Wahlanalyse
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
 
 
 
 
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 Jugend und Politik
 

Krisensymptome

Empirische Jugendstudien aus der jüngsten Vergangenheit (Jugendwerk der Deutschen Shell 2000) legen die Vermutung nahe, dass das Verhältnis der Jugend zur Politik (und besonders zu den Parteien) in eine tiefgreifende Krise geraten ist. Antworteten in der Shell-Jugendstudie 1991 noch 57 % der Befragten 15-24jährigen auf die Frage, ob sie sich für Politik interessieren, mit "Ja", so waren es 1999 nur noch 43 % (vgl. SHELL 2000, S. 263, siehe M 06.08). Die überwiegende Mehrheit der Jugend (mit nur marginalen Unterschieden zwischen Ost und West) stimmt mit 78 % der Auffassung zu, dass die Parteien sich nicht wundern sollen, wenn sie bald keiner mehr wählt. 82 % vertreten die Meinung, dass die Bevölkerung sehr oft von den Politikern betrogen werde (vgl. FISCHER 1997, S. 311).

Zudem interessiert sich die Jugend zu wesentlich geringeren Teilen für Politik als die Erwachsenen (vgl. M 06.09). Diese Daten deuten darauf hin, dass das Misstrauen der Jugend gegenüber den Politikern, zumindest ihre Distanz zu ihnen noch größer ist als im Bevölkerungsdurchschnitt.

Bei der Bundestagswahl 1990 die Wahlbeteiligung der 21-25jährigen laut Bundeswahlstatistik um immerhin 14,5 % unter dem Bevölkerungsdurchschnitt. Für 1994 und 1998 liegt keine Bundeswahlstatistik vor, allerdings dürfte der Trend zur Wahlenthaltung ungebrochen sein (Angesichts einer von 1983 bis 1990 verdoppelten Zahl von Nichtwählern (1990: 62,9 %, das bedeutet einen Rückgang von 21,6%) scheint die junge Generation hier so etwas wie die Spitze des Eisberges zu bilden, in der die Probleme, die zu einer breiten gesellschaftlichen Abwendung von den Formen traditioneller Politik führen, kumulieren. Bei den Landtagswahlen ist der Trend noch stärker: zwischen 1972 bis 1976 und 1998 bis 2000 ist die Wahlbeteiligung Jugendlicher von 70,6 auf 48,2 % gesunken, das bedeutet einen Rückgang von 22,4 % (vgl. WIESENDAHL 2001, siehe M 01.03)

Fragt man nach dem Vertrauen Jugendlicher in politische Institutionen, so schneidet die "etablierte Politik" von Bundesregierung und Bundestag und hier insbesondere die politischen Parteien sehr schlecht ab, vor allem in Ostdeutschland. Nur 13 % der ostdeutschen Jugendlichen haben großes Vertrauen in Parteien, in Westdeutschland sind dies immerhin noch 21 %. Exekutive und judikative Organisationen wie das Bundesverfassungsgericht oder auch die Polizei und nicht etablierte Politik wie in Bürgerinitiativen schneiden bei der "Vertrauensfrage" deutlich besser ab. (Vgl. GAISER 2000, S. 17, siehe nebenstehende Tabelle "Vertrauen in Institutionen".)

Diese Tendenzen zeigen zwar eine deutlich erkennbare Politik- und Parteienverdrossenheit von Jugendlichen, dies muss jedoch nicht mit einem Rückzug aus der Gesellschaft verbunden sein, denn bei bestimmten politischen Aktivitäten außerhalb traditioneller Organisationen (wie z.B. Bürgerinitiativen, neue soziale Bewegungen) zeigen Jugendliche sehr großes Engagement. Von einer unpolitischen Jugend kann generell also nicht gesprochen werden. Zum einen ist die Zufriedenheit mit der Demokratie und das Vertrauen in Institutionen bei Älteren ähnlich niedrig, zum anderen liegt die eigentliche Differenz in der Ausprägung von Politikverdrossenheit eher zwischen den alten und den neuen Bundesländern (vgl. GAISER 2000, S. 21f.).

Insgesamt scheint es vor diesem Hintergrund sinnvoller, nicht allgemein von "Politikverdrossenheit", sondern differenzierter von zunehmender Distanz gegenüber Personen und Institutionen der traditionellen Politik (eher also von Parteienverdrossenheit) zu sprechen bei gleichzeitig vorhandener hoher Partizipationsbereitschaft. Der Soziologe Ulrich Beck spricht deshalb von einer "hochpolitischen Politikverleugnung": "Die Jugendlichen haben - endlich - auch etwas für sich entdeckt, mit dem sie die Erwachsenen zur Panik treiben können: Spaß-Spaß-Sport, Spaß-Musik, Spaß-Konsum, Spaß-Leben. Da aber Politik, so wie sie praktiziert und repräsentiert wird, mit Spaß nun wirklich nichts zu tun hat, im Gegenteil als todsicherer Spaßverderber wirkt, sind Jugendliche ihrem eigenen Selbstverständnis und dem Oberflächeneindruck nach "unpolitisch". (BECK 1997, S. 13f.)

 

BECK 1997: U. Beck: Kinder der Freiheit. Wider das Lamento über den Werteverfall, in: U. Beck (Hrsg.): Kinder der Freiheit, Frankfurt a. M. 1997, S. 9-33.
FISCHER 1997: A. Fischer: Engagement und Politik, in: Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.): Jugend '97. Zukunftsperspektiven, Gesellschaftliches Engagement, Politische Orientierungen, Opladen 1997, S. 303-341.
GAISER 2000: W. Gaiser/M. Gille/W. Krüger/ J. de Rijke: Politikverdrossenheit in Ost und West? Einstellungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 19-20/2000, S. 12-23.
SHELL 2000: Deutsche Shell (Hrsg.): Jugend 2000. 13. Shell-Jugendstudie, Band 1, Opladen 2000.
WIESENDAHL 2001: E. Wiesendahl: Keine Lust mehr auf Parteien. Zur Abwendung Jugendlicher von den Parteien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 10/2001, download unter www.bpb.de

Aspekte der Parteienverdrossenheit Jugendlicher

Die Frage nach den Ursachen für diese grundlegende Veränderung der Einstellungen sollte nicht nur mit Blick auf die Situation der Jugendlichen beantwortet werden, da das Phänomen auch gesamtgesellschaftlich bekannt ist. Der Jugendforscher Heitmeyer macht in diesem Zusammenhang zu recht auf ein "strukturelles Versagensdilemma" aufmerksam, in dem sich Politik befindet: "Obwohl die Politiker und Politikerinnen weder die wirtschaftliche noch die technologische oder soziale Entwicklung unter Kontrolle haben, beanspruchen sie Macht und Kompetenz, diese Prozesse zu steuern, und übernehmen Verantwortung, ohne sie einlösen zu können." (HEITMEYER 1993, S. 3.)

Tatsächlich liegt hier ein grundlegendes Problem nachindustrieller Gesellschaft und ihrer Beziehung zur Politik vor: Begriffe und Problemstellungen einzelner Fachgebiete (z.B. das Problem der Gentechnologie und ihrer ökonomischen Verwendung) werden angesichts des erreichten Grades an Spezialisierung so anschauungsfern und abstrakt, dass die Kluft zwischen Fachmann und Laie (und als solcher muss in den allermeisten Fällen auch der Politiker gelten!) gerade in vielen für die aktuelle Tagespolitik relevanten Bereichen vertieft wird. (Der Begriff der "nachindustriellen Gesellschaft" wird hier in Anlehnung an Daniel Bell verstanden; er umfasst im Kern das Anwachsen des Dienstleistungssektors, den Vorrang technisch qualifizierter Berufe, die Zentralität theoretischen Wissens, das Bündnis von Wissenschaft und Technologie mit einer insgesamt technokratischen Leitidee, die auf Kontrolle über natürliche und soziale Realität zielt.) (Vgl. D. Bell: Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt 1975.)

Da zugleich auch im außerwissenschaftlichen Raum der Perspektivenpluralismus nicht mehr in die Gesamtschau einer Weltinterpretation eingebunden werden kann, kommt es zu einem Auseinanderdriften verschiedener Teilbereiche der Gesellschaft, wie Gehlen feststellt: "Wenn wir astronomisch den Eindruck haben, dass das Weltall nach allen Richtungen auseinander fliegt, so steht es mit unserem Wissensbestand um unsere irdische Wirklichkeit nicht viel anders, und es ist kein Bewusstseinsort denkbar, von dem aus man alles in den Blick bekäme, d.h. keine Philosophie im alten Sinne." (MITTELSTRASS 1992, S. 221 - 244; GEHLEN 1988, S. 142.) In einzelnen Sektoren der Gesellschaft wird das "Unpolitische politisch" (U. Beck), das "Potential der Gesellschaftsgestaltung wandert aus dem politischen System ins subpolitische System wissenschaftlich-technisch-ökonomischer Modernisierung ab." (BECK 1997, S. 305.) So werden etwa in der Wirtschaft Investitionsentscheidungen mit u. U. globalen und irreversiblen Nebenfolgen getroffen (s. Kernkraft), während zugleich die politischen Institutionen diese Konsequenzen, die sie ja weder geplant haben noch gestalten können, doch verantworten müssen; mit anderen Worten, das "Politische wird unpolitisch". Etwas vorsichtiger argumentiert Bell: "Indem sie [die nachindustrielle Gesellschaft] die Entscheidungen mehr und mehr zu einer Angelegenheit der Technik macht, bezieht sie Wissenschaftler und Ökonomen unmittelbarer in den politischen Prozess mit ein." (BELL 1975, S. 52.) Ähnliches gilt etwa auch für den Bereich der Energiepolitik.

In der weiterführenden Konsequenz werden dann auch die Parteien einer ihrer zentralen Funktionen, nämlich die komplexe Welt des Politischen auf ein verständliches, begreifbares Politikbild zu reduzieren, in dem der einzelne seine persönliche Lebenssituation ansiedeln kann, nicht mehr gerecht. Der durchschnittliche Wahl- und Parteibürger (und das gilt im verstärkten Maße für Jugendliche) ist somit zunehmend überfordert, wenn er diesen Versuch der Herabsetzung der Komplexität auf ein verständliches Maß alleine ohne die "Serviceleistung" der Parteien zu unternehmen hat. (GUGGENBERGER 1982, S. 199.) Problematisch verstärkt wird dieser Effekt durch das "Polit-Marketing" politischer Institutionen im Sog der Massenmedien: Reale Problemlagen werden auf ein für den Wähler "erträgliches" Maß reduziert, während zugleich die Kompetenz der Verantwortlichen demonstriert wird, der Schwierigkeiten Herr zu werden (der allerdings eine faktisch erfahrene Inkompetenz entspricht), in der langfristigen Konsequenz werden Realität und Fiktion zunehmend ununterscheidbar. Kontrolle wird "simuliert" (Baudrillard) - die Politik wird, medial vermittelt, zum "Schein" ohne Bindung an die politikgestaltenden Subsysteme. Auch Jugendliche ahnen diese Zusammenhänge zumindest, wenn in Interviews immer wieder zum Ausdruck gebracht wird, dass "man keine Hoffnungen auf wirkliche Veränderungen in der Politik mehr habe" (vgl. -> M 01.02).

Die angeführten Thesen implizieren eine tiefgreifende Krise des Politischen in der Gesellschaft überhaupt, die alle Glieder der Gesellschaft, Jugendliche und Erwachsene umfasst: Wenn Politik per Definition etwas mit der Regelung der öffentlichen und allgemeinen Angelegenheiten zu tun hat oder gar auf die Wahrung des "Gemeinwohls" zielt, wird sie dieser Aufgabe angesichts einer Fülle von heterogenen Wissensbeständen (die eine bedrohliche Eigendynamik entwickeln) in einer pluralistischen Gesellschaft kaum noch gerecht. Die Konsequenzen dieser Entwicklung fasst der so heftig kritisierte Satz von Weizsäckers zusammen: "Bei uns ist ein Berufspolitiker im allgemeinen weder ein Fachmann noch ein Dilettant, sondern ein Generalist mit Spezialwissen, wie man politsche Gegner bekämpft." (WEIZSÄCKER 1992, S. 150.) Faktisch hat sich also - wie Weizäcker andeutet - eine Wandlung im Politikbegriff ergeben, die auch an der Basis der Gesellschaft deutlich wahrgenommen wird: Von der traditionellen Bindung an Werte und Normen abweichend, wird Politik im Rahmen des traditionellen Systems zunehmend als Kunst des Machterwerbs und der Machtbehauptung begriffen. Die wachsende Sympathie für Formen der "neuen Politik" (Bürgerinitiativen etc.) kann selber noch einmal als Indiz für die Richtigkeit der Analyse gelten: Insofern etwa eine Bürgerinitiative keine Problemlösungskompetenz für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens beansprucht und sich stattdessen auf einen Sektor konzentriert (z.B. Friedensarbeit, Umweltschutz etc., zunehmend aber auch kommunale Probleme wie etwa die Verhinderung einer Mülldeponie), stellt sie bereits eine Reaktion auf die mit dem Verlust einer überzeugenden Gesamtstrategie verbundenen Probleme traditioneller Parteien dar. Jugendliche fühlen sich durch die Aktionsformen von Bürgerinitiativen angesprochen, weil sie hier in einem überschaubaren Rahmen an der Lösung eines konkreten, sie in ihrem Lebensbezügen betreffenden Problems verantwortlich mitarbeiten können. Oft stellen sich auch greifbare Erfolgserlebnisse ein.

Als korrespondierendes Element zum angesprochenen Perspektivenpluralismus der Gesellschaft ist die Pluralisierung der Lebensstile im Zusammenhang mit der Auflösung der traditionellen Sozialmilieus zu sehen. (Vgl. hierzu auch den Abschnitt zu -> "Lebensstile und Wahlverhalten" in dieser Sachanalyse) Beide Entwicklungen konstituieren eine "neue Unübersichtlichkeit" (Habermas) der gesellschaftlichen Landschaft. Der so gekennzeichnete soziale Wandel hat die Parteien zu Anpassungsreaktionen gezwungen, die darauf zielen, zugleich die Reste der Wählerschaft aus den traditionellen Milieus zu bewahren und sich neue Lebensstilgruppierungen zu erschließen. Wiesendahl spricht in diesem Zusammenhang von einer "Modernisierungsfalle" (Vgl. WIESENDAHL 1992, S. 3-14.)

Treffend auch die Beschreibung Ulrich Becks: "Die Individualisierung destabilisiert das Großparteiensystem von innen her, weil sie Parteibindung enttraditionalisiert, entscheidungsunabhängig oder, von der Parteiseite her betrachtet, herstellungsunabhängig macht, was bei der Zersplitterung der Interessen, Meinungen und Themen dem Versuch gleichkommt, einen Sack Flöhe zu hüten." (BECK 1993, S. 223.) Die Volksparteien gerieten in einen permanenten "Spagat", der es alten und neuen Wählersegmenten zunehmend unmöglich mache, in einer solchen Partei ihre selbstverständliche und lebenslange politsche Heimat zu finden. Nutznießer dieser Wandlungsprozesse in der nachindustriellen Gesellschaft der Gegenwart sind vor allen Dingen rechtspopulistische und rechtsautoritäre Parteien, die - in der Regel ohne gegensätzliche Interessen auszutragen - einzelne in der Bevölkerung vorherrschende Stimmungen auffangen ("one-issue"-Partei), kanalisieren und in politische Schlagworte im Sinne einer "einfachen" Lösung ("Ausländer raus!") umsetzen. (Vgl. BETZ 1993, S. 3-13.) Rechtspopulistische und rechtsautoritäre Parteien vermögen bei nicht unbedeutenden Teilen der Wählerschaft den Eindruck zu erwecken, dass hier endlich einmal die Sorgen und Nöte des Durchschnittsbürgers ernst genommen werden.

 

BECK 1993: U. Beck: Die Erfindung des Politischen, Frankfurt a. M. 1993.
BECK 1997: U. Beck: Kinder der Freiheit. Wider das Lamento über den Werteverfall, in: U. Beck (Hrsg.): Kinder der Freiheit, Frankfurt a. M. 1997, S. 9-33.
BELL 1975: D. Bell: Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt 1975.
BETZ 1993: H.-G. Betz: Krise oder Wandel? Zur Zukunft der Politik in der postindustriellen Moderne, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, (1993) 11.
GEHLEN 1988: A. Gehlen: Über kulturelle Kristallisation, in: W. Welsch, Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, S. 133-143.
GUGGENBERGER 1982: B. Guggenberger: Bürgerinitiativen: Krisensymptom oder Ergänzung des Systems der Volksparteien?, in: J. Raschke (Hrsg.): Bürger und Parteien. Ansichten und Analysen einer schwierigen Beziehung, Opladen 1982, S. 190-203.
HEITMEYER 1993: W. Heitmeyer: Gesellschaftliche Desintegrationsprozesse als Ursachen von fremdenfeindlicher Gewalt und politischer Paralysierung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, (1993) 2-3.
MITTELSTRASS 1992: J. Mittelstraß: Der Verlust des Wissens, in: ders.: Leornardo-Welt. Über Wissenschaft, Forschung und Verantwortung, Frankfurt a. M. 1992.
WEIZSÄCKER 1992: R. von Weizsäcker im Gespräch mit G. Hofmann und W. A. Perger, Frankfurt a. M. 1992.
WIESENDAHL 1992: E. Wiesendahl: Volksparteien im Abstieg. Nachruf auf eine zwiespältige Erfolgsgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, (1992) 34-35.

Jugend und Politik heute

Auch Jugendliche zeigen eine erhöhte Anfälligkeit für die Propaganda rechtsgerichteter Parteien, insofern als Handlungsunsicherheit und Orientierungslosigkeit in Gewissheitssuche umschlägt, "an die rechtsextremistische Konzepte mit ihren Vorurteilen und durch Stabilitätsversprechen anknüpfen". (HEITMEYER 1993, S. 5.) Tatsächlich werden Jugendliche in nachindustriellen Gesellschaften mit einer Fülle von "Desintegrationserfahrungen" in ihrer Sozialisation konfrontiert, die in Ostdeutschland aufgrund des "Modernisierungsrückstandes" abrupt eingesetzt haben, während sie sich im Westen eher schleichend vollziehen. Zu den "traditionellen" Aufgaben der Jugendlichen (Lösung vom Elternhaus, Partnersuche, Berufsfindung etc.) treten neue, höchst komplizierte Bereiche hinzu: Die Suche nach Identität und Sinn in einer pluralistisch ausgerichteten Gesellschaft, die gesteigerte Schwierigkeit der Berufswahl angesichts einer ökonomischen Dynamik, die den heute gewählten Beruf in einigen Jahren vielleicht schon nicht mehr nachfragt oder jungen Leuten gar nicht erst den Einstieg in den Arbeitsmarkt ermöglicht, weil sie keinen Ausbildungsplatz finden, sind hier nur zwei mögliche Beispiele. Die im "Säurebad der Konkurrenz" entwickelten Individuen werden mit gesellschaftlicher Anonymität und Isolierung konfrontiert, an die Stelle von Solidaritätserfahrungen tritt die Konzentration auf sich selbst; (Vgl. BECK 1986, S. 121ff; HURRELMANN 1985, hier besonders: S. 15ff.) psychische und gesundheitliche Belastungen im Zusammenhang mit diesen makrosozialen und zukunftsperspektivischen Problemen sind immer häufiger die Folge.

Die geringe Wahlbeteiligung unter Jugendlichen wird vor diesem Hintergrund einer erschwerten Sozialisation, in der sich der Jugendliche primär mit sich selber auseinandersetzt, zum Teil verständlich. (Vgl. GEORG 1993, S. 20-28.) Ebenso steigt auf dem Hintergrund einer pessimistischen Bewertung gesellschaftlicher Zukunftsaussichten, verbunden mit dem Fehlen verbindlicher Werte (weder materialistisch noch postmaterialistisch), auch die Affinität der Jugendlichen zur Durchsetzung von politischen Interessen mit Gewalt, weil man sich von der traditionellen Politik im Stich gelassen fühlt.

Insgesamt ist die Stellung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen als Speerspitze der in der Bundesrepublik grassierenden Verdrossenheit gegenüber den Formen der etablierten Politik durch die gegenüber den älteren Bevölkerungsschichten geringere Verwurzelung in sozio-kulturellen Milieus (mit entsprechender Wert- und Parteibindung) und eine entsprechend größere Konzentration auf sich selbst, was die Gestaltung der eigenen Zukunft angeht, zu begreifen. Letzteres bedeutet jedoch eben nicht, dass hier eine Generation von Egoisten herangewachsen ist, der das Wohl der Mitmenschen egal ist: "Selbstbehauptung, Selbstgenuss und Sorge für andere schließen sich nicht etwa aus, sondern ein, gehören zusammen, bekräftigen, bereichern sich gegenseitig. [...] Die Kinder der Freiheit praktizieren eine suchende, eine versuchende Moral, die verbindet, was sich auszuschließen scheint: Selbstverwirklichung und Dasein für andere." (BECK 1997, S. 15.)

Eine mögliche Antwort, vor allen Dingen der Parteien, müsste das "Recht der Jugend auf Spaß und Selbstverwirklichung" wieder stärker würdigen - anstatt in ein kulturkritisches Lamento über den Verfall des Gemeinsinns auszubrechen. Das beinhaltet die Überwindung von vier Grundannahmen über politisch-soziales Engagement, die Beck folgendermaßen skizziert:

  • Wenn Engagement mit Mitgliedschaft in Parteien, Gewerkschaften, Hilfsorganisationen etc. gleichgesetzt wird, dann sind Nicht-Mitglieder notwendig Egoisten.
  • Selbstaufopferungsannahme: Nur wer von sich absieht, kann für andere dasein. Spaß, Selbstverwirklichung auf der einen Seite und gesellschaftliche Tätigkeit schließen sich aus.
  • Stille Hilfe oder Hausfrauen-Syndrom: Die Würde des Dienstes für andere liegt darin, dass sie unsichtbar bleibt, unbezahlt, ohne Anerkennung - im Auftrag anderer, die Regie führen (die Parteijugend als Plakatklebetruppe des Ortsvereins).
  • Klare Rollentrennung von Helfern und Hilfsbedürftigen: Dass Helfer in ihrer Hilfeleistung empfangen, sich verwirklichen, ihr eigenes Leben bereichern, bleibt unbedacht. (BECK 1997, S. 15f.)

Zusammenfassend spricht Beck von einem "Abschreckungsbild, das die Kinder der Freiheit zur Flucht aus den Organisationen nötigt", in denen der einzelne "zum Fußsoldaten in einer "Gemeinwohl-Armee" gemacht wird." (BECK 1997, S. 16.) Der Sozialforscher Helmut Jung formuliert: "Der brave Parteisoldat, der erst jahrelang Plakate klebt und schließlich vielleicht im Gemeinderat sitzt, ist eine aussterbende Spezies". (Zitiert nach: DER SPIEGEL, 43/1996.)

Langsam scheinen sich diese Einsichten zumindest auch in den Parteien durchzusetzen, die ja als die von den geschilderten Entwicklungen unmittelbar Betroffenen gelten müssen. "Wir wollen vor allem auch junge Menschen davon überzeugen, sich durch parteipolitisches Engagement dauerhaft für die demokratische Ordnung und die Anliegen ihrer Mitmenschen einzusetzen. Dazu werden wir Jugendliche durch die Themen unserer politischen Arbeit wie auch durch eine gezielte Mitgliederwerbung verstärkt zur Mitarbeit in der CDU auffordern." heißt es bereits im Beschluss zur Reform der Parteiarbeit des 7. Bundesparteitages der CDU vom 18. Oktober 1995 in Karlsruhe. Die Christdemokraten möchten dieses Ziel vor allem durch besondere, jugendgerechte Veranstaltungsformen und die Stärkung von Jugendengagement in folgenden Bereichen erreichen:

  • "durch die Mitarbeit in Schülervertretungen in Schulen und Jugendvertretungen in Betrieben;
  • im Rahmen von Jugendverbänden in den Jugendhilfeausschüssen der Kommunen und bei der Jugendpolitik von Gemeinden, Ländern und Bund;
  • in den Kirchengemeinden, in Gewerkschaften und in anderen Interessenvertretungen;
  • in Selbsthilfegruppen und Bürgerinitiativen;
  • durch Mitwirkung in politischen Jugendverbänden und Parteien." (CDU 2000)

In der SPD werden auf dem Bundesparteitag im November 2001 die "Chancen für die Jugend" auf der Tagesordnung stehen. Neben Ideen zur Stärkung der "bürgerschaftlichen Teilhabe" von Jugendlichen durch repräsentative, offen und projektorientierte Beteiligungsformen möchte sich die SPD zur Förderung der politischen Teilhabe von Jugendlichen folgende "Selbstverpflichtungen" auferlegen:

  • "Regelmäßige Kontakte auf allen Ebenen zu Jugendverbänden, jugendeigenen Medien und Schüler- und Ausbildungsvertretungen mit dem Ziel gemeinsamer Initiativen und Projekte.
  • Die Zielmarke "30 unter 40" gilt auch für die nächste Bundestagsfraktion. Die Europäische Fraktion, jede Landtagsfraktion, jede Ratsfraktion ist zu einer vergleichbaren Zielvereinbarung aufgerufen.
  • Erlebnisorientierung und Unterstützung von Personen stehen im Mittelpunkt von neuen Aktionsteams, die sich bundesweit im red net austauschen.
  • Das Dienstleistungszentrum Willy-Brandt-Haus erweitert verlässlich sein Repertoire an Material und Hilfen (workshops, newsletter usw.).
  • Über Praktikumplätze, Rhetorik-Seminare und Internet-Zugänge (auch für Nicht-Mitglieder) erweitern wir den Gebrauchswert eines Engagements im Umfeld oder in der SPD.
  • Für die Nachwuchspolitik wird gezielte Begleitung und Mentoring durch Führungskräfte, Abgeordnete und kommunale Mandatsträger/innen angeboten.
  • Training von Projektarbeit und Kommunikationskompetenz werden verstärkt in der innerparteilichen Bildungsarbeit in den Vordergrund gestellt." (SPD 2001)

Das sind zwar Schritte in die richtige Richtung, allerdings muss bezweifelt werden, ob sie ausreichen, um einen wirklichen Stimmungsumschwung innerhalb der Gruppe der Jugendlichen und Jungen Erwachsenen im Hinblick auf mehr Begeisterung für traditionelle Formen der politischen Partizipation durchzusetzen. Die Umstrukturierung der großen Parteien mit der Zielsetzung, sie für Jugendliche attraktiver zu machen, ist ein Prozess, dem vielfältige Hindernisse (nicht zuletzt seitens der etablierten Parteipolitiker) entgehenstehen. Als Seismograph für den Erfolg der Bemühungen kann u.a. die Zahl der jugendlichen Protest- und Nichtwähler bei den nächsten Wahlen dienen.

 

BECK 1986: U.Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986.
BECK 1997: U. Beck: Kinder der Freiheit. Wider das Lamento über den Werteverfall, in: U. Beck (Hrsg.): Kinder der Freiheit, Frankfurt a. M. 1997, S. 9-33.
CDU 2000: CDU-Bundesgeschäftsstelle: Jugendpolitik. Politisches Engagement. (download unter http://www.cdu.de/politika-z/jugend/kap81.htm)
GEORG 1993: W. Georg: Modernisierung und Lebensstile Jugendlicher in Ost- und Westdeutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, (1993) 26-27.
HEITMEYER 1993: W. Heitmeyer: Gesellschaftliche Desintegrationsprozesse als Ursachen von fremdenfeindlicher Gewalt und politischer Paralysierung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, (1993) 2-3.
HURRELMANN 1985: K. Hurrelmann: Warteschleifen. Keine Berufs- und Zukunftsperspektiven für Jugendliche, Weinheim Basel 1985.
SPD 2001: Chancen für die Jugend. Leitantrag Jugend zum Bundsparteitag der SPD im November 2001. Stand: 10.07.01 (download unter http://www.spd.de)
 

 

 

 
 

www.projekt-wahlen2002.de und www.forschen-mit-grafstat.de
sind Projekte der
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unter der Leitung von
Dr. Wolfgang Sander, Andrea Meschede und Ansgar Heskamp.

Bundeszentrale für politische Bildung

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