Wahlanalyse
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
 
 
 
 
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 Wahlen in der Demokratie
 

Begriff der Wahl

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Der Begriff der 'Wahl' ist von der Wortbedeutung her im Sinne von 'frei auswählen' (zwischen mindestens zwei Positionen, Kandidaten, Parteien) zu verstehen. In der politischen Praxis wird diese enge definitorische Begrenzung jedoch in der Regel nicht übernommen. Anstelle der früher üblichen Unterscheidung von Wahlen und 'Scheinwahlen' hat sich in der Politikwissenschaft die Unterscheidung von kompetitiven und nicht-kompetitiven Wahlen durchgesetzt. Da jede Wahl ein Mittel zur Bildung von Körperschaften oder zur Bestellung einer Person in ein öffentliches Amt ist, ist es berechtigt, in beiden Fällen an dem Begriff 'Wahlen' festzuhalten.

Bei der Bestimmung der Merkmale von Wahlen (-> M 02.03/-> M 02.05) rückt daher die verfahrenstechnische Seite stark in den Vordergrund, wobei besonders auf die individuelle Stimmabgabe einer begrenzten Wählerschaft abgehoben wird. Diese Stimmen werden ausgezählt und unter Anwendung eines vorher festgelegten Entscheidungsmaßstabes in Mandate umgesetzt (Vgl. NOHLEN 1997, S. 597-600).

Zur Funktion von kompetitiven Wahlen in bürgerlichen Demokratien hat die Politikwissenschaft eine Reihe unterschiedlicher Positionen erarbeitet, die sich zunächst einmal durch ihre demokratietheoretischen Prämissen abgrenzen lassen. Als Grundmodelle der Demokratietheorie (mit einer Fülle von Varianten) können gelten:

  • das klassisch-normative Identitätsmodell der Demokratie, das auf Jean-Jacques Rousseau zurückgeht;

  • das sog. Konkurrenzmodell der demokratischen Elitenherrschaft, das von Joseph Schumpeter entwickelt wurde.

 

NOHLEN 1989: D. Nohlen: Wahlrecht und Parteiensystem, Opladen 1989.

Identitätsmodell der Demokratie

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Das grundlegende Postulat der klassischen Demokratietheorie ist die 'Volkssouveränität' (vgl. -> M 02.04). Ihre praktische Umsetzung kann sich entweder durch eine Gesetzgebung unmittelbar durch das Volk oder durch Delegation der Macht an Vertreter vollziehen. Als Radikaldemokrat lehnt Rousseau den Gedanken der 'Repräsentation' des Volkes durch gewählte Abgeordnete mit dem Hinweis auf die Vorbildfunktion der 'alten Demokratien' (Athen, Rom) grundsätzlich ab: 'Die Souveränität kann aus dem gleichen Grund, aus dem sie nicht veräußert werden kann, auch nicht vertreten werden; sie besteht wesentlich im Gemeinwillen, und der Wille kann nicht vertreten werden: er ist derselbe oder ein anderer; ein Mittelding gibt es nicht. (...) Jedes Gesetz, das das Volk nicht selbst beschlossen hat, ist nichtig; es ist überhaupt kein Gesetz. Das englische Volk glaubt frei zu sein, es ist nur frei während der Wahl der Parlamentsmitglieder; sobald diese gewählt sind, ist es Sklave, ist es nichts.' (ROUSSEAU 1977, S. 103)

Auch Anhänger der Vorstellungen Rousseaus müssen heute zugeben, dass zumindest auf nationaler Ebene die Wahl von demokratischen Repräsentationsorganen unabdingbar ist. Sie fordern allerdings eine möglichst enge Bindung der gewählten Repräsentanten an den Willen des Volkes. Im Idealfall sollte der Wille des Volkes ständig in den grundlegenden Entscheidungen der politischen Organe und Mandatsträger wiederzuerkennen sein; die Etablierung von 'Machteliten', deren Arbeit für den Bürger nicht mehr transparent ist, wird als Zeichen der Entfremdung von Regierenden und Regierten strikt abgelehnt. In diesem Zusammenhang gehört auch die Diskussion um das sog. 'imperative Mandat', bei dem die Abgeordneten an ein Votum ihrer Wähler auch während der Legislaturperiode gebunden und jederzeit absetzbar sind.

Das Menschenbild im Identitätsmodell stuft den Bürger als aktiv und politisch mündig ein.

 

ROUSSEAU 1977: J.-J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart 1977.

Konkurrenzmodell der Demokratie

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Empirisch orientierte Vertreter der amerikanischen Politikwissenschaft haben kritisiert, dass dieses normative Modell von Demokratie mit der Verfassungswirklichkeit in modernen demokratischen Großflächenstaaten in keiner Weise übereinstimme: Diese Wirklichkeit sei vor allem geprägt durch Konkurrenz der Eliten um die politische Herrschaft und die Apathie der Massen. So schlägt Schumpeter vor, sich eher an der erfahrbaren politischen Realität zu orientieren und Demokratie nicht länger als 'Regierung durch das Volk', sondern als 'Regierung für das Volk' zu verstehen:

'Wir nehmen nun den Standpunkt ein, dass die Rolle des Volkes darin besteht, eine Regierung hervorzubringen oder sonst eine dazwischengeschobene Körperschaft, die ihrerseits eine nationale Exekutive oder Regierung hervorbringt. Und wir definieren: Die demokratische Methode ist diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfes um Stimmen des Volkes erwerben.' (SCHUMPETER 1987, S. 213)

Das Konkurrenzmodell geht von eher skeptischen anthropologischen Voraussetzungen aus: Angesichts einer zunehmend komplexer und undurchschaubarer werdenden Wirklichkeit fehle dem einzelnen Bürger die Kompetenz für politische Entscheidungen; diese sei vielmehr wenigen Experten vorbehalten, und die Funktion des Bürgers habe sich auf die Auswahl von geeigneten Experten zu beschränken. Kritisch wird gegen Schumpeter eingewandt, dass dieser Ansatz eine ständig sinkende Bedeutung des Parlaments gegenüber der Exekutive impliziere, in der sich ja das Expertenwissen konzentriert; das Parlament werde in letzter Konsequenz zum 'Transmissionsriemen der Entscheidungen politischer Oligarchien'. (AGNOLI 1963, S. 64)


Problematische Aspekte

Obwohl die empirische Wahlforschung die grundlegenden Aussagen des Modells der Konkurrenzdemokratie zur Rolle von Eliten und zur Apathie der Bürger weitgehend bestätigt, ist dieser Ansatz nicht unproblematisch: Der Verzicht auf die Konfrontation der Wirklichkeit mit vorgebenen Zielvorgaben verabsolutiert den historisch gewordenen status quo und beraubt die politische Wirklichkeit ihrer Dynamik. Ob das auf diese Art und Weise mögliche Maß an Stabilität die Preisgabe der zunehmenden Demokratisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse (zumindest im Sinne einer handlungsleitenden Norm) rechtfertigt, bleibt jedenfalls fraglich. Hinzu kommt, dass neben die politische Apathie weiter Bevölkerungskreise gesteigerte politische Aktivitäten anderer Bevölkerungsgruppen (die sog. '68er'-Bewegung oder auch die zunehmende Zahl von Bürgerbewegungen und Bürgerinitiativen) getreten sind. Der Politologe Max Kaase hat zur Kennzeichnung dieser neuen Entwicklung das Wort von der 'partizipatorischen Revolution' geprägt.

 

AGNOLI 1963: J. Agnoli: Die Transformation der Demokratie, in: J. Agnoli/P. Brückner: Die Transformation der Demokratie, Frankfurt a. M. 1963, S. 64.

SCHUMPETER 1987: J. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Tübingen 1987.


Historische Entwicklung

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Die Durchsetzung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts in Europa und Nordamerika vollzog sich innerhalb des Zeitraums von 1848 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Als erstes führte Frankreich 1848 das allgemeine Männerwahlrecht ein. Deutschland zog 1871 nach: Im Zuge der Neugründung des Deutschen Reiches wurde das allgemeine Männerwahlrecht in der Verfassung festgeschrieben. In Preußen allerdings blieb das ungleiche, indirekte und offene Dreiklassenwahlrecht noch über den Anfang des Ersten Weltkriegs hinaus erhalten. Mit der Einführung des Wahlrechts auch für Frauen taten sich die europäischen Industriestaaten anfänglich wesentlich schwerer. Als erste deutsche Partei forderte die SPD 1891 im Erfurter Programm das allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht für alle Reichsangehörigen über 20 Jahren 'ohne Unterschied des Geschlechts'. Aber erst 1918 vollzog der 'Rat der Volksbeauftragten' die formale Gleichstellung der Frauen im Bereich des Wahlrechts. Die Schweiz ließ sich sogar bis 1971 Zeit, bis sie den Frauen auf Bundesebene das allgemeine Wahlrecht zugestand (vgl. -> M 02.08, -> M 02.09).

Die Ursachen für die Ausbreitung des allgemeinen Wahlrechts sind vielfältig: Zunehmende Industrialisierung mit steigendem Einfluss der Arbeiterbewegung, Migrationsprozesse, politische Traditionen, Verbesserung der politischen Information, Organisation der Interessen (Parteienbildung), aber auch Kriege und Sezessionsprozesse, um nur einige wichtige Punkte zu nennen. (Ein tabellarischer Überblick über die Entwicklung des Wahlrechts in 22 OECD-Ländern findet sich bei NOHLEN 1989.)

 

NOHLEN 1989: D. Nohlen: Wahlrecht und Parteiensystem, Opladen 1989.

Wahlrecht im Grundgesetz

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Volkssouveränität

Das Grundgesetz basiert auf dem Prinzip der Volkssouveränität (vgl. -> M 02.04): Das Volk ist der primäre Träger der Staatsgewalt. Das Volk übt seine Gewalt aber nicht unmittelbar aus, sondern mittelbar 'in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung' (GG Art. 20 Abs. 2 Satz 2). Die Vorstellung einer Identität von Regierenden und Regierten ist dem Grundgesetz fremd.


Wahlrechtsgrundsätze

Für demokratische Wahlen lassen sich vier Wahlrechtsgrundsätze ausmachen, die in den westlichen Staaten in aller Regel Verfassungsrang haben (vgl. etwa Art. 38 Abs. 1 GG in Zusammenhang mit § 1 Abs.1 Bundeswahlgesetz) (vgl. -> M 02.08).

  • Die Betonung der Allgemeinheit des Wahlrechts wendet sich gegen den Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen des Staatsvolkes, z.B. aus ethnischen Gründen oder auch durch Festsetzung eines Zensus.
  • Der Gleichheitsgrundsatz im Wahlrecht verbietet eine unterschiedliche Gewichtung der Stimmen je nach Besitz, Bildung, Einkommen etc. Gefordert wird vielmehr die sog. 'Zählwertgleichheit' der Stimmen.
  • Geheime Stimmabgabe (vgl. -> M 02.06 und -> M 02.07)
  • Im Rahmen eines direkten Wahlrechts bestimmt das Wahlvolk selbst über die Mandatsträger der zu wählenden Gremien. Zu unterscheiden ist ein indirektes Wahlsystem, wie es z.B. die USA (Präsidentschaftswahlen) kennen.

Nicht-kompetitiven Wahlen (z.B. in den ehemaligen Ländern des 'real existierenden Sozialismus') liegt ein gänzlich anderes Funktionsverständnis zugrunde. Begriffen als Instrument der Herrschaftsausübung im Rahmen der 'Entwicklung' der Gesellschaft lassen sich folgende Funktionselemente anführen (vgl. NOHLEN 1989, S. 27.):

  • Mobilisierung aller gesellschaftlichen Kräfte;
  • Verdeutlichung der Maßstäbe der Politik;
  • Festigung der politisch-moralischen Einheit der Bevölkerung;
  • Dokumentation der Geschlossenheit von Bevölkerung und Partei.
 
NOHLEN 1989: D. Nohlen: Wahlrecht und Parteiensystem, Opladen 1989.
 

 

 

 
 

www.projekt-wahlen2002.de und www.forschen-mit-grafstat.de
sind Projekte der
Bundeszentrale für politische Bildung www.bpb.de
Koordinierungsstelle Medienpädagogik/Fachbereich Multimedia
Projektkoordination: Tilman Ernst und des Teams von
www.pbnetz.de an der Universität Münster
unter der Leitung von
Dr. Wolfgang Sander, Andrea Meschede und Ansgar Heskamp.

Bundeszentrale für politische Bildung

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