Januar
Die Bonner Regierungskoalition präsentiert einen Entwurf zur Reform
des Steuerrechts: Ab 1999 soll der Eingangssteuersatz für Löhne
und Einkommen 15% (statt 25,9%), der Spitzensteuersatz 39% (statt 53%) betragen.
Insgesamt soll eine Nettoentlastung von 30 Mrd. DM erreicht werden. Der Finanzierungsbedarf
von 15 Mrd. DM soll durch eine Anhebung der Mehrwertsteuer gedeckt werden. Die
SPD lehnt den Vorschlag als sozial unausgewogen ab und fordert Maßnahmen zur
sofortigen Senkung der Lohnnebenkosten und eine stärkere steuerliche Entlastung
der Arbeitnehmer, um eine Stärkung der Massenkaufkraft zu erreichen.
Bundesarbeitsminister Norbert Blüm stellt in Bonn den Bericht der von
ihm geleiteten Regierungskommission zur Fortentwicklung der Rentenversicherung
vor. Sie schlägt vor, bis zum Jahr 2030 das Rentenniveau von gegenwärtig
rd. 70% auf etwa 64% der durchschnittlichen Nettolöhne und -gehälter
zu senken und zielt damit auf eine Beitragserhöhung von 20,3% auf 22,9%.
In Prag wird die deutsch-tschechische Versöhnungserklärung
unterzeichnet.
Februar
Der Bundestag plant, den Kommunen 2,1% der Mehrwertsteuer als Ausgleich für
die entfallende Gewerbekapitalsteuer zukommen zu lassen (eine GG-Änderung wäre
dann erforderlich).
März
Die Absicht der Bundesregierung, die Subventionen für den Steinkohlebergbau
bis zum Jahr 2005 von rd. 10 Mrd. DM jährlich auf 3,8 Mrd. DM zu reduzieren,
bringt die Bergarbeiter im Ruhrgebiet und im Saarland auf die Straße. Die Bundesregierung
lenkt ein und vereinbart mit der IG Bergbau und Energie sowie den Landesregierungen
von NRW und Saarland als Kompromiß eine Kürzung der Subventionen auf 5,5
Mrd. DM bis zum Jahr 2005.
Der Krupp-Hoesch-Konzern in Essen versucht in einer sog. “feindlichen
Übernahme” den wesentlich größeren Thyssen-Konzern in Düsseldorf
an sich zu binden.
April
Der Bundestag plant, den Kommunen 2,1% der Mehrwertsteuer als Ausgleich für
die entfallende Gewerbekapitalsteuer zukommen zu lassen (eine GG-Änderung wäre
dann erforderlich).
Mai
Erdrutschartiger Sieg der Labour-Party bei den Wahlen zum Unterhaus in Großbritannien
(419 von 659 Sitzen), neuer Premierminister und Nachfolger von John Major wird
Tony Blair. Auch in Frankreich kommt es zu einem überraschend klaren
Sieg der Linken, nachdem der konservative Präsident Jacques Chirac
die Nationalversammlung aufgelöst und vorgezogene Neuwahlen angesetzt hatte.
In Deutschland nimmt vor allem die SPD diese Wahlsiege mit Freude wahr und
hofft, auch in Deutschland einen ähnlichen Machtwechsel bei den Bundestagswahlen
im September 1998 zu erreichen. Der Arbeitskreis Steuerschätzung ermittelt
Mindereinnahmen der öffentlichen Hand von ca. 18 Mrd. DM für 1997.
Um die Deckungslücke zu schließen, ohne die Staatsschuldquote von 3% des
Bruttoinlandsprodukts zu überschreiten (Maastricht-Konvergenzkriterien),
favorisiert Bundesfinanzminister Theo Waigel nebst Sparmaßnahmen eine Höherbewertung
der Goldreserven der Bundesbank. In den Büchern führt die Bundesbank
die Goldreserven nach dem Niederstwertprinzip mit einem Gesamtwert von rd. 13,7
Mrd. DM, während der Marktwert bei etwa 55,7 Mrd. DM liegt. Die deutsche
Bundesbank mit ihrem Präsidenten Hans Tietmeyer lehnt diesen Versuch einer
“kreativen Buchführung” entschieden ab.
Die SPD legt ein eigenes Konzept zur Steuerreform vor, nach dem die
Wirtschaft durch Steuersenkungen für investierte Gewinne, den Wegfall der
Gewerbekapitalsteuer und den Abbau von Lohnnebenkosten um jährlich rd.
30 Mrd. DM entlastet werden soll. Bei der Gegenfinanzierung setzt die SPD auf
die Schließung von Steuerschlupflöchern, auf den Wegfall von Unternehmensbegünstigungen
und auf die Wiedereinführung der Vermögenssteuer. Eine SPD-Kommission
unter Rudolf Dreßler legt Gegenvorschläge zu den Rentenreformplänen
der Bundesregierung vor: Kernbestandteil des Konzepts, mit dem das bestehende
Rentenniveau erhalten werden soll, ist die Einführung einer umfassenden
Versicherungspflicht aller Erwerbstätigen einschließlich Freiberufler und
Beamter und eine bedarfsorientierte steuerfinanzierte soziale Grundsicherung
im Alter und bei Invalidität.
Juni
Bundesbank und Bundesregierung einigen sich auf eine Höherbewertung der
Devisenbestände der Bundesbank noch im Jahr 1997. Die erzielten Gewinne,
die 1998 in den DDR-Erblastentilgungsfonds fließen sollen, können den Bundeshaushalt
1998 um 10 bis 15 Mrd. DM entlasten. Die Debatte um die fristgerechte Einführung
des EURO mündet in eine offene Kontroverse zwischen Bundeskanzler Kohl und dem
bayrischen Ministerpräsidenten Stoiber, der einer Verschiebung der Währungsunion
den Vorzug vor einer Aufweichung der Stabilitätskriterien gibt.
Juli
Der Streit um die Steuerreform spitzt sich zu. Regierungskoalition und Opposition
erzielen keine Einigung im Vermittlungsausschuß von Bundestag und Bundesrat.
Die Bundesregierung legt den ersten “Bericht zum Stand der deutschen Einheit”
vor, für die letzten 7 Jahre werden öffentliche Transferleistungen
in die neuen Bundesländer von insgesamt fast 1 Billion DM verzeichnet.
Das Bundeskabinett billigt den Entwurf zum Nachtragshaushalt 1997 (Neuverschuldung
um 17,9 Mrd. DM). Die Neuverschuldung liegt um 11,5 Mrd. DM höher als die
Investitionen und bedarf, um nicht gegen Art. 115 GG zu verstoßen, der Feststellung
einer “Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts”, die die Bundesregierung
angesichts der Zahl von 4,3 Mio. Arbeitslosen für gegeben hält. Die
SPD-Fraktion im Bundestag reicht gegen den Bundeshaushalt 1996 Verfassungsklage
ein. Der Bundesrat stimmt umfangreichen Änderungen des Ausländerrechts
zu, u.a. sollen straffällig gewordene Ausländer schneller ausgewiesen
werden können.
August
In der Regierungskoalition entsteht durch die Ankündigung von Bundesfinanzminister
Waigel, nach der Wahl nicht mehr als Bundesfinanzminister zur Verfügung
zu stehen, eine Diskussion um eine Kabinettsumbildung. Bundeskanzler
Kohl sieht allerdings zur Zeit keinen Handlungsbedarf.
Bundesfinanzminister Theo Waigel legt den Sozialdemokraten ein neues Angebot
zur Steuerreform vor: Der Höchststeuersatz soll nunmehr 48/49 % betragen,
der Eingangssteuersatz auf 22-23% gesenkt werden. Die SPD erklärt sich
bereit, dass Rentenreformkonzept der Koalition zu akzeptieren, unter der
Bedingung, dass es erst 1999 in Kraft tritt und versicherungsfremde Leistungen
der Rentenversicherung aus Steuermitteln erstattet werden.
September
Beim Parteitreffen der Union in Kloster Andechs demonstriert die Partei
Einigkeit. Der niedersächsische Ministerpräsident und wirtschaftspolitische
Sprecher der SPD Gerhard Schröder legt ein wirtschaftspolitisches Diskussionspapier
“Eckpunkte einer sozialdemokratischen Modernisierungs- und Reformpolitik” vor,
das in abgemilderter Form auch den Leitantrag des SPD-Parteivorstandes (“Innovation
für Deutschland”) für den Parteitag im Dezember 1997 in Hannover mitbestimmt.
Bei den Landtagswahlen in Hamburg erleidet die SPD starke Einbußen,
bleibt aber mit 36,2% stärkste Partei (CDU 30,7%, Grüne/GAL 13,9%).
Oberbürgermeister Voscherau gibt daraufhin seinen Rücktritt bekannt
und kündigt zudem auch seinen Rückzug aus der Bonner Politik (Vermittlungsausschuß)
an. Unter seinem designierten Nachfolger Ortwin Runde beginnen Koalitionsgespräche
mit Grüne/GAL.
Oktober
Die Koalition aus CDU/CSU und FDP feiert ihr fünfzehnjähriges Bestehen.
Junge Politiker der CDU (unter ihnen der Bundesvorsitzende der Jungen Union,
Klaus Escher) beklagen im Vorfeld des CDU-Parteitags die mangelnde Reformfreude
in der Partei und fordern Helmut Kohl auf, nach der Wahl 1998 den Parteivorsitz
niederzulegen. Auch der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf fordert
Kohls Rücktritt und stößt damit bei führenden CDU-Politikern auf heftige Kritik.
Das Bundeskabinett beschließt die Anschaffung von 180 Kampfflugzeugen des
Typs “EUROFIGHTER” zum Gesamtpreis von 23 Mrd. DM.
Gegen die Stimmen der Opposition verabschiedet der Bundestag das Rentenreformgesetz,
das u.a. eine schrittweise Senkung des Rentenniveaus von 70% auf 63% vorsieht.
Das Gesetz kann ohne die Zustimmung des Bundesrates in Kraft treten.
Der niedersächsische Ministerpräsident Schröder lehnt die von Teilen
der SPD geforderte Ausbildungsplatzabgabe ab und wird vom SPD-Landesverband
Niedersachsen mit 94% der Stimmen zum Spitzenkandidaten für die Landtagswahl
im März nominiert.
In einer Pressekonferenz im Anschluß an den Bundesparteitag der CDU in Leipzig
spricht sich Bundeskanzler Kohl zum ersten Mal offen für Wolfgang
Schäuble als seinen Nachfolger im Kanzleramt aus, läßt aber den Zeitpunkt
einer möglichen Amtsübergabe offen. In der CSU reagiert man verärgert auf diese
Ankündigung, der Landesgruppenvorsitzende Glos betont, dass die Zeit von “Kronprinzen
und Potentaten” vorbei sei.
In der Laudatio zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels
an den türkischen Schriftsteller Yasar Kemal spricht Günter Grass im Hinblick
auf die Ausländer- und Waffenexportpolitik der Bundesregierung von einer
“demokratisch abgesicherten Barbarei”. In der Regierungskoalition erhebt sich
erneut der Streit um die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft für in
Deutschland geborene Kinder von Ausländern, die von der FDP angemahnt wird.
November
Bundespräsident Herzog fordert in seiner “Berliner Rede” ein
neues Bildungsmodell für die deutschen Schulen und Hochschulen. An fast allen
deutschen Hochschule streiken Studierende für bessere Studienbedingungen und
gegen die mögliche Einführung von Studiengebühren.
Der "Arbeitskreis Steuerschätzung" prognostiziert für die Haushaltsjahre
1997 und 1998 Steuermindereinnahmen für Bund, Länder und Kommunen von insgesamt
rd. 40 Mrd. DM. Auf dem CSU-Parteitag in München wird Parteichef Theo Waigel
mit 85,3% der Stimmen wiedergewählt, muß aber - wohl vor allem wegen seiner
Äußerungen vom Sommer zu einer gewissen “Amtsmüdigkeit” - einen Stimmenverlust
gegenüber seiner letzten Wahl hinnehmen.
In der Haushaltsdebatte des Bundestags erneuern alle Parteien ihre Gesprächsangebote
zur Steuerreform. Der SPD-Vorsitzende Lafontaine schlägt eine Senkung des Spitzensteuersatzes
auf 49% und des Eingangssteuersatzes auf 22% vor, allerdings müsse die Finanzierung
aufkommensneutral erfolgen. Die Regierungskoalition erklärt sich bereit, in
der ersten Stufe der Steuerreform auf eine Netto-Entlastung zu verzichten. Gegen
die Stimmen der Opposition verabschiedet der Bundestag den Haushalt 1998 und
den Nachtragsetat für 1997 (geplante Neuverschuldung 1998: 56,4 Mrd. DM).
Dezember
Auf dem SPD-Parteitag in Hannover (Motto: "Innovation und Gerechtigkeit")
schwört Parteichef Lafontaine die Partei mit einem Bekenntnis zu sozialdemokratischen
Grundwerten auf den Wahlkampf der kommenden Monate ein.Mit 463 von 497 Stimmen
wird Lafontaine vom Parteitag in seinem Amt bestätigt. Für den Fall
eines Wahlsieges kündigt die SPD eine "fundamental andere Wirtschafts-
und Finanzpolitik" an.
Der niedersächsische Ministerpräsident Schröder erhält
vom Parteitag die Unterstützung für ein im wesentlichen von ihm erarbeiteten
Wirtschaftsprogramm, in dem eine durchgreifende Modernisierung von Wirtschaft,
Staat und Gesellschaft gefordert wird. Die SPD und die Koalitionsparteien einigen
sich auf eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um 1% zur Entlastung der Rentenkassen,
damit der drohende Anstieg der Versicherungsbeiträge auf 21% verhindert
werden kann. Auch die Gespräche über eine Steuerreform kommen wieder
in Gang.
|