Januar
Eine große Koalition als Ergebnis der Bundestagswahlen am 27. September
schließt Niedersachsens Ministerpräsident Schröder (SPD) nicht aus,
während CDU Generalsekretär Hintze ein solches Bündnis kategorisch ablehnt.
Apelle zur innerparteilichen Geschlossenheit und demonstrative Siegeszuversicht
prägen das Dreikönigstreffen der Liberalen in Stuttgart. Generalsekretär Westerwelle
stellt die FDP als die "wahre Arbeitnehmerpartei" dar. Die Grünen erklären nach
ihrer Klausurtagung in Wörlitz, eine neue Energiepolitik sei die Bedingung für
Koalitionsverhandlungen mit der SPD nach der Bundestagswahl.
Die Steuergespräche zwischen der Koalition und der SPD sind endgültig
gescheitert, beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig der Blockade.
Über eine Steuerreform soll nun laut Kanzleramtsminister Bohl der Wähler am
27. September entscheiden.
Unter dem Eindruck historischer Negativrekorde auf dem Arbeitsmarkt rückt Bundeskanzler
Helmut Kohl erstmals öffentlich vom Ziel der Halbierung der Arbeitslosigkeit
bis zum Jahr 2000 ab. Im Dezember stieg die Arbeitslosenquote im Osten
von 18,3% auf 19,4% und im Westen von 9,5% auf 9,9%. Die SPD startet mit einer
Kampagne für mehr Direktmandate in den Wahlkampf.
In der SPD wird eine intensive Diskussion um die Kanzlerkandidatur
geführt. Während Lafontaine in der Partei beliebter ist, werden Schröder bei
der Wahl größere Chancen eingeräumt. Der endgültige Kandidat soll jedoch erst
im März benannt werden.
Verschiedene Wirtschaftwissenschaftler klagen vor dem Bundesverfassungsgericht,
weil der Euro ohne Volksbefragung eingeführt werden soll.
Die Koalitionskrise in NRW um den Bau von Garzweiler II wird als Test
für eine rot-grüne Regierungskoaliton in Bonn gesehen - die Grünen entscheiden
sich für einen Verbleib in der Koalition.
Es werden erneut Vorwürfe an die Adresse der Bundeswehr wegen rechtsradikaler
Tendenzen laut.
Februar
Im niedersächsischen Wahlkampf wird Ministerpräsident Schröder von der
Oppositon scharf angegriffen - er habe das Land in den Bankrott geführt, einen
verfassungswidrigen Haushalt aufgestellt und die Kassen der Kommunen geplündert.
Die SPD stellt ihren Slogan "Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit" vor, der
innerhalb des linken Parteiflügels auf wenig Zustimmung stößt; die Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit sei der Schlüssel zur Lösung fast aller Probleme. Die Frage
nach dem Kanzlerkandidaten wird von der SPD öffentlich geführt. Von der
Landtagswahl in Niedersachsen wird ein klares Votum für einen Politikwechsel
in Bonn erwartet - die SPD will nun direkt am Wahlabend den Kanzlerkandidaten
küren.
Die Union hofft, von den innerparteilichen Differenzen um die Kanzlerkandidatur
ebenso wie von der Landtagswahl in Niedersachsen zu profitieren. Die FDP will
bei der Bundestagswahl wieder die "dritte Kraft" in Deutschland werden. Der
DGB gerät wegen der Kampagne "Für Arbeit und soziale Gerechtigkeit" zunehmend
in die Kritik der Öffentlichkeit - zu deutlich habe sich der DGB auf die Seite
der SPD gestellt und damit unzulässig in den Wahlkampf eingegriffen. Beim politischen
Aschermittwoch wirft Waigel (CSU) der FDP die Untergrabung der Koalition vor
(Lauschangriff), Grünen-Vorsitzender Fischer warnt die SPD vor einem Pakt mit
der Union und Lafontaine ruft zu einem kompromißlosen Kampf um den Sieg in Bonn
auf.
Die Mehrheit der Bürger glaubt an einen Regierungswechsel im September (ZDF-
Politikbarometer vom 13. Februar: CDU/CSU 34%, SPD 44%, FDP 4%, Grüne 12% und
PDS 3%).
März
Mit der Landtagswahl in Niedersachsen beginnt das Wahljahr 1998. Die
SPD nutzt den Wahlkampf kurzfristig zur Wahl des Kanzlerkandidaten - die Sozialdemokraten
mit Spitzenkandidat Gerhard Schröder gehen mit 47,9% (1994: 44,3%) aus dieser
Wahl als klarer Sieger hervor und können damit erneut allein regieren. Die CDU
sackt mit dem Spitzenkandidaten Wulff 35,9% (1994: 36,4%) auf einen historischen
Tiefstand; die Grünen erreichen 7% (1994: 7,4%); die FDP verpasst mit 4,9% (1994:
4,4%) den Einzug in den Landtag - große Teile der Bevölkerung wählten einen
nieders. Kanzlerkandidaten. Da sich auch Bundeskanzler Helmut Kohl massiv am
Wahlkampf beteiligte, wird eine Diskussion über den Spitzenkandidaten der CDU
öffentlich geführt - trotz der deutlichen Wahlschlappe hält die CDU an ihrem
Spitzenkandidaten fest.
Der Parteitag der Grünen in Magdeburg belebt den bevorstehenden Bundestagswahlkampf
neu. Ihre Benzinpreisforderung von 5 DM/Liter stößt bei Regierung und Opposition
auf heftige Kritik. Schröder nennt die Grünen eine "Gefahr für den Machtwechsel".
Die Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein bestätigen den Aufwärtstrend
der SPD mit 42,4% (1994: 39,5%). Bei der CDU ist mit 39,1% (1994: 37,5%) ebenfalls
ein leichter Aufwärtstrend zu erkennen. Die Grünen mußten mit 6,8% (1994: 10,3%)
erhebliche Verluste hinnehmen. Die FDP legte mit 4,9% (1994: 4,4%) leicht zu.
Bei der Bewertung der Wahl sprach CDU-Generalsekretär Hintze von einem "Ende
des rot-grünen Höhenflugs". SPD-Chef Lafontaine dagegen äußert sich aufgrund
des Wahlergebnisses zuversichtlich über den Ausgang der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt
im April. Das schlechte Abschneiden der Grünen wird auf die Benzinpreisdebatte
zurückgeführt.
April
Im niedersächsischen Wahlkampf wird Ministerpräsident Schröder von der
Oppositon scharf angegriffen - er habe das Land in den Bankrott geführt, einen
verfassungswidrigen Haushalt aufgestellt und die Kassen der Kommunen geplündert.
Die SPD stellt ihren Slogan "Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit" vor, der
innerhalb des linken Parteiflügels auf wenig Zustimmung stößt; die Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit sei der Schlüssel zur Lösung fast aller Probleme. Die Frage
nach dem Kanzlerkandidaten wird von der SPD öffentlich geführt. Von der
Landtagswahl in Niedersachsen wird ein klares Votum für einen Politikwechsel
in Bonn erwartet - die SPD will nun direkt am Wahlabend den Kanzlerkandidaten
küren.
Die Union hofft, von den innerparteilichen Differenzen um die Kanzlerkandidatur
ebenso wie von der Landtagswahl in Niedersachsen zu profitieren. Die FDP will
bei der Bundestagswahl wieder die "dritte Kraft" in Deutschland werden. Der
DGB gerät wegen der Kampagne "Für Arbeit und soziale Gerechtigkeit" zunehmend
in die Kritik der Öffentlichkeit - zu deutlich habe sich der DGB auf die Seite
der SPD gestellt und damit unzulässig in den Wahlkampf eingegriffen. Beim politischen
Aschermittwoch wirft Waigel (CSU) der FDP die Untergrabung der Koalition vor
(Lauschangriff), Grünen-Vorsitzender Fischer warnt die SPD vor einem Pakt mit
der Union und Lafontaine ruft zu einem kompromißlosen Kampf um den Sieg in Bonn
auf.
Die Mehrheit der Bürger glaubt an einen Regierungswechsel im September (ZDF-
Politikbarometer vom 13. Februar: CDU/CSU 34%, SPD 44%, FDP 4%, Grüne 12% und
PDS 3%).
Mai
In Brüssel beschließen die Staats- und Regierungschefs Europas die Währungsunion.
Wim Duisenberg wird nach harten Verhandlungen (insbesondere zwischen
Deutschland und Frankreich) Präsident der europäischen Zentralbank.
Die Fraktionen des Bundestages verabschieden ein neues Verfahren für den
Umgang mit Überhangmandaten: Beim Ausscheiden direkt gewählter Abgeordneter
in "Überhangländern" soll es jetzt keinen Nachrücker von der Landesliste mehr
geben, bis die Überhangmandate abgeschmolzen sind (das Verfahren findet bei
der Bundestagswahl 1998 noch keine Anwendung).
Bundesinnenminister Manfred Kanther legt den Verfassungsschutzbericht für
das Jahr 1997 vor: aufgezeichnet wird ein Anstieg rechts- und linksextremer
Straftaten. Ein besonderes Mobilisierungspotential der rechtsextremen Szene
hat der Verfassungsschutz in den neuen Ländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg
und Sachsen beobachtet. Der Potsdamer Kriminologe Bernd Wagner bezeichnet Rechtsextremismus
als die mittlerweile "dominante soziale Bewegung" unter Jugendlichen im Osten.
Die Kriminalstatistik zeigt einen Rückgang der Gesamtzahl von begangenen Straftaten
um 0,9%. Zuwächse in der Kriminalität sind allerdings bei Kinder und Jugendlichen
festzustellen.
Während die CDU weiter an ihrem "Zukunftsprogramm" arbeitet, glaubt eine deutliche
Mehrheit der Unions-Mitglieder nicht mehr an einen Wahlsieg von CDU/CSU. 36
% der von Forsa Befragten beurteilen die Chancen als gut, 62 % dagegen als schlecht.
Nur 40 % der CDU-Mitglieder glauben, daß Helmut Kohl der nächste Bundeskanzler
wird.
Beim Gipfeltreffen der führenden Industrienationen (G8) betonen die
Staats- und Regierungschefs ihr Vertrauen in den Euro als eine neue, starke
Währung. Als wichtigste Aufgaben an der Schwelle zum 21. Jahrhundert erklären
sie ein schnelles Wirtschaftswachstum der Entwicklungsländer, die Schaffung
von Arbeitsplätzen und den Kampf gegen das internationale Verbrechen.
Auf dem Parteitag der CDU in Bremen ruft Bundeskanzler Helmut Kohl zur
Geschlossenheit auf. Er wirft der SPD eine Blockade der Steuerreform vor und
stellt die Erfolge der Koalitionsregierung heraus, die eine Trendwende auf dem
Arbeitsmarkt herbeigeführt habe. Insbesondere die Regierungsbildung in Sachsen-Anhalt
(SPD-Regierung mit Duldung durch die PDS) wird heftig kritisiert.
Umweltministerin Angela Merkel gerät durch die Affäre um die radioaktive
Belastung der Castor-Transporte unter Druck - Grüne fordern den Rücktritt
der Ministerin. Merkel erfüllt die Forderungen aus Umweltverbänden und Politik
und setzt alle Castor-Transporte aus bis "sichergestellt ist, dass sich diese
Kontaminationen nicht wiederholen". Kohl bekennt sich zu der Umweltminsiterin.
Im Herbst dürfen erstmals in Hessen16-jährige Jugendliche an die Urne. Damit
erhalten 100.000 junge Frauen und Männer zusätzlich das aktive Stimmrecht.
Nach zwei Jahrzehnten an der Spitze der nordrhein-westfälischen Landesregierung
hat Ministerpräsident Johannes Rau den Rückzug von seinen Ämtern
angetreten. Bei einem Sonderparteitag werden Wolfgang Clement für das Amt der
Ministerpräsidenten und Franz Müntefering als Vorsitzender des Landesverbandes
der SPD mit großer Mehrheit gewählt.
Helmut Kohl entlässt seinen bisherigen Regierungssprecher Peter Hausmann
ohne Angabe von Gründen und ersetzt ihn durch Otto Hauser. Zudem nimmt
er den Ex- Bild-Chefredakteur und Medienexperten Hans-Hermann Tiedje als politischen
Berater in sein Wahlkampfteam auf. Er soll sich um die Koordinaton der Pressearbeit
zwischen Kanzleramt und Parteizentrale kümmern.
Juni
Der neue Regierungssprecher Otto Hauser wird auch aus den eigenen Reihen kritisiert. Er hatte die Ostdeutschen davor gewarnt, durch die Wahl extremistischer Parteien die Solidarität mit den alten Bundesländern zu gefährden und vergleicht die PDS mit der NSDAP. Die Grünen und Mitglieder der SPD fordern seinen Rücktritt.
Der Streit um die Beitrittsbedingungen Tschechiens zur europäischen Union führt zu Spannungen zwischen der CSU und Außenminister Kinkel. Dieser wurde auf dem Treffen der Sudetendeutschen kritisiert, da er den Beitritt nicht an eine Entschuldigung Tschechiens für die Vertreibung Deutscher knüpfen wollte.
Spitzenvertreter der Wirtschaft erteilen dem von der SPD geplanten Bündnis für Arbeit eine klare Absage. Laut Abeitgeberpräsident Dieter Hundt könne ein Sinken der Arbeitslosenzahlen nur durch den Eingriff in soziale Besitzstände erreicht werden.
Guido Westerwelle (FDP) stößt erneut eine Diskussion um die Nachfolge Kohls an. Für dieses Verhalten erhält er Beifall von der Opposition und Kritik aus den eigenen Reihen.
Im Mai ist die Zahl der Arbeitslosen um 223.400 gesunken, was aber laut Jagoda kein Grund zur Entwarnung sein sollte. Hauptgrund für die positive Entwicklung sei der übliche Frühjahrsaufschwung.
Beim EU-Gipfel in Cardiff wurden auch die steigenden Arbeitslosenzahlen thematisiert (insgesamt 18 mill. Arbeitslose in der EU). Ein weiteres Thema des Gipfels war die anhaltende Krise auf den Finanzmärkten Südostasiens und die Befürchtung einer Ausbreitung auf Europa.
Auf ihrem Parteitag in Leipzig hat sich die FDP festgelegt: Sie strebt eine Neuauflage der Koalition mit der CDU/CSU an.
Die Koalition beschließt neue Rüstungsprojekte (Eurofighter, Fregatten, Kampfhubschrauber), die erst ca. im Jahr 2000 realisiert und finanziert werden.
Gerhard Schröder hat einen Mann aus der Wirtschaft für sein Schattenkabinett gewinnen können. Der für die Position des Wirtschaftsministers vorgesehene "Euro-Unternehmer des Jahres 1990" Jost Stollmann führte bis 1997 das Erfolgsunternehmen Compunet. Unbeliebt machte sich Stollmann in der Partei, als er öffentlich bekannte, das Wahlprogramm der SPD nicht zu kennen. Auch die Gewerkschaften kritisieren Schröders Personalvorschlag.
Ende Juni sind immer noch erhebliche Teile der Bevölkerung unentschieden, welcher Partei sie am 27. September ihr Vertrauen schenken sollen. Gut die Hälfte jener, die "bestimmt" oder "vielleicht" zur Wahl gehen, hat sich laut Spiegel-Umfrage noch für keine Partei entschieden. Für 9 Prozent der Jungwähler steht schon fest, dass sie nicht zur Wahl gehen werden
Juli
Die Nachricht, Roman Herzog sei nun doch bereit, erneut für das Amt
des Bundespräsidenten zu kandidieren, wird von Union und FDP begrüßt. Die Opposition
kritisiert diesen Schritt als aktiven Eingriff in den Wahlkampf
Der Landesgruppenchef der CSU, Glos, fordert auf der Klausurtagung der CSU,
Ausländer sollten verpflichtet werden, Deutsch zu lernen, um sich in "unsere"
Werteordnung einzufügen. Des weiteren fordert er, der Zuzug von Ausländern solle
so eng wie möglich begrenzt werden. In diesem Zusammenhang wirft Bundestagsvizepräsident
Hirsch (FDP) der CSU vor, aus wahltaktischen Gründen Ausländerfeindlichkeit
zu schüren.
Die Grünen-Abgeordnete Altmann fordert eine Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h
auf deutschen Autobahnen und erklärt dies zum wichtigsten Ziel eventueller Koalitionsverhandlungen
mit der SPD. Auch der Spitzenpolitiker der Grünen, Joschka Fischer, bekräftigt
das Ziel genereller Tempolimits als "Selbstverständlichkeit".
Der Bundeswahlausschuss hat von 64 Parteien 43 zur Teilnahme an der
Bundestagswahl zugelassen. Dies ist die höchste Zahl an Zulassungen seit 1949.
Arbeitgeberpräsident Hundt fordert von der zukünftigen Regierung eine Steuerreform,
um zu verhindern, dass die eingetretene ökonomische Aufwärtsbewegung einen "Knick
bekomme". Er verdeutlicht, dass es der deutschen Wirtschaft möglich sei, mit
jeder Regierung klar zu kommen.
Politikwissenschaftler der Freien Universität Berlin stellen eine Studie
zum Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland vor, nach der etwa
13 Prozent der Deutschen für rechtsextrem gehalten werden. Diese fänden sich
aber nicht alle in der Wählerschaft der "klassischen" rechtsextremen Parteien
wieder. "Sozioökonomische Fremdenfeindlichkeit" sei im Westen Deutschlands (12%)
deutlich weniger ausgeprägt vorhanden als im Osten (17%), obwohl der Ausländeranteil
in den neuen Bundesländern mit knapp 2% deutlich unter dem Bundesdurchschnitt
(9%) liegt. Zum Vergleich :Hamburg hat einen Ausländeranteil von 18.2% und Thüringen
1,2%.
Helmut Kohls Wahlkampftour durch Badeorte an der Ostsee stößt auf ein
gemischtes Echo. Kohl wird Belanglosigkeit in der Wahl seiner Themen sowie eine
ausschließliche Konzentration des Wahlkampfes auf seine Person vorgeworfen.
Im Wahlkampf werben sowohl Union als nun auch die SPD mit Programmen
zur inneren Sicherheit. Die Vorstellung des SPD Wahlprogramms zur inneren Sicherheit
erfolgte einen Tag bevor die CDU ihr Programm präsentierte; die CDU/CSU wirft
nun der SPD vor, "abgeschrieben" zu haben, und Wahlbetrug zu begehen. Im Rahmen
des Programms zur inneren Sicherheit fordern CDU und CSU, jugendliche Straftäter
wesentlich härter zu bestrafen und die Höchststrafe von 10 auf 15 Jahre heraufzusetzen,
um den "starken Rechtsstaat" zu erhalten. SPD-Schatteninnenminister Schily hält
diese Maßnahme für "monströs" und betont, das SPD Programm sei ausgewogener,
da es nicht nur auf Repression, sondern auch auf Prävention setze. FDP und Grüne
kritisieren den "Wettlauf um den Sheriff-Stern" (Kerstin Müller, Grüne) und
wollen eher bereits bestehende Gesetze angewendet sehen.
Die neuen Arbeitslosenzahlen für Juni werden von Union und Opposition
unterschiedlich interpretiert. Während der Sprecher der Bundesregierung, Hauser
(CDU), eine deutliche Trendwende auf dem Arbeitsmarkt sowie gute Aussichten
für den Osten zu erkennen glaubt, warnen Opposition und Gewerkschaft vehement
vor einer Entwarnung durch eine Fehlinterpretation der neuen Zahlen.
Von Seiten der Union und der Wirtschaft wird zunehmend Kritik an Schröders
Äußerungen zum wirtschaftlichen Aufschwung laut. Schröder hatte diesen direkt
mit seiner Kandidatur in Verbindung gebracht. Franz Müntefering (SPD) hält eine
Kooperation der SPD mit der PDS auf Länderebene für möglich. Bundespräsident
Roman Herzog ruft die Parteien dazu auf, im Wahlkampf mehr auf Argumente und
weniger auf "Medienspektakel" zu setzen. Des weiteren beklagt er, dass es den
Ost- und Westdeutschen immer noch an ausreichendem Verständnis füreinander fehle.
August
Auch in den Sommerferien geht der Wahlkampf weiter. Die vom Forsa-Institut
gestellte "Sonntagsfrage" ergab sechs Wochen vor der Wahl, dass sich 43% der
Bundesbürger für die SPD, 37% für die CDU, 6% für Bündnis90/Grüne, jeweils 4%
für F.D.P., rechtsradikale Parteien und PDS entscheiden würden, wenn am nächsten
Sonntag Bundestagswahl wäre.
Trotz einer neuen Diskussion um seine Belastbarkeit soll Wolfgang Schäuble
die Nummer Eins bleiben, wenn es um die Nachfolge Kohls geht. Kohl selbst
bezeichnet Schäuble als "Glücksfall" für die Union und wünscht sich ihn als
Nachfolger, gleichzeitig betont er aber auch, dass er im Falle eines Wahlsieges
der bestehenden Koalition für weitere vier Jahre Bundeskanzler bleiben will.
Damit möchte er die Diskussion um einen vorzeitigen Kanzlerwechsel vor Ablauf
der vier Jahre beenden, die F.D.P. beharrt aber auf einen Termin für die personellen
Wechsel. Im Falle einer Wahlniederlage der CDU will Helmut Kohl jedoch seinen
Parteivorsitz aufgeben.
Entgegen den Erwartungen der Union liegt die Arbeitslosigkeit in Deutschland
weiter deutlich über dem Vier-Millionen-Sockel, diese soll aber laut Bundeskanzler
Kohl im Herbst noch unter 4% sinken. Nach Ansicht des Präsidenten des bayrischen
Landesarbeitsamtes, Wanka, bestätigen die neuen Arbeitslosenzahlen für Juli
die Trendwende auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Die Zahl der Erwerbslosen habe
zwar im Vergleich zu Juni absolut zugenommen, dies sei aber nur eine zu Beginn
der Urlaubszeit übliche Entwicklung.
Bundesarbeitsminister Blüm (CDU) fordert erneut die Einführung des sogenannten
Kombilohns gefordert, um somit Anreize für die Annahme gering bezahlter
Jobs zu geben und die Arbeitslosigkeit zu senken. Einwände gegen dieses Modell
erheben SPD, F.D.P. und Grüne.
Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Jagoda, gab die neuen Ausbildungszahlen
bekannt, nach denen allein rein rechnerisch noch 20.000-25.000 Lehrstellen
fehlen, um einen Ausgleich von Angebot und Nachfrage zu bekommen. Im Vergleich
zum Vorjahr seien bundesweit bisher 0,7% weniger Stellen gemeldet, während die
Zahl der Bewerber um 3,1% zugenommen hat.
Seit dem Wahlergebnis von fast 13% in Sachsen-Anhalt gelten die rechtsextremen
Parteien DVU, NPD und Republikaner als "Gewinnerparteien" im Osten Deutschlands,
was sich auch in ihrem selbstbewußten Auftreten und verschiedenen Aufmärschen
vor den Landesparlamenten widerspiegelt. Wahlforscher schätzen das Wählerpotential
der rechtsextremen Parteien im Osten auf zwischen 10 und 18%, so dass sich die
Wahl durchaus auch im Osten Deutschlands entscheiden könnte.
Nach wie vor herrscht eine kontroverse Diskussion darüber, wie Schröder
regieren soll, falls die SPD die Wahl gewinnt. Denkmodelle sind rot-grün
und eine Große Koalition. Besonders letzteres wird von der CDU nun
nicht mehr ganz konsequent ausgeschlossen. In den letzten Wochen vor der Bundestagswahl
beschwört F.D.P.-Chef Gerhardt die Wähler erneut, "ihre entscheidende Zweitstimme
bei dieser Richtungswahl" den Liberalen zu geben. Bundeskanzler Helmut Kohl
lehnt diese Zweitstimmenkampagne der F.D.P. ab, denn die CDU habe keine Stimme
zu verschenken.
Laut der Bilanz des Naturschutzbundes habe eine Bundesregierung seit Beginn
der staatlichen Umweltpolitik noch nie so wenig für den Umweltschutz
getan wie unter Kohl und Merkel. Laut dem Präsidenten des Naturschutzbundes
habe die Regierung im Koalitionsvertrag bereits wenig versprochen, davon aber
auch nichts gehalten.
Im Falle eines Wahlsieges verkündet Schröder im Namen der SPD sein 100 Tage
Programm, in dem er zum Beispiel die Rentenkürzungen der Bundesregierung
zurücknehmen will. Des weiteren plant Schröder den endgültigen Ausstieg aus
der Kernenergie, der jedoch nicht abrupt stattfinden kann, vielmehr solle
mit den Energie-Versorgungs-Unternehmen (EVU) ein Konsens hinsichtlich der Restlaufzeiten
für die Kernkraftwerke gefunden werden .
PDS-Chef Gysi ist optimistisch, dass seine Partei bei der kommenden
Bundestagswahl nicht nur über Direktmandate in den Bundestag einziehen wird.
Er hält Einschätzungen des Allensbach-Institutes für realistisch, nach denen
die PDS mit über 5% der Stimmen als Fraktion im Bundestag vertreten sein wird.
September
CDU-Generalsekretär Peter Hintze erklärt in Bonn, durch die aktuellen
Krisen in Rußland und im Kosovo habe der Wahlkampf ein neues Thema bekommen,
das die CDU verstärkt in den Mittelpunkt des Wahlkampfs rücken will ("Sicherheit
statt Risiko").
Die Vorstandssprecherin der Grünen, Gunda Röstel, sowie ihr Vorstandskollege
Jürgen Trittin machen den Einstieg in eine ökologisch-soziale Steuerreform
sowie den Ausstieg aus der Atomenergie zur Bedingung für eine rot-grüne Koalition
nach der Bundestagswahl am 27. September. Des weiteren fordern die Grünen, die
Kernkraftwerke "schnellstmöglich abzuschalten", sowie einen Verzicht auf Wiederaufbereitung
auch im Ausland, den Stop aller strahlenden Atomtransporte, ein neues Bündnis
für Arbeit, eine Steuerreform zur Entlastung geringverdienender und Familien
und die erleichterte Einbürgerung für Ausländer.
Am fünfzigsten Jahrestag der konstituierenden Sitzung des parlamentarischen
Rates ruft Bundespräsident Roman Herzog zu mehr Engagement in der
Demokratie auf. Das mit geringstem Aufwand verbundene Engagement sei die
Teilnahme an den demokratischen Wahlen. Nicht zu wählen sei "verantwortungslos".
Das Land Berlin prüft Rechtsmittel gegen das Urteil, wonach die Einstufung
der Republikaner als rechtsextreme Partei unzulässig ist. In anderen
Bundesländern werden die Republikaner trotz des Berliner Urteils weiterhin überwacht.
Laut Emnid sind 53% der Wählerinnen und Wähler noch unentschlossen. Diese Zahl
ist jedoch unter Experten umstritten. Als sicher gilt jedoch, das die Parteibindungen
der Deutschen generell geringer sind.
Anläßlich der Bundestagsdebatte zum Haushaltentwurf der Bundesregierung
am 03. September kommt es zum einzigen Rededuell zwischen Kanzler Kohl und seinem
Herausforderer Gerhard Schröder. Kohl nennt seinen Kontrahenten Schröder "nicht
regierungsfähig" und erklärt, Deutschland brauche angesichts künftiger Herausforderungen
eine "beständige und klare" Politik, wie er sie betrieben habe. Schröder nennt
Kohl dagegen einen "Kanzler der Arbeitslosigkeit", der soziale Ungerechtigkeiten
ignoriere.
Zwei Wochen vor der Bundestagswahl (13. September) findet in Bayern die
Landtagswahl statt und wird im Vorfeld von allen Parteien als Test für
die Bundestagswahl gewertet. Das Ergebnis: CSU 52,9% (1994: 52,8%) SPD 28,7%
(1994: 30,8) Bündnis 90/Die Grünen 5,7% (1994: 6,1%) Rep. 3,6% FW 3,7% FDP 1,7%
(1994: 2,8%).Damit wird die CSU erneut unter Edmund Stoiber als Ministerpräsidenten
allein in München regieren. Der klare Sieg der CSU wird von der CDU als "Signal
für Bonn" bezeichnet und soll dem Wahlkampf der Union neuen Schwung geben. Die
SPD, nicht zuletzt auf Grund des Engagements von Kanzlerkandidat Schröder vom
Ergebnis enttäuscht, sieht in der Wahl allein eine Bestätigung der erfolgreichen
CSU-Landespolitik und keine Entscheidung über die Bundespolitik. Die SPD geht
trotz der Niederlage optimistisch in die letzten Wochen des Bundestagswahlkampfes.
Die Grünen erreichen wiederum den Einzug in den Landtag und sehen ihre Wahlkampfstrategie
bestätigt. Die FDP verpaßt erneut deutlich den Einzug in den Landtag, sieht
darin allerdings ebenfalls keinen Test für Bonn - in Bayern werde die FDP als
wirtschaftspolitischer Partner der Union nicht gebraucht. Dass die rechtsradikalen
Parteien den Einzug in den Landtag nicht geschafft haben, wird von allen Parteien
als positiv herausgestellt.
Laut einer Umfrage des Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrums Berlin
fühlen sich 65% der für den Sozialreport Befragten weder als "richtige" Bundesbürger.
17% fühlen sich als "richtige" Bundesbürger, während 11% noch der DDR nachtrauern.
Es läßt sich feststellen, dass sich das Zusammenwachsen unter jungen Menschen
wesentlich schneller vollzieht, als unter den älteren. SPD-Kanzlerkandidat Schröder
erklärt, eine große Koalition sei seiner Ansicht nach auch ohne eine Beteiligung
der CSU denkbar. Diese Spekulationen bezeichnet Kanzler Kohl postwendend als
"Quatsch", CDU und CSU seien sich einig, dass es keine Große Koalition geben
werde. Eine Tolerierung durch die PDS in den neuen Ländern akzeptiert Schröder
inzwischen. Auf Bundesebene schließt er jedoch eine Tolerierung oder gar eine
Koaltion zwischen SPD und PDS kategorisch aus.
Der wirtschaftliche Aufschwung in Deutschland verliert an Fahrt. Nach
Berechnungen des Statistischen Bundesamtes erhöhte sich das Bruttoinlandsprodukt
im zweiten Quartal 1998 im Vergleich zum zweiten Quartal 1997 real um 1,7 %.
Im ersten Quartal 1998 betrug das Wachstum noch 4,3 %. Saison- und kalenderbereinigt
(Verfahren der Deutschen Bundesbank) stieg das Bruttoinlandsprodukt im zweiten
Quartal um 0,1 % gegenüber dem Vorquartal; es ist allerdings zu berücksichtigen,
dass zwei Arbeitstage weniger zur Verfügung standen als im zweiten Quartal des
Vorjahres. Während die SPD diese Zahlen als Beleg eines mangelnden Fundaments
für den Aufschwung wertet, sieht die Regierung darin eine solide Basis für den
weiteren Konjunkturverlauf.
Claudia Nolte verkündet bei einer Wahlveranstaltung im thüringischen
Suhl, sie trete energisch für eine zusätzliche Erhöhung der Mehrwertsteuer ein,
um Steuerentlastungen für Arbeitnehmer in niedrigen Lohngruppen, besonders aber
für Familien auszugleichen. Dies geschah offensichtlich nicht in Abstimmung
mit der Parteispitze, die das Thema "Mehrwertsteuererhöhung" in diesem Wahlkampf
nicht vorgesehen hat. Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) konterkariert sie
daher sofort öffentlich, Bundeskanzler Helmut Kohl ist entsetzt und warnt vor
laufenden Kameras Kabinettsmitglieder, über Steuererhöhungen zu philosophieren.
Der Vorsprung der SPD vor der Union ist eine Woche vor der Bundestagswahl auf
zwei Prozentpunkte geschrumpft. Dies ist das Ergebnis der aktuellen Umfragen
der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen für das ZDF-"Politbarometer" und
des Bielefelder Emnid-Instituts. Demnach liegt die CDU/CSU bei 39 Prozent, die
SPD bei 41. Bei der Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen, die in der vergangenen
Woche noch 41 Prozent für die SPD ermittelt hatte, fallen die Sozialdemokraten
sogar auf 39,5 Prozent zurück. Allerdings sieht die Forschungsgruppe die Union
nur bei 37,5 Prozent. Die Werte für die kleinen Parteien schwanken - für die
FDP liegen sie bei etwa fünf Prozent, für die Grünen zwischen sechs und acht
und für die PDS zwischen drei und fünf Prozent. Die SPD wird laut Kanzlerkandidat
Schröder auch als "Juniorpartner" in eine Große Koalition eintreten. Schröder
kündigt an, er selbst werde im Falle einer Großen Koalition unter Führung der
Union Ministerpräsident in Niedersachsen bleiben. Gleichzeitig verteidigt er
die Ernennung des parteilosen Unternehmers Stollmann zu seinem Schattenwirtschaftsminister.
Mit Stollmann als "Praktiker" werde frischer Wind in die deutsche Politik kommen.
Die rechtsradikalen Parteien Deutsche Volksunion, Nationaldemokratische Partei
und Republikaner gehen davon aus, bei der Landtagswahl am 27. September in den
Landtag von Mecklenburg-Vorpommern einzuziehen. Über das tatsächliche Wählerpotential
der Rechtsextremisten gibt es nur wenig aussagekräftige Mutmaßungen. Experten
verweisen darauf, dass Umfrageergebnissen beträchtliche Unsicherheit anhaftet.
Denn wer DVU, NPD oder Rep auf seinem Stimmzettel ankreuzen will, bekennt sich
nur selten dazu. Schätzungen über den Stimmenanteil der Rechten reichen von
vier bis zu 20 Prozent. Die Möglichkeit, in den Bundestag einzuziehen, wäre
sicherlich höher, hätten sich die untereinander zerstrittenen rechtsradikalen
Parteien, wie es in der Vorphase des Wahlkampfs geplant war, zu einem rechten
Bündnis zusammengeschlossen.
Am Sonntag, den 27. September 1998 sind rund 60,5 Millionen Deutsche zur Wahl
des 14. Deutschen Bundestages aufgerufen. Insgesamt bewirbt sich die Rekordzahl
von 5062 Kandidaten um die 656 Sitze. 328 Abgeordnete werden mit der Erststimme
in den jeweiligen Wahlkreisen direkt gewählt, 328 weitere per Zweitstimme über
die Landeslisten. Neben den bereits bisher im Bundestag vertretenen Parteien
werben 27 weitere mit Landeslisten um die Gunst der Wähler. Insgesamt werden
am Wahltag bundesweit 600.000 Wahlhelfer ehrenamtlich tätig sein. 82,2% der
Wahlberechtigten wählten den 14. Deutschen Bundestag.
Bereits mit der ersten Hochrechnung am Wahlabend zeichnete sich ab, dass erstmals
durch Wahlen ein Regierungswechsel herbeigeführt wird. Die SPD errang einen
deutlichen Sieg vor der CDU (nach dem Sieg unter Willy Brandt erst das zweite
mal in der Geschichte der Bundesrepublik). Die Niederlage der CDU/CSU war in
dieser Deutlichkeit nicht erwartet worden. Das amtliche Endergebnis: SPD 40,9%
(+ 4,5 gegenüber 1994) CDU 35,1% (-6,3) Bündnis 90/Die Grünen 6,7% (-0,6%) FDP
6,2% (-0,7%) PDS 5,1% (+0,7) Sonstige 6,0%. Die neue Sitzverteilung im Bundestag
sieht wie folgt aus: die SPD erhält 298 Sitze, CDU 198, CSU 47, Bündnis 90/Die
Grünen 47, FDP 43 und die PDS 36 Sitze. Dies ergibt eine Abgeordnetenzahl von
656 zzgl. 13 Überhangmandaten, also insgesammt 669 Abgeordnete.
Bereits am Wahlabend kommt es bei der CDU zu personellen Veränderungen.
Noch-Bundeskanzler Helmut Kohl verkündet, er werde nach der deutlichen Niederlage
seiner Partei und dem Ende der bisherigen Regierungs-Koalition den Vorsitz der
CDU niederlegen. In den folgenden Tagen löst das Ergebnis weitere personelle
Veränderungen aus. Öffentlich wird über den Parteivorsitz diskutiert, Wolfgang
Schäuble und Volker Rühe bringen sich in Position; junge CDU-Politiker (insbesondere
Ole von Beust und Christian Wulff) fordern einen Generationen-Wechsel. Generalsekretär
Hintze wird aus eigenen Reihen großer Anteil am schlechten Ergebnis der CDU/CSU
zugeschrieben - die CDU/CSU habe sozialpolitische Themen in den Hintergrund
gestellt, so Heiner Geißler - der Rücktritt von Hintze folgte wenige Tage später.
Auch der ehemalige Finanzminister Theo Waigel zieht Konsequenzen und legt den
Parteivorsitz der CSU nieder.
Die FDP stellt sich bereits am Wahlabend auf die ungewohnte Rolle einer
Oppositions-Partei ein. Parteivorsitzender Wolfgang Gerhard verkündet wenige
Tage später, dass er für das Amt des Fraktionsvorsitzenden kandidieren werde,
um so eine effektive Oppositionsarbeit zu gewährleisten. Das Bestreben von Jürgen
Möllemann, die Option für eine Erneuerung der sozial-liberalen Koalition auch
personell zu manifestieren, scheitert.
Zu den Siegern zählt sich die PDS, die mit 5,1% erstmals den Fraktionsstatus
im Deutschen Bundestag erreicht. Die PDS werde auch unter einer rot-grünen Regierungskoalition
ihre Oppositionsrolle ausfüllen, indem sie sich als sozialistische Alternative
zur SPD definiere, so Gregor Gysi. In einer neuen bundespolitischen Rolle befinden
sich Bündnis‘90/Die Grünen. Nachdem sie sich in einigen Ländern an der Regierung
beteiligten, haben sie erstmals die Option auf eine Regierungsbeteiligung auf
Bundesebene, auch wenn sie gegenüber der Bundestagswahl 1994 leichte Verluste
(-0,6%) hinnehmen mußten. Bereits im Vorfeld der Bundestagswahl wurde deutlich,
dass diese neue Situation auch organisatorische Veränderung hinsichtlich der
Entscheidungsstruktur innerhalb der Partei nach sich ziehen werde. Neben Joschka
Fischer sprach sich auch Jürgen Trittin für eine effektivere Parteistruktur
aus.
Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine lassen sich am Wahlabend als triumphale
Sieger von der SPD feiern. Beide zeichnen die Geschlossenheit der SPD
während des Wahlkampfes für den SPD-Sieg verantwortlich. Erstmals ist die SPD
in den neuen Bundesländern stärkste politische Kraft. Bereits kurz nach den
ersten Hochrechnungen trafen Glückwunsch-Telegramme von Bill Clinton, Lionel
Jospin und Tony Blair ein. Insbesondere in Frankreich und Großbritannien wird
vom Regierungswechsel neuer Schwung für die Europa-Politik erwartet, auch wenn
Gerhard Schröder zunächst die größten Herausforderungen in der Innenpolitik
sieht. Mit dem deutlichen Wahlsieg im Rücken geht die SPD gestärkt in die Koaltionsverhandlungen.
Nachdem sich herausstellte, dass der SPD als einzige Partei Überhangmandate
(13 Abgeordnete) zugesprochen werden, sind zunächst rot-grüne Koaltionsverhandlungen
die logische Konsequenz. Bereits in der Wahlnacht trafen sich die Spitzen der
SPD mit denen des geschwächten Junior-Partners Bündnis‘90/Die Grünen zu ersten
Gesprächen über die Bildung einer neuen Regierung.
Gleichzeitig mit der Bundestagswahl fand in Mecklenburg-Vorpommern die
Landtagswahl statt. Auch hieraus geht die SPD als Siegerin hervor, die
CDU mußte wiederum eine deutliche Schlappe hinnehmen. Bernd Seite (CDU) wird
von Harald Ringstorff (SPD) als Ministerpräsident abgelöst und mit der Regierungsbeteiligung
beauftragt. Das Ergebnis: SPD 34,3% CDU 30,2% PDS 24,4% Bündnis 90/Die Grünen
2,7% FDP 1,6% Ringstorff kündigt Verhandlungen über die künftige Regierung sowohl
mit der CDU wie auch mit der PDS an. Die PDS erklärt erstmals, dass sie an einer
Regierung beteiligt werden will - die Tolerierung einer SPD-Minderheits-Regierung
reiche der PDS nicht mehr aus. Sowohl die FDP wie auch Bündnis‘90/Die Grünen
verpassen den Einzug in den Landtag - hier manifestiert sich, dass beide Parteien
in den neuen Ländern nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Oktober
Unionsfraktionschef Wolfgang Schäuble wird als neuer CDU-Vorsitzender
ins Gespräch gebracht. Der nordrhein-westfälische Landeschef der CDU,
Norbert Blüm, wird beim nächsten Parteitag im Januar 1999 nicht noch
einmal für dieses Amt kandidieren. Der scheidende Verteidigungsminister
Volker Rühe (CDU) kündigt an, es müsse nun noch weiteren Wechsel
im Präsidium geben, und um die CDU aus der Krise zu führen, müßten
vor allem jüngere Politiker stärker eingebunden werden. Ebenso wie
die CDU will sich die FDP nach dem Ausscheiden aus der Regierung in Bonn die
Partei von Grund auf modernisieren. Parteichef Wolfgang Gerhard erklärt,
dass es mit der gegenwärtigen Mischung aus programmatischer Reformbereitschaft
und alten Strukturen nicht mehr gut weitergehe. Er kündigt seiner Partei,
die außer im Bundestag nur noch in vier Landesparlamenten vertreten ist, eine
umfassende Reform an.
Beim Festakt zum achten Jahrestag der deutschen Einheit am 3. Oktober
bekundet Gerhard Schröder (in seiner Funktion als Bundesratspräsident) dem scheidenden
Bundeskanzler Helmut Kohl großen Respekt für seinen Anteil an der wiedergewonnenen
staatlichen Einheit. Es kommt ferner zu einem parteiübergreifendem Bekundung
des Willens, die innere Einheit Deutschlands energisch voranzutreiben. Im September
1998 sinken die Arbeitslosenzahlen erstmals seit fast zwei Jahren unter die
Vier-Millionen-Marke. Es sind im September 3,965 Millionen Menschen arbeitslos
gemeldet, 130100 weniger als im Vormonat. Die Bundesanstalt für Arbeit wertet
diesen Rückgang als bemerkenswert stark, doch obschon die Arbeitslosenquote
von 10,6 auf 10,3 Prozent sinkt, sei sie aber laut dem Präsidenten der Bundesanstalt,
Jagoda, immer noch "inakzeptabel hoch". Noch-Bundeskanzler Helmut Kohl begrüßt
die Entwicklung und erklärt im Namen der CDU, die von seiner Partei eingeleitete
Trendwende sei nun eingetreten. Vertreter von Gewerkschaften und SPD hingegen
sehen noch immer keine Wende auf dem Arbeitsmarkt in diesen Zahlen und drängen
weiterhin auf ein Bündnis für Arbeit.
In den zügig, konstruktiv und friedlich verlaufenden Koalitionsverhandlungen
zwischen SPD und Grünen beschließen diese trotz der gewachsenen Haushaltsrisiken
die Durchführung einer Steuerreform zur Entlastung der unteren und mittleren
Einkommen. Im Zuge der Steuerreform soll ebenfalls eine Ökosteuer eingeführt
werden, mit den dadurch aufgebrachten Mitteln sollen die Lohnnebenkosten gesenkt
werden. Die Preise für Benzin sollen 1999 in einer ersten Stufe um 6 Pfennig
je Liter teurer werden. Weiterhin sollen der Spitzensteuersatz und der Eingangssatz
gesenkt und andere Vergünstigungen für Unternehmen gestrichen werden. Das Kindergeld
soll leicht erhöht werden, und die Sozialbeiträge gesenkt.
Spitzenvertreter der deutschen Wirtschaft kritisieren die Steuerpläne
der künftigen rot-grünen Regierung. Die bisherigen Beschlüsse bedeuteten eine
massive Zusatzbelastung der Unternehmen, kritisiert der Chef des Bundesverbandes
der deutschen Industrie, (BDI), Hans-Olaf Henkel.
Beim Thema Atomkraft einigen sich die beiden Parteien auf einen schrittweisen
Ausstieg. Der Beschluß der künftigen Regierung, die Einbürgerung
von Ausländern zu erleichtern und die doppelte Staatsbürgerschaft
einzuführen, wird vom Gewerkschaftsbund und zahlreichen Ausländervertretern
begrüßt. Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU Vorsitzende im Bundestag,
Rupert Scholz, bezeichnete die Koalitionsvereinbarung jedoch als "verfassungsrechtlich
fragwürdig und integrationspolitisch verhängnisvoll". Jetzt gebe
es Einbürgerung zum "Nulltarif".
Zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist für den künftigen Bundeskanzler Gerhard
Schöder ein neues Bündnis für Arbeit ein zentrales Instrument, er will
daher schon Anfang November Arbeitgeber und Gewerkschaften zusammenrufen.
Im neuen Kabinett werden neben Gerhard Schröder als Bundeskanzler folgende
Personen als Ministerinnen und Minister vertreten sein: Joseph Fischer (Grüne),
Außenminister, Oskar Lafontaine (SPD), Finanzminister, Otto Schily (SPD), Innenminister,
Rudolf Scharpping (SPD), Verteidigungsminister, Bodo Hombach (SPD), Kanzleramtsminister,
Werner Müller, Wirtschaftsminister, Walter Riester, Arbeitsminister, Herta Däubler-Gmelin
(SPD), Justizministerin, Karl-Heinz Funke (SPD), Landwirtschaftsminister, Christine
Bergmann (SPD), Familienministerin, Franz Müntefering (SPD), Bau- und Verkehrsminister,
Andrea Fischer (Grüne), Gesundheitsministerin, Edelgard Bulmahn (SPD), Forschungsministerin,
Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD), Entwicklungshilfeministerin.
Der kurzfristige Ausstieg Jost Stollmanns aus dem Kabinett Schröders, den dieser
mit den vielfältigen Kompetenzverschiebung vom Wirtschafts- zum Finanzministerium
begründet, sorgt für Diskussionen. CDU und FDP sprechen von einem "abgekarteten
Spiel" und von "Wählertäuschung". In der SPD selber scheint man jedoch ganz
froh zu sein, statt Stollmann, der im Wahlkampf des öfteren für negative Schlagzeilen
sorgte, den politikerfahreneren Industriemanager Werner Müller als Wirtschaftsminister
gewonnen zu haben.
Der Vorstand der Grünen schlägt vor, für die "grünen" Minister in der Bundesregierung
die bis dato geltende Regel der Trennung von Amt und Mandat aufzuheben, da dies
die Stellung der Minister schwäche. Die Parteibasis ist jedoch strikt dagegen,
in die Partei dieselben strengen Hierarchiestrukturen einzubauen, wie sie in
den etablierten Parteien seit langem vorhanden sind. Der Parteitag von Bündnis
'90/Die Grünen beschließt am 24.10.1998 die Koalitionsvereinbarung mit der SPD
und vertagt die Entscheidung über die Trennung von Amt und Bundestagsmandat.
Der Parteitag der SPD am 25.10.1998 nimmt die Koalitionsvereinbarung
mit großer Mehrheit an.
Am 26.10.1998 wählt der Deutsche Bundestag Wolfgang Thierse (SPD) zum Präsidenten.
Zu den Stellvertretern Thierses werden die Abgeordneten Anke Fuchs (SPD), Rudolf
Seiters (CDU/CSU), Antje Vollmer (Bündnis 90/Die Grünen), Hermann Otto Solms
(FDP) und Petra Bläss (PDS) gewählt.
Am 27.10.1998 wählt der Deutsche Bundestag mit 351 von 666 Stimmen Gerhard
Schröder zum Bundeskanzler.
November
Schröder spricht sich in seiner ersten Regierungserklärung für eine
"Modernisierung von Staat und Gesellschaft" aus. In einer "großen gesellschaftlichen
Koalition" soll die Massenarbeitslosigkeit bekämpft werden. Mit einer modernen
Wirtschaftspolitik möchte Schröder Deutschland in eine neue Gründerzeit führen.
Zugleich kündigt er an, soziale Einschnitte der Vorgängerregierung zurückzunehmen.
Angela Merkel wird von Wolfgang Schäuble nach der Wahlniederlage zur
Generalsekretärin ernannt. Ziel Merkels ist es, die Partei auf einen neuen Kurs
zu bringen und mit der Politik wieder mehr Menschen zu erreichen. So fordert
sie: "Wir müssen die Lebenswirklichkeit der Menschen wieder voll erfassen."
Chirac und Schröder treffen sich beim deutsch-französischen Gipfel in Potsdam
und sprechen über die gemeinsame Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, während Finanzminister
Lafontaine in Rom, London und Washington seine dirigistischen Vorstellungen
über die Finanzmärkte erläutert, die besonders im westlichen Ausland für Irritationen
sorgen und stark kritisiert werden.
Umfrageergebnisse der Sonntagsfrage (Infratest-dimap) vom 28.11.1998:
CDU/CSU 37%, SPD 42%, Grüne/B90 7%, FDP 5%, PDS 5%, Rep/DVU 3%, Sonstige
1%
Dezember
Start zum Bündnis für Arbeit: Bundesregierung bezeichnet erstes Treffen
mit Arbeitgebern und Gewerkschaften als einen Erfolg. Das Bündnis für Arbeit
ist ein runder Tisch aus Vertretern der Arbeitgeber, der Gewerkschaften und
der Bundesrepublik. Die Bundesregierung versucht die Tarifpartner für einen
Beschäftigungspakt zu gewinnen mit dem Ziel, möglichst viele Arbeitsplätze zu
schaffen. Im Bündnis sollen Rahmenbedingungen für künftige Tarifauseinandersetzungen
geschaffen werden. Das Bündnis für Arbeit soll aber nicht die Tarifverhandlungen
ersetzen. Bereits die Regierung Kohl hatte 1996 versucht, auf Anregung von DGB
und IG Metall, diese gemeinsame Runde zu initiieren, das Bündnis scheiterte
aber, da die Regierung die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall kürzte und die
Gewerkschaften ausstiegen. Während Opposition und Kritiker die Gespräche zwischen
Kanzler, Gewerkschaften und Arbeitgebern als "Bündnis für Stillstand" kritisieren,
verweist die Bundesregierung auf den Erfolg beim vereinbarten Ausbildungskonsens.
So sind etwa 16000 zusätzliche Lehrstellen geschaffen worden und 163000 junge
Menschen nahmen an dem Programm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit teil.
Außenminister Fischer fordert auf der Nato-Herbsttagung eine Abschaffung
der Strategie des Atomwaffeneinsatzes.
Bei seinem ersten EU-Gipfel in Wien fordert Kanzler Schröder mehr Beitragsgerechtigkeit.
Der Bundesrat verabschiedet die ersten rot-grünen Gesetze zur Steuer-, Sozial-
und Gesundheitspolitik.
Umfrageergebnisse der Sonntagsfrage (Infratest-dimap) vom 19.12.1998:
CDU/CSU 38%, SPD 40%, Grüne/B‘90 8%, FDP 5%, PDS 5%, Rep/DVU/NPD 3%, Sonstige
1%
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