ein altruistischer Individualismus. Was sich auszuschließen
scheint - an sich selbst zu denken und für andere dazusein -, entpuppt sich
als ein innerer, inhaltlicher Zusammenhang: Wer für sich lebt, muss sozial
leben." (U. Beck 1997, S. 19)
Inwieweit die von U.Beck hier angedeutete neue "Ethik der Selbstorganisation,
der Selbstregulierung" (U. Beck 1997 Ursprung der Utopie: Politische Freiheit
als Sinnquelle der Moderne, in: U. Beck 1997 S. 382 - 401) nur eine idealistische
Forderung darstellt, die zunächst plausibel (weil vernünftig) erscheint
, bei der aber unklar ist, inwiefern sie realisiert werden kann, diese Frage
kann hier nicht weiter beantwortet werden. Für die Behandlung des hier
gewählten Themas ist sie auch nicht notwendig. Hier sollte nur deutlich
werden, dass der mit der Emanzipationsbewegung eng verbundene negative Freiheitsbegriff
(Freiheit von) in der Freizeitgesellschaft an seine Grenzen gestoßen ist und
nach einer selbstbestimmten positiven inhaltlichen Füllung sucht. Da jeder
von dieser Situation betroffen ist, könnte sich auf dieser Basis so etwas
wie eine Praxis der "freien Assoziation"entwickeln (U. Beck 1997,
S. 396). Die angestrebte enge Verbindung von Moralität und Solidarität
kann weder auf einem kollektiven Geist beruhen, noch kann sie durch noch so
geschickt arrangierte pädagogische oder medienpädagogische Programme
erzwungen werden. Die Jugend würde diese Angebote ablehnen. "Unter
Bedingungen der Moderne sind Moral und Solidarität immer eine Funktion
der Spontaneität, argumentiert bereits Durkheim. Freiwilligkeit ist
ihre Quelle" (U. Beck 1997 S. 397).