Wahlanalyse
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
 
 
 
 
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 Die Massenmedien im Wahlkampf (I)
 

Einfluss der Massenmedien

Der moderne Wahlkampf ist ohne den Einsatz von Massenmedien undenkbar; vor allem das Fernsehen als das vermeintlich wirkungsvollste Medium ist in den Mittelpunkt der Bemühungen von Parteien und Politikern gerückt. (Vgl. HOLTZ-BACHA/KAID 1993, S. 7.) P. Radunski, der ehemalige Wahlkampfmanager der CDU, stellt fest: "Wahlkämpfe können im Fernsehen gewonnen oder verloren werden." (RADUNSKI 1983, S. 131)

Mehr als politische Programme scheint die "Kommunikationsstrategie" über den Wahlerfolg einer Partei und ihrer Kandidaten zu entscheiden. Ulrich Sarcinelli charakterisiert diese Entwicklung am Beispiel des Bundestagswahlkampfs 1998 mit einem Zitat von Wahlsieger Gerhard Schröder: "Erfolg [...] sei immer ein über die Medien vermittelter Erfolg oder er sei kein Erfolg". (SARCINELLI 2000, S. 19)

Durch die Tendenz zum "Fernsehwahlkampf" ergeben sich erhebliche Konsequenzen für die Organisation des Wahlkampfes in den Parteien (vgl. -> M 07.12). Veranstaltungstypen alter Art, wie z.B. Großkundgebungen werden von neuen Formen eines personalisierten Aktionswahlkampfes verdrängt. P. Radunski bezeichnet die "Fernsehkampagne als Herzstück der Wahlkampfplanung". (RADUNSKI 1983, S. 136.) Wissenschaftliche Untersuchungen werden verstärkt zu Rate gezogen, um die Planung, den Verlauf und den Erfolg von Wahlkämpfen zu optimieren. Sarcinelli sieht Schwerpunktverlagerungen im Verhältnis zwischen Medien und Politik: das Politische selbst orientiere sich zunehmend an der Logik der Medien. "Auch wenn die politische Entscheidungslogik in der Medienlogik nicht völlig aufgeht und es nach wie vor medienresistente Kernbereiche im politischen Entscheidungssystem gibt, so findet doch eine Mediatisierung der Politik statt." (SARCINELLI 2000, S. 24.) Dauerhafte Auswirkungen sind zu erwarten, können aber noch nicht näher benannt werden. "Unter den Bedingungen der modernen Mediengesellschaft verändert sich langfristig unser parlamentarisch-repräsentatives System in ein medial-präsentatives System." (SARCINELLI 1999, S. 21)

Bereits 1940 hatten sich die US-Forscher mit der Frage auseinandergesetzt, ob Fernsehsendungen Einfluss auf das Verhalten des Wählers ausüben können. Sie vertraten damals noch die Auffassung, dass der Wähler auf Fernsehsendungen reagiere wie der Esel auf den Stock. Je mehr das Fernsehen auf ihn eindringe, desto störrischer verhielte er sich. Er ließe sich also nicht vom Fernsehen beeinflussen, im Gegenteil er werde in seiner vorher festgelegten Meinung bestärkt, da er nur das höre und sehe, was er hören und sehen wolle. So herrschte bis zum Ende der 60er Jahre in der Wahlkampfforschung die Auffassung vor, dass die Medien im Wahlkampf lediglich eine anregende, aber keinesfalls eine beeinflussende Wirkung auf die Wähler hätten. (vgl. SCHÖNBACH 1983) Den Wählern würden die Gründe ihrer bereits feststehenden Wahlentscheidung bewusst gemacht, und sie würden dazu angeregt, überhaupt zur Wahl zu gehen.

 

HOLTZ-BACHA/KAID 1993: C. Holtz-Bacha/L. Lee Kaid (Hrsg.): Massenmedien im Wahlkampf, Opladen 1993.
RADUNSKI 1983: P. Radunski: Strategische Überlegungen zum Fernsehwahlkampf, in: W. Schulz/K. Schönbach (Hrsg.): Massenmedien und Wahlen, München 1983, S. 131-145.
SARCINELLI 1999: U. Sarcinelli: Alte Medien - neue Medien. Zum Verhältnis zwischen Journalismus und Politik, in: Die politische Meinung, Nr. 351/Februar 1999, S. 19-29.
SARCINELLI 2000: U. Sarcinelli: Politikvermittlung und Wahlen - Sonderfall oder Normalität des politischen Prozesses? Essayistische Anmerkungen und Anregungen für die Forschung, in: H. Bohrmann u.a.: Wahlen und Politikvermittlung durch Massenmedien, Opladen 2000.
SCHÖNBACH 1983: K. Schönbach: Massenmedien und Wahlen - Perspektiven der europäischen Forschung, in: W. Schulz/K. Schönbach (Hrsg.): Massenmedien und Wahlen, München 1983, S. 104-113.

Medien im Wahlkampf

Mit Beginn der 70er Jahre gingen die Medienforscher mehr und mehr dazu über, den Medien im Wahlkampf eine wahlentscheidende Rolle zuzuschreiben. Folgende Ursachen führten zu einer Änderung der Forschungsmeinung (vgl. SCHÖNBACH 1983, S. 105)

  • Auflösung traditioneller Parteibindungen: Die Wähler trafen ihre Wahlentscheidungen nicht mehr aufgrund von Schichtzugehörigkeit, sondern zunehmend aufgrund bestimmter Kandidaten oder bestimmter Wahlversprechen. Die Anzahl der Wechselwähler nahm zu.
  • Die große Verbreitung der Medien (insbesondere des Fernsehens) und die Zunahme des Medieneinsatzes im Wahlkampf: Die technisch vermittelte Kommunikation nahm nun neben Arbeit und Schlaf den größten Platz im Leben der Menschen ein. Da die Medien die Kandidaten und die Wahlprogramme bekanntmachten, kam ihnen eine immer größere Bedeutung zu. Inzwischen werden neben der Wählerschaft auch die eigenen Parteimitglieder in erster Linie über die Medien erreicht und nicht über die Parteiorganisation. (vgl. SARCINELLI 2000, S. 20)
  • Zentralisierung und Professionalisierung des Wahlkampfes: Parteizentralen übernahmen die Steuerung und Organisation der Wahlkampagnen (Plakatierung, Werbespots, Terminierung etc.). Der Wahlkampf wird nun von Marketingfirmen und von Wahlkampfmanagern organisiert.

Besondere Bedeutung wurde dem Fernsehen zugesprochen, das in hohem Maße geeignet schien, eine breite Wählerschaft zu erreichen und in seiner Wahlentscheidung zu beeinflussen.

Auch die europäische Forschung beschäftigte sich seit den 70er Jahren vermehrt mit dem Thema "Massenmedien und Wahlen". W. Schulz und K. Kindelmann gehen in ihrer Untersuchung von der theoretischen Annahme aus, dass bei der Interpretation von politischen Situationen vier Elemente berücksichtigt werden müssen: "Handeln, Eigenschaften und Absichten der beteiligten Akteure sowie der thematische Handlungskontext." (SCHULZ/KINDELMANN 1993, S. 12) Politiker und politische Organisationen sähen es als eine ihrer wichtigsten Aufgaben an, ihre "Deutung dieser politischen Situationen" durchzusetzen, oder zumindest als herrschende Meinung zur Geltung zu bringen. Das sei daher so wichtig, da nicht allein objektive Faktoren, sondern auch die Situationsdeutung das Handeln aller am politischen Prozess unmittelbar oder mittelbar Beteiligten präjudiziere - entsprechend dem sog. Thomas-Theorem: "Wenn die Menschen Situationen als real definieren, sind sie real in ihren Konsequenzen." (THOMAS 1928, S. 572; THOMAS 1951, S. 80 ff.) Zur Bedeutung dieses Theorems für eine Soziologie des Alltagswissens vgl. BERGER/LUCKMANN 1969; zur Aufarbeitung für den Unterricht vgl. OST/SANDER/SAYER 1977, insbesondere S. 37ff.)

Bei diesem Prozess der "Definition der Situation" spielen die Massenmedien eine zentrale Rolle. Sie greifen auf mehrere Arten ein: Sie sind einerseits ein Forum für die politischen Akteure und machen so deren Interpretation der Situationen in der Öffentlichkeit bekannt. Andererseits beteiligen sie sich aktiv an der Situationsdeutung, z.B. durch Auswahl der Meldungen und Gewichtung der Themen sowie durch interpretative Berichterstattung und durch explizite Meinungsäußerung in Kommentaren.

Innerhalb des Mediensystems gibt es hierarchische Strukturen. "Einige Medien haben die Rolle von Meinungsführern." (SCHULZ/KINDELMANN 1993, S. 13) Sie ragen durch ihre Meinungsfreudigkeit und einen "als hochwertig eingeschätzten Journalismus" heraus. Ihre Beurteilung der politischen Situation wird von anderen Medien teilweise übernommen. Medien haben eine unterschiedliche ideologische Basis; sie kommen in der Regel zu unterschiedlichen Interpretationen der politischen Situationen. Bieten Medien mit unterschiedlicher Orientierung jedoch eine übereinstimmende Interpretation einer bestimmten Situation, ist ihr Einfluss auf die Meinungsbildung relativ groß. Allgemein lässt sich feststellen, je größer die Übereinstimmung bei der Interpretation von Situationen in den Massenmedien ist und je mehr Medien sich dieser Übereinstimmung anschließen, um so größer ist ihr Einfluss ('Wenn sowohl die, als auch die das sagen, wird es wohl stimmen.').

 

BERGER/LUCKMANN 1969: P. Berger/T. Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 1969.
OST/SANDER/SAYER 1977: P. Ost/W. Sander/J. Sayer: Der Aufbau unserer Alltagswelt, Politische Bildung, Materialien für den Unterricht, Stuttgart 1977.
SARCINELLI 2000: U. Sarcinelli: Politikvermittlung und Wahlen - Sonderfall oder Normalität des politischen Prozesses? Essayistische Anmerkungen und Anregungen für die Forschung, in: H. Bohrmann u.a.: Wahlen und Politikvermittlung durch Massenmedien, Opladen 2000.
SCHÖNBACH 1983: K. Schönbach: Massenmedien und Wahlen - Perspektiven der europäischen Forschung, in: W. Schulz/K. Schönbach (Hrsg.): Massenmedien und Wahlen, München 1983, S. 104-113.
SCHULZ/KINDELMANN 1993: W. Schulz/K. Kindelmann: Die Entwicklung der Images von Kohl und Lafontaine im Wahljahr 1990, in: C. Holtz-Bacha/L. Lee Kaid (Hrsg.): Massenmedien im Wahlkampf, Opladen 1993, S. 10-45.
THOMAS 1928: W. I. Thomas: The Child im America, New York 1928.
THOMAS 1951: W. I. Thomas: Social Behavior and Personality, New York 1951 (dt.: Person und Sozialverhalten, Neuwied 1965).

Die Inszenierung von Politik in den Medien

Wegen des deutlichen Rückgangs der Parteibindung und des großen Einflusses der Massenmedien versuchen politische Akteure, den Vorgang der Interpretation von Situationen im Prozess der Meinungsbildung so weit wie möglich in ihrem Sinne zu beeinflussen. Dazu verwenden sie, besonders vor Wahlen, ein reichhaltiges Instrumentarium der politischen Öffentlichkeitsarbeit, der Werbung und Propaganda, des Ereignis- und Themenmanagements und der Imageprofilierung, das vor allem auf Öffentlichkeitseffekte über die Massenmedien zielt. (vgl. SARCINELLI 1991, S. 439-486) Der Wahlkampf wird als Medienwahlkampf inszeniert. Insofern befindet sich Deutschland - wie viele andere westliche Demokratien - auf dem Weg "von der Parteien- zu Mediendemokratie". (vgl. SARCINELLI 2000, S.19)

Dabei wird diese Kampagne von der Mehrzahl der Wähler gar nicht als Wahlkampf verstanden, da sie nicht nur zu Wahlzeiten stattfindet. Die Berichterstattung über das politische Leben in den Massenmedien wird als Bestandteil des täglichen Lebens wahrgenommen. Im Wahlkampf erhöht sich nur die Aufmerksamkeit der Medien und Wähler für die Politiker und deren Verhalten. Speziell in dieser Zeit versuchen die Politiker verstärkt, selbst Anlässe zu schaffen, die ihre politischen Absichten medienwirksam verdeutlichen. "So gesehen ist Wahlkampfführung das Management von Medienereignissen." (RADUNSKI 1983, S. 137)

Im Vordergrund des Medienwahlkampfes steht für die Parteien die Festlegung eines Wahlkampfthemas und die Art, wie Botschaften der Parteien und Politiker vermittelt werden und den Wähler erreichen. Die politische Berichterstattung in den Medien ist darauf hin angelegt, komplexe politische Zusammenhänge auf entscheidbare Alternativen für die Wähler zu reduzieren. Diese Tendenz zu "plakativen Aussagen" wird von den Parteien bei der Durchsetzung ihrer eigenen Wahlkampfthemen in die Wahlkampfstrategie mit eingebaut. Jede Partei(zentrale) wird daher große Anstrengungen unternehmen, um sich mit ihrem Wahlkampfthema in den Medien und in der öffentlichen Diskussion durchzusetzen.

Zu diesem Zweck versuchen die politischen Entscheidungsträger, die Agenda des Presse- und Rundfunksystems - zumindest bis zu einem gewissen Maß - in ihrem Sinne zu beeinflussen. Dabei muss man bedenken, dass die Massenmedien den Politikern nicht zur freien Verfügung stehen. Es bestehen jedoch - jenseits aller parteipolitischen Verflechtungen - wechselseitige Abhängigkeiten zwischen den Parteien und den Journalisten in Presse, Rundfunk und Fernsehen: Der Journalist braucht, um erfolgreich arbeiten zu können, berichtenswerte Nachrichten und Hintergrundinformationen von den Politikern. Der Politiker, der über Stellungnahmen und Erklärungen Einfluss auf die "Definition der Situation" nehmen will, braucht den Journalisten, der sie aufnimmt, verbreitet und (in seinem Sinne) kommentiert. So ist es elementarer Bestandteil der Wahlkampfstrategie aller Parteien, Themen zu planen und Ereignisse zuschaffen, die medienwirksam werden, "Agenda Setting" zu betreiben und zwar so, dass die eigene Position möglichst günstig erscheint. (vgl. -> M 07.16) Beim Agenda Setting geht es, wie B. Cohen zutreffend feststellt, nicht vorrangig darum, "den Lesern zu sagen, was er denken soll, sondern worüber er nachdenken soll". (zit. nach ANSOLABEHERE/BEHR/IYENGAR 1993, S. 142f.) Als empirischen Befund halten die Autoren fest: "Je mehr der Betrachter von der Welt der Politik entfernt ist, um so stärker ist der Einfluss der Agenda Setting Power der Fernsehnachrichten." (ebd., S. 144) Diese Thematisierung von Sachfragen ist somit zusammen mit der Präsentation der eigenen Kandidaten Teil einer Werbestrategie der Wahlkampfmanager. Dabei lassen sich drei Formen unterscheiden: die Antwort des Politikers auf denpolitischen Gegner, die Selbstdarstellung unddie Kommentierung neu auftretender Ereignisse, um die eigene Beurteilung der Ereignisse durchzusetzen. Der Fernsehwahlkampf soll vorrangig drei Ziele verwirklichen helfen: Aufbesserung oder Stabilisierung des Images der Kandidaten, die Durchsetzung politischer Argumente und die Mobilisierung der Wähler und Anhänger (im Bewusstsein des Sieges).

Ein weiterer Trend: Die Inszenierung von Politik bedient sich zunehmend der Stilmittel und Bildsprachen aus dem Bereich der Unterhaltung. Viele Politiker haben erkannt, dass das Medienpublikum die Wählerschaft, jeder Wähler aber auch Mediennutzer ist. Themen, Figuren und Zitate aus beliebten Rundfunk- und Fernsehsendungen sind erfolgversprechende Aufhänger, um die eigene Person in Szene zu setzen. Mehr noch: "Wer [...] nicht wenigsten einmal zum Talk bei Alfred Biolek und Harald Schmidt oder in einer Show wie ‚Wetten dass?‘ eingeladen wird, der hat aufgrund mangelnder Medienprominenz zu wenig Öffentlichkeitsmacht, um politisch etwas zu bewegen." (DÖRNER 1999, S. 19)

 

ANSOLABEHERE/BEHR/IYENGAR 1993: S. Ansolabehere/R. Behr/S. Iyengar: The Media Game. American Politics in the Television Age, New York 1993.
DÖRNER 1999: A. Dörner: Politik im Unterhaltungsformat. Zur Inszenierung des Politischen in den Bildwelten von Film und Fernsehen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 41/1999, S. 17-25.
RADUNSKI 1983: P. Radunski: Strategische Überlegungen zum Fernsehwahlkampf, in: W. Schulz/K. Schönbach (Hrsg.): Massenmedien und Wahlen, München 1983, S. 131-145.
SARCINELLI 1991: U. Sarcinelli: Massenmedien und Politikvermittlung - eine Problem- und Forschungsskizze, in: Rundfunk und Fernsehen, 39 (1991).
SARCINELLI 2000: U. Sarcinelli: Politikvermittlung und Wahlen - Sonderfall oder Normalität des politischen Prozesses? Essayistische Anmerkungen und Anregungen für die Forschung, in: H. Bohrmann u.a.: Wahlen und Politikvermittlung durch Massenmedien, Opladen 2000.

Wahlbeeinflussung - eine wissenschaftliche Kontroverse

 Medien
 
 
Wahlbeeinflussung - eine wissenschaftliche Kontroverse

Die Frage nach der wahlbeeinflussenden Funktion der Medien, insbesondere des Fernsehens wurde in Deutschland zeitweise Gegenstand einer heftigen Kontroverse. Die Diskussion basiert vor allem auf zwei Fallstudien von Noelle-Neumann (1977) und Kepplinger (1980). (Vgl. NOELLE-NEUMANN 1977; KEPPLINGER 1980)

Noelle-Neumann vertritt in der sog. Theorie der "Schweigespirale" die Auffassung, dass der Einfluss der Medien im Wahlkampf extrem bedeutungsvoll sei; vor allem beim Fernsehen sei er deutlich festzustellen. Die umstrittene Theorie der Schweigespirale besagt, dass sich die Wähler durch in ihrer Umwelt wahrnehmbare oder auch nur vermutete Mehrheitsverhältnisse oder deren Änderung bei ihren politischen Entscheidungen stark beeinflussen lassen. Es bestehe ein Zusammenhang zwischen der öffentlichen Meinung und der Kommunikationsbereitschaft. Ob jemand sich öffentlich zu Wort melde oder nicht, hänge von der perzipierten öffentlichen Mehrheitsmeinung ab. "Wer sieht, dass seine Meinung zunimmt, ist gestärkt, redet öffentlich, läßt die Vorsicht fallen. Wer sieht, dass seine Meinung an Boden verliert, verfällt in Schweigen." (NOELLE-NEUMANN 1980, S. 8 .)

Heftige Kritik an Noelle-Neumann auch im Hinblick auf deren nationalsozialistische Vergangenheit hat jüngst der amerikanische Kommunikationsforscher Christopher Simpson in einem Beitrag "Elisabeth Noelle-Neumanns Schweigespirale und der historische Kontext der Kommunikationstheorie" für das "Journal of Communication" geübt: Die gesamte Theorie sei von einer offensichtlichen Verachtung vieler Aspekte der Demokratie geprägt, insbesondere von der, laut Noelle-Neumann, "geringen Intelligenz der Öffentlichkeit" in politischen Angelegenheiten und der Absicht, liberale Massenmedien zum Sündenbock für gesellschaftliche Missstände zu machen (vgl. DER SPIEGEL, 36/1997). Dadurch werde ein Spiralprozess des Schweigens in Gang gesetzt. Wenn die Medien nun eine andere als die "wirkliche" Wirklichkeit darstellen, also Präferenzen oder Tendenzen in der Berichterstattung aufwiesen, können sie den Wähler in eine bestimmte Richtung beeinflussen. Dies habe sich, so Noelle-Neumann bei der Bundestagswahl 1976 ganz deutlich gezeigt. Der Sieg der SPD/FDP Koalition sei auch durch eine einseitige Berichterstattung (mit den Journalisten im Verhältnis 3:1 auf der Seite der Koalition) zugunsten der SPD/ FDP zustandegekommen.

Dies bestreitet der Kommunikationswissenschaftler Klaus Merten. Er vertritt die Auffassung, dass diese Theorie im Vorfeld der Bundestagswahl gerade nicht bestätigt worden sei. So hätten die Medien eher zugunsten der CDU/CSU Opposition berichtet, was Noelle-Neumann in ihrer Untersuchung nicht berücksichtigt habe. (Vgl. MERTEN 1983, hier: S. 436.) Also ließe sich die von Noelle-Neumann aufgestellte These, die für einen Sieg der CDU/CSU Opposition notwendigen 350.000 Wahlstimmen seien direkt durch das vom Fernsehen erzeugte Meinungsklima verloren gegangen, nicht halten, da die Berichterstattung der Presse nicht untersucht worden sei. Die Theorie von E. Noelle-Neumann wurde auch in einer Untersuchung von D. Fuchs, J. Gerhards und F. Neidhardt einem systematischen Test unterworfen. Die Autoren kommen zu dem eindeutigen Ergebnis: "Die Theorie der Schweigespirale bewährt sich in dem von Neolle-Neumann selbst konstruierten Eisenbahntest nicht; alle relevanten Hypothesen konnten in den von uns durchgeführten Tests nicht bestätigt werden." (FUCHS/GERHARDS/NEIDHARDT 1992, S. 293.) (Beim Eisenbahntest wird im Interview eine öffentliche Situation simuliert, z.B. das Sitzen in einem Zugabteil, und dann nach der Kommunikationsbereitschaft gefragt: "Wenn Ihre Mitreisenden über den Paragraphen 218 diskutieren, würden Sie sich an dieser Diskussion beteiligen?") Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen weisen u.a. darauf hin, dass soziale Faktoren (herrschende öffentliche Meinung, Angst vor Isolation) in den von Noelle-Neumann verwendeten Eisenbahntests nicht für die Kommunikationsbereitschaft bestimmend sind, sondern eher individuelle Faktoren eine Rolle spielen (man kennt seinen Mitreisenden nicht und sieht ihn nie wieder, oder man steigt bei der nächsten Station aus und hat keine Zeit, usw.). Damit lässt sich also die These, dass ein Zusammenhang zwischen öffentlicher Meinung, die nach Noelle-Neumann vor allem durch die Medien "gemacht" wird, und der Kommunikationsbereitschaft derWähler bestehe, nicht bestätigen.

 

 

 

 
 

www.projekt-wahlen2002.de und www.forschen-mit-grafstat.de
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Bundeszentrale für politische Bildung www.bpb.de
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Projektkoordination: Tilman Ernst und des Teams von
www.pbnetz.de an der Universität Münster
unter der Leitung von
Dr. Wolfgang Sander, Andrea Meschede und Ansgar Heskamp.

Bundeszentrale für politische Bildung

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