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Vorwort
Es ist zweifelsohne das große Verdienst mutiger Bürgerinnen und Bürger in der
ehemaligen DDR, die in Montagsdemonstrationen unter dem Motto: "Wir sind das
Volk" in Leipzig und anderen Orten der ehemaligen DDR gegen das Unrechtsregime
protestiert haben, dass die Mauer geöffnet wurde und im Frühjahr des Jahres
1990 die ersten freien Wahlen zur Volkskammer durchgeführt worden sind. Wer
den Mut und das Engagement der Menschen in der damaligen Situation verstehen
will, sollte sich daher mit der Aktion auseinandersetzen, wie Bürgerrechtler
Wahlfälschungen aufgedeckt und politisch genutzt haben.
Trotz aller beachtlichen Erfolge, die im nun 12 Jahre dauernden Prozess der
deutschen Einheitsbewegung erreicht worden sind, sind hinsichtlich der Einstellung
zur Politik deutliche Unterschiede in Ost- und Westdeutschland zu erkennen.
Daher empfiehlt es sich, zur Vorbereitung auf die Bundestagswahl die Parteienlandschaft
in Ostdeutschland und das Wählerverhalten (hier der Jungwähler) gesondert zu
beachten. Wahlwirksam ist - neben den milieu- und persönlichkeitsspezifischen
Faktoren - besonders die Einschätzung der wirtschaftlichen Lage. Daher wird
anhand der Thesen von Wolfgang Thierse zur Situation in Ostdeutschland gesondert
auf die Wirtschaftssituation in den neuen Bundesländern eingegangen, um hier
die Besonderheit der neuen Bundesländer herauszustellen.
Einleitung
Anlässlich des zehnten Jahrestags der deutschen Einheit wurde von verschiedenen
Seiten politische Situationsanalysen durchgeführt (M09.01)
Führende Politiker aus beiden Landesteilen führen ebenfalls besonders zu genannten
Anlässen Bilanzierungen der allgemeinen Stimmung durch, wobei die Meinungen
über das Fortschreiten der Einheit durchaus geteilt sind. Sie zeigen , dass
die deutsche Einheit (noch immer) ein schwieriger Prozess ist (M09.02).
Deutlich werden die Diskrepanzen zwischen den ost- und westdeutschen Beurteilungen,
wenn auch ein gemeinsamer Konsens erkennbar ist (M09.03)
Gegenwärtige Situationsanalysen hinsichtlich der bevorstehenden Wahlen zeigen
den schwierigen Umgang der ineinander verzahnten Vergangenheit und Gegenwart
in der "Alltags-"Politik (M09.04)
Die Wahlen in Sachsen- Anhalt, die im April 2002 statt finden (statt fanden)
können hierbei als exemplarisches Beispiel und Tendenzbarometer der bevorstehenden
Bundestagswahl angesehen werden (M09.05).
Bürgerrechtler decken Wahlfälschung auf
Zu Recht weisen viele der (ost-)deutschen Politiker auf die großen Leistungen
der Bürgerrechtler der DDR im Jahre 1989 hin, als sie den Mut aufbrachten, von
ihrem (eigentlich verfassungsmäßig zugesicherten) Recht Gebrauch machten, die
Auszählung der Stimmen bei der Kommunalwahl zu kontrollieren. (M09.06)
Dass die Ergebnisse gefälscht wurden, galt als offenes Geheimnis, doch aus Angst
vor Sanktionen hatten bis dahin viele nicht den Mut gefunden, diese Fälschungen
öffentlich anzuprangern. (M09.07).
Doch vor allem unter dem Dach der Kirche kamen viele Bürger zusammen, die an
der Auszählung der Stimmen teilnahmen und die Wahllokale als Forum zu öffentlichen
Diskussionen nutzten. Nicht allein in den großen Städten, auch in vielen kleinen
Ortschaften kam es zu solch ersten öffentlichen Kundgebungen, die weder durch
Sanktionen oder rechtlichen Konsequenzen unterbunden werden konnten (M09.08).
Diese Kommunalwahl wurde zum Politikum: sie führte zu einer Politisierung der
Bevölkerung und Kanalisierung der allgemeinen Unzufriedenheit mit dem Regime.
Die Konsequenzen für die damals Verantwortlichen sind angesichts der Schwere
des Vergehens verhältnismäßig gering ausgefallen; die Diskussionen um ihre Schuldfähigkeit
halten an (M09.09),
wenngleich in der Öffentlichkeit die Gerichtsverhandlungen, die erst in den
Jahren der Wiedervereinigung (ca. ab 1995) gegen Modrow, Krenz, Berghofer etc.
relativ wenig Beachtung fanden.
Die Volkskammerwahl am 18.03.1990
Die Volkskammerwahl 1990 der DDR war die erste und letzte selbstständige freie,
geheime Wahl, die letztlich dazu diente, den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich
des Grundgesetzes der BRD zu beschließen; die Aufgaben der Volkskammer waren
determiniert durch die Ergebnisse der Wahlen. Die damalige Präsidentin der Volkskammer,
Dr. Sabine Bergmann- Pohl beschrieb die Arbeit der Volkskammer als eine Betreibung
"der Selbstauflösung" "in Rekordzeit". Letztendlich war die Volkskammerwahl
eine reine Themenwahl, gesteuert von der Motivation, die Wiedervereinigung möglichst
schnell voranzutreiben. Die Haltung der jeweiligen Parteien determinierte dadurch
ihren Wahlerfolg bzw. -misserfolg.
Die Ergebnisse der Volkskammerwahl lagen wie folgt (M09.10):
Die Länder, in denen die meisten Demonstrationen stattgefunden hatten - wie
Thüringen und Sachsen- Anhalt - weisen dagegen einen weit höheren Prozentsatz
der Stimmen für die "Allianz" und einen weit geringeren für die PDS auf. Da
besonders in Ostberlin eine starke Verdichtung von Bürgerrechtlern stattgefunden
hatte, lagen hier die Stimmenanteile für die SPD und PDS sehr hoch, also gegen
die Wiedervereinigung, für eine souveräne, neu strukturierte DDR. Entsprechend
lag in den Bundesländern (Ballungszentren in Städten wie Dresden und Leipzig)
der Stimmenanteil für die CDU so hoch, weil hier viele Bürger - Ausreisewillige,
SED- Protestanten, DDR-Müde - für die Wiedervereinigung und gegen den Erhalt
der DDR stimmten. (M09.11)
Im Prozess der Revolution war diese Wahl letztlich das Ergebnis der politischen
Reformen und Proteste der Bürgerrechtler und des Runden Tisches. Sie resultierte
aus dem Versuch, die DDR von innen heraus zu reformieren und neu zu gestalten.
Diese ersten freien, geheimen und gleichen Wahlen hatten sich die DDR-Bürger
selbst erkämpft. Insofern steht der Volkskammerwahl ein hoher Stellenwert bei
der Beurteilung der Wende zu, ebenso ist sie ein wichtiger Bestandteil des ostdeutschen
politischen Bewusstseins; so findet die Wahl auch eine entsprechend hohe Würdigung
in der politischen Welt, besonders hinsichtlich von Fragen wie "Politikverdrossenheit"
und "Probleme der Einheit", auf die sie positive Antworten geben kann (M09.12).
Dennoch gab es kritische Stimmen, die die politische Entwicklung vor und nach
der Volkskammerwahl nicht durchweg positiv beurteilten; so ist z.T. bemängelt
worden, dass die eigentlichen Beweggründe der Bürgerrechtler nur noch eine sekundäre
Rolle spielten, nachdem die Volksmasse das Reformklima für Demonstrationen zur
Forcierung der Einheit nutzte. (M09.13)
Die Parteienlandschaft Ostdeutschlands
Die Parteienlandschaft in den neuen Bundesländern hat mittlerweile ein recht
klares Profil angenommen (M09.14,
M09.15): Neben
den beiden großen Parteien SPD und CDU hat sich die PDS zur dritten Kraft im
Osten etabliert und bildet somit mit den anderen beiden ein "Drei- Parteien-
System", denn die Ergebnisse für FDP und auch für Bündnis 90/Die Grünen sind
insgesamt sehr gering. Hierbei bilden CDU und PDS die "entgegengesetzten Pole
des politischen Wettbewerbs, während sich die Sozialdemokraten in einer bislang
ungewohnten Mittellage wieder fanden." (Eith, S.1); die im Osten stärker orientierte
Themenwahl manifestiert sich u.a. in den kontinuierlich absinkenden Ergebnissen
für die CDU: War sie bei der Wahl 1990 noch Ausdruck und Garant für eine schnelle
Wiedervereinigung, so zeigen die sinkenden Zahlen die enttäuschten Hoffnungen
der Wähler in die Fähigkeit der damaligen Allianz, für eine schnelle Angleichung
der Lebensverhältnisse an den Westen zu sorgen (M09.16).
Die PDS - anfänglich von vielen als Nachfolgepartei der SED abgelehnt - hat
im Zuge der aufkeimenden "Ostalgie" an Wählern gewonnen, die über die PDS eine
eigene politische Identität finden.
Es muss die Frage offen bleiben, inwieweit eine eigene ostdeutsche politische
Mentalität in Abgrenzung zu Westdeutschland entsteht, oder ob vielmehr eine
Angleichung der politischen Mentalität statt findet . (M09.17)
Umfragen (wie z.B. von Wilhelm Bürklin, Christian Jung) zeigen aber allen Kritiken
zum Trotz, dass die Identifikation als Deutsche/Deutscher sowohl im Osten als
auch im Westen steigt (von 48% 1993 zu 71% im September 2000, Bürklin/Jung,
S.684). Im gleichen Maße stieg auch die jeweilige Zufriedenheit mit der Demokratie,
wobei im Osten (noch) ebenso viele zufrieden wie unzufrieden mit der Demokratie
in Deutschland sind (ebd. S.702); der Trend zeigt hierbei eine Verbesserung
der Zahlen zu Gunsten der Zufriedenen, doch wie die weitere Entwicklung sein
wird, muss abgewartet werden, besonders hinsichtlich der ökonomischen Prognosen.
Wählerverhalten von Jugendlichen
Das Verhalten jugendlicher Wähler in Ostdeutschland divergiert in einigen Aspekten
vom Verhalten westdeutscher Jugendlicher. Ähnlich sind beide sich in ihrer Abneigung
der etablierten Parteien, wenngleich schon hier der Anteil derjenigen in den
neuen Bundesländern, der CDU oder SPD wählt, wesentlich geringer ist als der
im Westen. Daneben bestehen zwei weitreichende Unterschiede: Nur 24,% der Jungwähler
im Westen, aber 21,7% im Osten haben bei der letzten Bundestagswahl PDS gewählt
(Vgl. Hans- Peter Kuhn, S.82). "Großes Misstrauen" gegenüber den etablierten
Parteien ist hierbei einer der Hauptgründe für die Wahl der PDS. (M09.18)
Ebenso liegt der Anteil derer, die rechtsextreme Parteien wählen im Osten mehr
als doppelt so hoch. Die Grünen werden von den westdeutschen Jugendlichen doppelt
so oft gewählt wie im Osten, wobei hier davon ausgegangen werden kann, dass
diese dann eher PDS wählen. (M09.19,
M09.20) Interessant
ist hierbei, wie sich das jeweilige Wählerklientel zusammensetzt. (M09.21)
Entsprechende Analysen erstellen hierzu bestimmte Raster, in die sich die jeweiligen
Wähler einfinden; hierbei sollte diskutiert wird, ob diese Charakterisierungen
auch auf westdeutsche Jugendliche bzw. auf ostdeutsche Jugendlichen aus anderen
Regionen/Bundesländern zutreffen. Situationsanalysen aus Einzelstädten (M09.22)
zeigen neben der politischen Ebene noch andere schwerwiegende Probleme, die
im Osten die Gesamtsituation beeinflussen.
Wirtschaftslage Ostdeutschlands
Die These Henry Kissingers über die Bundesrepublik der 1950er Jahre, dass sie
"eine Ökonomie auf der Suche nach ihrem Daseinszweck" sei, kann in gewisser
Weise auch heute noch auf Deutschland angewandt werden; hinsichtlich der Entwicklung
der deutschen Einheit fragte z.B. Susanne Gaschke in "Aus Politik und Zeitgeschichte"
(B1-2/2000), ob die Deutschen nur "eine Wirtschaftsgesellschaft" seien. Inwieweit
die Wirtschaftslage zu einem Politikum wird, zeigen z.B. die "Fünf Thesen zur
Vorbereitung eines Aktionsprogramms für Ostdeutschland" (M09.23);
hierin zeigt u.a., wie groß der Einfluss der wirtschaftlichen Lage - sowohl
der Gesamtlage als auch der für jeden Einzelnen - auf die politische Mentalität
ist. Mit Recht verweist Thierse u.a. darauf, dass diese Entwicklung absehbar
und keine große Überraschung für die damalige Regierung war, ebenso wie kritischen
Stimmen aus Prese und Politik diese Tendenz zeigen. (M09.24,
M09.25)
"Offene Fragen zum Einigungsprozess" stellt Karl- Heinz Roth (M09.26),
wobei es ihm um die Fragestellung geht, inwieweit die Bundesregierung abschätzen
konnte, wie die Vereinigung vonstatten geht.
An Meldungen wie der, dass immer mehr türkische und andere ausländische Unternehmer
die neuen Bundesländer verlassen (M09.27),
wird deutlich, wie sich eine kritische Wirtschaftslage auf politische Einstellungen
auswirken kann. Entsprechend der "Sündenbock- Theorie" scheint dies ein Anzeichen
dafür zu sein, dass sich der Unmut über die wirtschaftlichen Missstände bei
einigen Ostdeutschen in aggressiven Handlungen gegenüber Ausländern entlädt.
Die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland ist viermal so hoch wie die in Westdeutschland
(gemessen an der Bevölkerungszahl insgesamt).
Schon die ersten Jahre nach der Wende zeigten dieses Phänomen: Die Hoffnung
auf eine schnelle materielle Angleichung zwischen Ost und West scheiterte; parallel
zur sich abzeichnenden Langfristigkeit der Entwicklung sanken die Wählerstimmen
der CDU. Nicht umsonst wird dem Thema "Arbeitslosigkeit" passend zur Bundestagswahl
(wieder) verstärkt Aufmerksamkeit gewidmet . Die Thematik ist deswegen so brisant,
weil sie im Osten mit einem hohen Anteil von Abwanderern einhergeht (M09.28,
M09.29)
und somit die Wirtschaft in Ostdeutschland besonders auch durch das Fehlen junger
Arbeitnehmer geschwächt wird; diese Tendenz wird sich in den nächsten Jahren
noch fortsetzen und sogar verschärfen, wie an der Zahl der rückläufigen Schülerzahlen
deutlich wird (M09.30).
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